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STANDPUNKT/493: "Rede keinen Zionismus!" (Uri Avnery)


"Rede keinen Zionismus!"

von Uri Avnery, 19.9.2015


IN DEN frühen 1950er Jahren veröffentlichte ich eine Geschichte meines Freundes Miko Almaz. In jener Zeit befand sich der Staat Israel in ernster Notlage, seine Führer wussten nicht, wie man die Lebensmittel für den nächsten Monat bezahlen sollte.

Irgendjemand erinnerte daran, dass es in einem fernen Teil Afrikas eine kleine jüdische Gemeinde gab, der all die Diamantminen gehörte und die sehr reich war. Die Regierung wählte ihren effektivsten Geldbeschaffer und sandte ihn dorthin.

Dem Mann war klar, dass das Schicksal des Staates auf seinen Schultern ruhte. Er versammelte die ortsansässigen Juden und hielt ihnen Die Rede: Er sprach über die Pioniere, die alles hinter sich gelassen hatten, um nach Palästina zu gehen und die Wüste zum Blühen zu bringen, über ihre Knochenarbeit, über ihre erhabenen sozialistischen Ideale.

Als er geendet hatte, war im Raum kein Auge mehr trocken geblieben. Als der Mann zu seinem Hotel zurückkehrte, wusste er, dass er die Rede seines Lebens gehalten hatte.

Und tatsächlich klopfte am nächsten Morgen eine Delegation der ortsansässigen Juden an seine Tür. "Deine Worte ließen uns fühlen, dass wir ein unwürdiges Leben führen", sagten sie. "Ein Leben in Luxus und Ausbeutung. Also entschlossen wir uns einstimmig, die Minen unseren Arbeitern zu schenken, hier alles zurückzulassen, mit dir nach Israel zu gehen und Pioniere zu werden".


DAVID BEN GURION war ein wahrer Zionist. Er war davon überzeugt, dass ein Zionist nur ein Jude sein konnte, der nach Israel geht, um dort zu leben. Selbst ein Präsident der zionistischen Weltorganisation war für ihn kein Zionist, wenn er in New York lebte. Er war in seinen Überzeugungen unerbittlich.

Als er das erste Mal als Ministerpräsident Israels in die USA reiste, wurde er von seinen Beratern gefragt, welches wohl seine Botschaft sein würde. "Ich werde ihnen sagen, sie sollen alles zurücklassen und nach Israel kommen!" antwortete er.

Seine Berater waren zu tiefst erschrocken. "Aber Israel braucht ihr Geld!" riefen sie aus. "Ohne das können wir nicht auskommen!"

Eine Schlacht des Gewissens folgte. Endlich gab Ben Gurion nach. Er ging nach Amerika, sagte den Juden, dass sie gute Zionisten sein könnten, wenn sie gegenüber Israel großzügig seien und ihm ihre politische Unterstützung gäben. Nach dieser Episode war Ben Gurion nie mehr derselbe. Seine Grundüberzeugung war zerbrochen worden.

Dasselbe geschah mit dem Zionismus. Er wurde ein zynischer Slogan, der von jedem benutzt wurde, der seine Pläne durchsetzen wollte. Hauptsächlich wurde es ein Instrument der israelischen Führung, um das Weltjudentum zu beherrschen und für ihre nationalen, parteipolitischen oder politischen Ziele zu aktivieren.

Um zur Geschichte zurückzukommen: Es könnte keine größere Katastrophe geben, als wenn das Weltjudentum seine Sachen packen und nach Israel kommen würde. Die ungeheure Macht der organisierten US-Juden, die ihre Order aus Jerusalem erhalten, ist wesentlich für die Existenz des Staates.


ALLES DAS fiel mir ein, als ich am Wochenende einen nachdenklich stimmenden Essay des beliebten linken israelischen Schriftstellers A. B. Yehoshua las. Er ist fast der einzige israelische Spitzen-Schriftsteller, der kein Ashkenazi ist. Sein Vater gehörte zu einer alten sephardischen Familie in Jerusalem, seine Mutter ist Marokkanerin. Das macht ihn im heutigen Slang zu einem Misrahi ("Östlicher").

In seinem Essay macht Yehoshua einen Unterschied zwischen Nationalismus und Zionismus. Ihm zufolge sind diese beiden nicht zu einem Begriff verschmolzen, wie man die Leute in Israel heute glauben lässt, sondern es sind zwei verschiedene Dinge miteinander "zusammengeschweißt" worden, die in ständigem Konflikt miteinander stehen. "Zionismus" spielt eine zweifelhafte Rolle bei dieser Dualität.

Im heutigen Israel ist dies eine gewagte Theorie, die an Ketzerei grenzt. Im alten Rom wurden Menschen für weniger verbrannt. Als ob man sagen würde, Gott und Jehova seien zwei verschiedene Gottheiten. Aber meiner Meinung nach, ist dies eine Konstruktion von überholten Ausdrücken. Jetzt können wir wagen, viel weiter zu denken. Ist Israels Nationalismus wirklich mit dem nicht-israelischen Zionismus verschweißt?


ICH MUSS den Leser daran erinnern, wie es begonnen hat: die große Idee des Theodor Herzl hatte nichts mit Zion im buchstäblichen Sinn zu tun (einem Hügel in Jerusalem).

Ursprünglich wollte Herzl einen Staat der Juden (keinen "jüdischen Staat") in Patagonien, im südlichen Argentinien. Die ursprüngliche Bevölkerung war gerade mehr oder weniger ausgelöscht worden und Herzl dachte, dass dieses leere Land für eine jüdische Masseneinwanderung geeignet sei, wenn der Rest der Eingeborenen vertrieben worden ist (aber erst, "nachdem sie alle wilden Tiere getötet hatten".)

Als Herzl, ein völlig assimilierter Wiener Jude, mit wirklichen Juden zusammentraf, besonders mit Russen, wurde ihm zögerlich klar, dass nichts außer Palästina in Frage kommen würde. So wurde seine Idee zum Zionismus. Er liebte Palästina nicht. Er besuchte es nur ein einziges Mal, als er vom deutschen Kaiser Wilhelm II., der darauf bestand, ihn in Jerusalem zu treffen, praktisch dorthin befohlen wurde. (Der Kaiser bemerkte später, dass der Zionismus eine großartige Idee sei, "er aber nicht mit Juden umzusetzen wäre").

Herzls Idee vom Zionismus war ganz einfach: alle Juden der Welt werden in den neuen Staat kommen und sie werden von da an die einzigen sein, die Juden genannt werden. Diejenigen, die vorzogen, dort zu bleiben, wo sie sind, würden danach aufhören, Juden zu sein und schließlich Österreicher, Deutsche, Amerikaner etc. werden. Ende der Geschichte.


NUN, SO geschah es nicht. Der Zionismus war ein viel zu zweckdienliches Instrument für die Politiker, um auf den Müllhaufen geworfen zu werden - in Israel wie außerhalb.

Jeder benutzt ihn. Die amerikanischen Politiker, die jüdisches Geld brauchen. Die israelischen Politiker, die sonst nichts zu sagen haben, israelische Regierungsangestellte aller Couleur, die offen die israelischen arabischen Bürger diskriminieren. Koalitionsmitglieder der Knesset gegen die Opposition. Oppositionsmitglieder der Knesset gegen die Regierung.

Lasst Benjamin Netanjahu Yitzhak Herzog, den Führer der Opposition, einen "Anti-Zionisten" nennen, und er wird härter dagegen protestieren, als würde er ihn nur Verräter genannt haben. Anti-Zionismus ist schrecklich. Unverzeihlich.

Doch wenn einer von diesen gefragt worden wäre, was Zionismus eigentlich sei, wäre die Antwort: Zionismus? - warum, jeder weiß doch, was Zionismus ist. Was für eine Frage?! Zionismus ist äh, äh, äh.

Auf der anderen Seite des Zauns ist die Situation sehr ähnlich. Jeder beschuldigt jeden, Zionist zu sein. Du bist für die Zwei-Staaten-Lösung? Ein bösartiger zionistischer Komplott. Du willst nicht, dass Israel verschwindet? Du bist also ein Teil der weltweiten zionistischen Verschwörung.

Jemanden einen Zionisten zu nennen, heißt so viel, wie die Diskussion zu beenden. Das wäre das Gleiche, als würde man ihn einen Nazi nennen, nur noch schlimmer. Viel schlimmer.

Und dann sind da noch die Übriggebliebenen des klassischen Antisemitismus'. Was bleibt von der einst so stolzen Bewegung, mit der alles begann? Seine Vertreter waren die Leute, die Herzl auf den Straßen von Wien und Paris traf, als er zu der logischen Schlussfolgerung kam, dass Juden im 19. Jahrhundert nicht mehr in Europa leben können. Diese große antisemitische Bewegung ist vergangen. Nur pathetische Reste bleiben. Gerade so viel, um Zionisten mit dem nötigen Brennstoff zu versorgen.


ZIONISMUS ALS solcher, der wirklich anständige, gütige, starb in dem Moment, als in Tel Aviv der Staat Israel gegründet wurde, einen ehrenhaften Tod.

(In jenen Tagen war "Zionismus" unter jungen Leuten ein Witz. "Rede keinen Zionismus" bedeutet "Rede keinen angeberischen Quatsch!")

Was bleibt, ist die Ko-Existenz zweier getrennter Gebilde, die nicht wirklich miteinander verschmolzen sind und die irgendwann in der Zukunft auseinanderbrechen müssen.

Keines von beiden hat viel mit Zionismus zu tun.

Da ist die israelische Entität - eine normale Nation. (Wenigstens so normal wie jede andere Nation.) Sie hat ein Vaterland, eine kollektive Mentalität, eine geographische und politische Realität, wirtschaftliche Interessen, eine Mehrheitssprache, interne Probleme im Überfluss. 75% seiner Bevölkerung, also eine Majorität, sind Juden, 20% Araber. (Der Rest sind Juden, die von den Rabbinern - die solche Dinge in Israel entscheiden - nicht als Juden anerkannt werden.)

Und dann gibt es noch das Weltjudentum. Seine Heimat ist die ganze Welt. Es gehört zu vielen verschiedenen Nationen, hat einige vage (von Antisemiten geschaffene) gemeinsame Interessen, eine Religion, viele Traditionen. Ein großer Teil der Weltjuden hat eine vage Verbindung zu Israel, die leicht noch vager werden kann.

Eine der Hauptfunktionen des "Zionismus" ist es, diese Leute den Interessen von Israels gegenwärtiger (und wechselnder) Führung vollkommen dienstbar zu machen. Ohne diese Verbindung müsste Israel von seinen eigenen politischen, wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen leben, das wäre eine erheblich reduzierte Existenz.

Die Bande, die diese beiden Gebilde zusammenhalten (oder nach Yehoshua "zusammenschweißen"), sind die Religion und die Tradition. In diesen Tagen, wenn Juden in der ganzen Welt und in Israel dieselben "Hohen Feiertage" feiern, ist dies offensichtlich. Die Bindungen sind vorhanden, zwar sind sie in Jahrhunderten geschaffen worden, und doch mag man sich wundern, wie stark sie heute wirklich sind. Wie viel stärker sind sie als die zwischen Irisch-Amerikanern und Irland oder Singapur-Chinesen und China - wenn diese überhaupt vorhanden sind? Würden sie einer wirklichen Prüfung standhalten?

Ironisch genug klingt es, dass der extremste Teil der religiösen Juden - in Jerusalem und in Brooklyn - den Zionismus als Sünde gegen Gott von sich weist.


DER WIRKLICHE Schaden, den die zionistische Umklammerung Israels verursacht, ist Israels Situation in der Welt.

Die offizielle Bestimmung Israels als "ein jüdischer und demokratischer Staat" ist ein Oxymoron. Ein jüdischer Staat kann wirklich nicht demokratisch sein, da die Definition den Nicht-Juden - besonders den Arabern - die Gleichheit verweigert. Aus demselben Grund kann ein demokratischer Staat nicht jüdisch sein. Ein demokratischer Staat muss allen seinen Bürgern gehören.

Aber das Problem liegt tiefer. Die Anbindung Israels an das Weltjudentum ist unendlich viel enger als seine Anbindung an seine Nachbarn. Man kann nicht gleichzeitig seine Blicke auf New York heften und stark an dem interessiert sein, was die Menschen in Bagdad, Damaskus und Teheran tun.

Bis Damaskus und Teheran so nah kommen, dass man sie nicht mehr übersehen kann, vergeht einige Zeit. Paradoxerweise schreien einige Leute in Teheran "Tod dem zionistischen Wesen!" Auf die Dauer ist das, was dort geschieht, für unsere Zukunft hundert Mal wichtiger als die Republikanische Partei in San Francisco.

Lasst es mich klar sagen: Ich predige keine Trennung wie sie früher einmal von einer kleinen Gruppe mit dem Spitznamen "Kanaaniter" gefordert wurde. Die natürlichen Bande, die real sind und die die grundlegenden Interessen beider Parteien - Israels oder des Weltjudentums - nicht verletzen, werden überleben.

Aber nur unter einer Bedingung: dass sie weder die Zukunft Israels verletzen, eine Zukunft, die Frieden und Freundschaft zwischen ihren Bürger und den Nachbarn verlangt, noch die Zukunft der Juden in der ganzen Welt innerhalb ihrer eigenen Nationen.

Wie passt das zur zionistischen Doktrin? Wenn es nicht passt, dann ist das eben Pech.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 19.09.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 22. September 2015

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