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STANDPUNKT/448: Wer fürchtet sich vor der bösen Bombe? (Uri Avnery)


Wer fürchtet sich vor der bösen Bombe?

von Uri Avnery, 4.4.2015


ICH MUSS mit einem schockierenden Bekenntnis beginnen: Ich habe keine Angst vor der iranischen Atombombe.

Ich weiß, das macht mich zu einem abartigen Menschen, fast zu einem Monster.

Aber was kann ich dafür? Ich bin nicht in der Lage, Furcht zu empfinden wie ein echter Israeli. Selbst wenn ich es noch so sehr versuchen würde, würde mich die iranische Atombombe doch nicht hysterisch machen.


MEIN VATER lehrte mich einst, Erpressungen zu widerstehen: Stell dir vor, dass die schreckliche Bedrohung des Erpressers schon geschehen ist. Dann kannst du ihm sagen: Zur Hölle mit dir!

Ich habe viele Male versucht, diesem Rat zu folgen und fand ihn gut. Also wende ich ihn jetzt gegen die iranische Bombe an: ich bilde mir ein, dass das Schlimmste schon geschehen ist: die schrecklichen Ayatollahs haben die Bombe, die das kleine Israel in einer Minute auslöschen kann.

Na und?

Ausländischen Experten zufolge hat Israel zwischen 80 und 400 Atombomben. Wenn der Iran seine Bomben schickt und den größten Teil Israels (auch mich) vernichtet, werden Israels Atombomben den Iran zerstören. Was auch immer ich über Benjamin Netanjahu denke, ich verlasse mich auf ihn und auf unsere Sicherheitschefs, dass sie unser "Zweitschlag"-Vermögen intakt halten. Erst letzte Woche wurden wir informiert, dass Deutschland zu diesem Zweck unserer Marine noch ein hochmodernes Unterseeboot geliefert hat.

Israels Idioten - und da gibt es einige - antworten: "Ja, aber die iranischen Führer sind keine normalen Leute. Sie sind verrückt. Religiöse Fanatiker. Sie riskieren die totale Zerstörung des Iran, nur, um den zionistischen Staat zu zerstören. So wie man beim Schachspiel die Königinnen austauscht".

Solche Überzeugungen sind die Folge von jahrzehntelanger Dämonisierung. Die Iraner - oder mindestens ihre Führer werden als unmenschliche Schurken angesehen.

Die Wirklichkeit zeigt uns, dass die Führer des Iran sehr nüchtern denkende Politiker sind. Vorsichtige Kaufleute im Stil des iranischen Basar. Sie nehmen keine unnötigen Risiken auf sich. Der revolutionäre Eifer der frühen Khomeini-Tage ist seit langer Zeit vorbei, und nicht einmal Khomeini hätte im Traume daran gedacht, etwas zu tun, das einem nationalen Selbstmord dermaßen nahe kommt.


IN DER Bibel wird erzählt, daß der große persische König Cyrus den gefangenen Juden in Babylon erlaubte, nach Jerusalem zurück zu kehren und ihren Tempel wieder aufzubauen. In jener Zeit war Persien schon eine alte Zivilisation - kulturell und politisch.

Nach der "Rückkehr von Babylon" lebte das jüdische Reich um Jerusalem 200 Jahre unter persischer Herrschaft. In der Schule wurde uns beigebracht, dass diese Zeit für die Juden eine glückliche Zeit war.

Seitdem ist die persische Kultur und Geschichte weitere 2500 Jahre älter geworden. Die persische Zivilisation ist eine der ältesten in der Welt. Sie hat eine großartige Religion (Zarathustra) geschaffen und viele andere beeinflusst, auch das Judentum. Die Iraner sind sehr stolz auf diese Kultur.

Die Vorstellung, dass die gegenwärtigen Führer des Iran auch nur daran denken, allein aus purem Hass auf Israel Persiens Existenz aufs Spiel zu setzen, ist lächerlich und größenwahnsinnig.

Außerdem sind während der ganzen Geschichte die Beziehungen zwischen Juden und Persern fast immer ausgezeichnet gewesen. Als Israel gegründet wurde, wurde der Iran als natürlicher Verbündeter betrachtet, als ein Teil von David Ben Gurions "Strategie der Peripherie" - eine Verbindung aller Länder, die die arabische Welt umgaben.

Der Schah, der von den Amerikanern und dem britischen Geheimdienst wieder eingesetzt wurde, war ein sehr enger Verbündeter. Teheran war voller israelischer Geschäftsleute und Militärberater. Es diente den israelischen Agenten, die mit den rebellierenden, gegen das Regime Saddam Husseins kämpfenden Kurden im Nordirak zusammenarbeiteten, als Basis.

Nach der islamischen Revolution unterstützte Israel den Iran noch einmal in seinem grausamen acht Jahre andauernden Krieg. Die berüchtigte Iran-Gate-Affäre, in der mein Freund Amiram Nir und Oliver North so eine bedeutende Rolle spielten, wäre ohne die alten iranisch-israelischen Beziehungen nicht möglich gewesen.

Selbst jetzt führen der Iran und Israel freundliche Schiedsverfahren über ein altes Unternehmen durch: die Eilat-Ashkelon-Öl-Pipeline, die gemeinsam von beiden Ländern gebaut wurde.

Schlimmstenfalls werden das nukleare Israel und der nukleare Iran in einem Gleichgewicht des Schreckens leben.

In der Tat, sehr unerfreulich. Aber keine existentielle Bedrohung.


DOCH FÜR jene, die im Schrecken vor der Möglichkeit leben, dass der Iran über Kernwaffen verfügen könnte, habe ich einen Rat: nutzt die Zeit, die wir noch haben!

Nach den amerikanisch-iranischen Verhandlungen, die gerade im Gang sind, haben wir wenigstens noch 10 Jahre, bis der Iran in die Endphase treten könnte, um die Atombombe zu produzieren.

Bitte, nutzt die Zeit, um Frieden zu schließen.

Der iranische Hass gegen das "zionistische Regime" - den Staat Israel - hängt mit dem Schicksal des palästinensischen Volkes zusammen. Das Gefühl der Solidarität für die hilflosen Palästinenser ist in allen islamischen Völkern tief verwurzelt. Es ist ein Teil ihrer Volkskultur. Sie ist ganz real, auch wenn die politischen Regime diese missbrauchen, manipulieren oder auch ignorieren.

Da es keinen Grund für einen spezifischen iranischen Hass gegen Israel gibt, gründet sich dieser nur auf dem israelisch-palästinensischen Konflikt. Kein Konflikt - keine Feindschaft.

Die Logik sagt uns, wenn wir mehrere Jahre haben, bevor wir im Schatten einer iranischen Bombe leben müssen, lasst uns die übrige Zeit nutzen, um den Konflikt zu beseitigen. Wenn die Palästinenser selbst einmal erklären, dass sie den historischen Konflikt mit Israel als erledigt ansehen, wird keine iranische Führung in der Lage sein, ihr Volk gegen uns aufzuhetzen.


SEIT MEHREREN Wochen rühmt sich Netanjahu tatsächlich einer riesigen historischen Errungenschaft.

Es ist das erste Mal, dass Israel praktisch Teil einer arabischen Allianz ist.

In der ganzen Region wütet der Konflikt zwischen muslimischen Sunniten und muslimischen Schiiten. Das vom Iran angeführte schiitische Lager schließt die Schiiten im Irak, die Hisbollah im Libanon und die Huthis im Jemen ein (Netanjahu zählt aus Ignoranz oder Propagandagründen die sunnitische Hamas zu diesem Lager.)

Das entgegengesetzte sunnitische Lager schließt Saudi-Arabien, Ägypten und die Golfstaaten ein. Netanjahu deutet darauf hin, dass Israel von ihnen jetzt im Geheimen als Mitglied akzeptiert worden ist.

Es ist ein sehr verworrenes Bild. Der Iran kämpft gegen den "Islamischen Staat" in Syrien und im Irak, der ein Todfeind Israels ist. Der Iran unterstützt das Assad-Regime in Damaskus, das auch von der Hisbollah unterstützt wird, die gegen den "Islamischen Staat" kämpft, während die Saudis andere extreme sunnitische Syrer unterstützen, die gegen Assad und den "Islamischen Staat" kämpfen. Die Türkei unterstützt den Iran und die Saudis, während die Saudis gegen Assad kämpfen und so weiter.

Ich bin von arabischen militärischen Diktatoren und korrupten Monarchien nicht entzückt. Ehrlich gesagt, verachte ich sie; aber wenn es Israel gelingt, ein offizieller Teil der arabischen Koalition zu werden, wäre es ein historischer Durchbruch, der erste in 130 Jahren des zionistisch-arabischen Konfliktes.

Doch alle israelischen Beziehungen zu arabischen Ländern werden geheim gehalten, außer jene mit Ägypten und Jordanien, und selbst zu diesen beiden sind die Kontakte kalt und distanziert; es sind eher Beziehungen zwischen den Regierungen als zwischen den Völkern.

Befassen wir uns mit den Fakten: kein arabischer Staat will mit Israel eine offene und enge Kooperation eingehen, bevor nicht der israelisch-palästinensische Konflikt beendet ist. Selbst Könige und Diktatoren können sich das nicht leisten. Die Solidarität ihrer Völker mit den unterdrückten Palästinensern ist zu tief.

Wirklicher Friede mit den arabischen Ländern ist nicht ohne Frieden mit dem palästinensischen Volk möglich, genauso wie Frieden mit dem palästinensischen Volk nicht ohne Frieden mit den arabischen Ländern möglich ist.

Wenn es jetzt eine Chance gibt, einen offiziellen Frieden mit Saudi-Arabien und den Golfstaaten zu schließen und den kalten Frieden mit Ägypten in einen wirklichen zu verwandeln, dann sollte Netanjahu sich darauf stürzen. Die Bedingungen für ein Abkommen liegen bereits (seit 2002) auf dem Tisch: der Saudi-Friedensplan, auch der Arabische Friedensplan genannt, der vor vielen Jahren von der Arabischen Liga angenommen wurde. Er gründet sich auf die Zwei-Staatenlösung des israelisch-arabischen Konfliktes.

Netanjahu könnte die gesamte Welt in Erstaunen versetzen, wenn er "à la de Gaulle" handelte: mit der sunnitischen arabischen Welt Frieden schließen (wie de Gaulle mit Algerien), was die Schiiten zwingen würde, es den andern gleich zu tun und ebenfalls mit Israel Frieden zu schließen.

Glaube ich das? Nein. Aber wenn Gott es will, kann sogar ein Besenstiel schießen.

Und am Tag des jüdischen Passah-Festes, an dem Juden an den Auszug aus Ägypten denken, erinnern wir uns selbst daran, dass Wunder tatsächlich geschehen.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 04.04.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. April 2015

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