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STANDPUNKT/497: Das Ministerium der Angst (Uri Avnery)


Das Ministerium der Angst

von Uri Avnery, 26. September 2015


"WIR HABEN nichts zu fürchten, außer der Furcht," sagte Präsident Franklin Delano Roosevelt. Er hatte unrecht.

Angst ist eine notwendige Vorbedingung für menschliches Überleben. Die meisten Tiere in der Natur haben sie. Sie hilft ihnen, auf Gefahren zu reagieren, ihnen aus dem Weg zu gehen oder sie zu bekämpfen. Die Menschen überleben, weil sie furchtsam sind.

Die Furcht ist beides: individuell und kollektiv. Seit ihren frühesten Tagen hat die menschliche Rasse in Kollektiven gelebt. Beides ist notwendig und eine erwünschte Bedingung. Die frühe Menschheit lebte in Stämmen. Der Stamm verteidigte sein Gebiet gegen alle "Fremden" - die benachbarten Stämme -, um seine Nahrungsquelle und seine Sicherheit zu wahren. Die Angst war eines der sie einenden Faktoren.

Zu einem Stamm zu gehören (der nach vielen Entwicklungen zu einer modernen Nation wurde), entspricht dazu auch einem tiefen psychischen Bedürfnis. Auch sie ist mit Angst verknüpft - Angst vor anderen Stämmen, Angst vor anderen Nationen.

Aber Angst kann wachsen und zu einem Monster werden.


VOR KURZEM erhielt ich von einem jungen Naturwissenschaftler, Youv Litvin, einen sehr interessanten wissenschaftlichen Artikel, der sich genau mit diesem Phänomen auseinandersetzt. Er beschrieb mit wissenschaftlichen Ausdrücken, wie leicht Angst manipuliert werden kann. Die damit befasste Wissenschaft war die Erforschung des menschlichen Gehirns, die sich auf Experimente mit Tieren im Labor z.B. mit Mäusen und Ratten, gründete.

Nichts ist leichter, als Ängste zu schüren. Zum Beispiel werden Mäuse, während Rockmusik spielt, einem elektrischer Schock ausgesetzt. Nach einiger Zeit zeigten die Mäuse auch dann Reaktionen äußerster Angst, wenn Rockmusik gespielt wurde, ohne dass ihnen ein Stromschlag verabreicht wurde. Allein die Musik verursachte die Angst.

Dies kann auch umgekehrt sein. Lange Zeit wurde ihnen die Musik gespielt, ohne einen Schmerz zu verursachen. Langsam, sehr langsam verringerte sich die Angst. Aber nicht vollkommen: als nach langer Zeit mit der Musik wieder ein Schock verpasst wurde, kamen die vollständigen Angstsymptome sofort zurück. Einmal war genug.


WENDET MAN dies gegenüber menschlichen Nationen an, sind die Ergebnisse dieselben.

Die Juden sind ein perfektes Labor - ein Experimentierstück. Jahrhunderte der Verfolgung in Europa lehrte sie den Wert der Angst. Wenn sie von weitem Gefahr witterten, lernten sie, sich rechtzeitig zu retten - gewöhnlich durch Flucht.

In Europa waren die Juden eine Ausnahme und das kam einer Einladung gleich, sie zu Opfern zu machen. Im Byzantinischen (Oströmischen) Reich waren Juden normale Menschen. Im ganzen Reich wurden regionale Völker zu ethnisch-religiösen Gemeinschaften. Ein Jude in Alexandria konnte eine Jüdin in Antiochien heiraten, aber nicht die junge Frau von neben an, falls sie zufällig eine orthodoxe Christin war.

Dieses Millet-System hatte während der gesamten Zeit des islamischen Osmanischen Reiches und des Britischen Mandats Bestand und lebt im heutigen Staat Israel fröhlich weiter: Ein israelischer Jude kann eine israelische Christin oder einen Muslim nicht legal heiraten.

Dies war der Grund dafür, dass es in der arabischen Welt keinen Antisemitismus gab, ganz abgesehen von der Kleinigkeit, dass Araber selbst Semiten sind. Juden und Christen, die "Völker des Buches" haben einen Sonderstatus im islamischen Staat (wie dem heutigen Iran). In mancher Hinsicht sind sie Menschen zweiter Klasse, in anderer Hinsicht sind sie privilegiert (sie müssen keinen Wehrdienst leisten). Vor dem Aufkommen des Zionismus waren arabische Juden hier nicht ängstlicher als die meisten anderen Menschen.

Die Situation in Europa war ganz anders. Das Christentum, das sich vom Judentum abspaltete, hegte von Anfang an gegenüber Juden eine tiefe Abneigung. Das Neue Testament enthielt herbe anti-jüdische Beschreibungen von Jesu Tod, die jedes christliche Kind in einem eindrucksfähigen Alter lernte. Und die Tatsache, dass die Juden in Europa (abgesehen von Roma und Sinti) das einzige Volk waren, das keine Heimat hatte, machte es um so verdächtiger und furchterregender.

Das fortgesetzte Leiden der Juden in Europa versetzte jeden europäischen Juden in eine ständige und tiefsitzende Angst. Jeder Jude war ständig in Alarmbereitschaft - bewusst oder unbewusst oder im Unterbewusstsein, sogar in Zeiten und Ländern, die von jeder Gefahr weit entfernt schienen, wie im Deutschland der Jugend meiner Eltern.

Mein Vater war ein Musterbeispiel für dieses Syndrom. Er wuchs in einer Familie auf, die seit Generationen in Deutschland lebte. (Mein Vater, der Latein studiert hatte, bestand darauf, dass unsere Familie mit Julius Caesar nach Deutschland gekommen war.) Aber als die Nazis an die Macht kamen, brauchte mein Vater für die Entscheidung zu fliehen nur wenige Tage, und ein paar Monate später kam meine Familie glücklich in Palästina an.


EINE PERSÖNLICHE Bemerkung: Meine eigene Erfahrung mit der Angst war auch interessant - für mich wenigstens.

Als 1948 der hebräisch-arabische Krieg ausbrach, meldete ich mich natürlich freiwillig zum Kampf. Vor meiner ersten Schlacht krümmte ich mich buchstäblich vor Angst. Während des Kampfes, der glücklicherweise leicht war, verließ mich die Angst und kehrte nie wieder zurück.

Bei den folgenden etwa fünfzig Kämpfen, einschließlich einem halben Dutzend größerer Schlachten fühlte ich keine Angst.

Ich war sehr stolz darauf, doch war das eine dumme Sache. Zum Ende des Krieges hin, als ich schon Truppenführer war, gab man mir den Befehl, eine Position zu übernehmen, die dem feindlichen Feuer ausgesetzt war. Ich ging, um die Position auszukundschaften, fast aufrecht bei hellem Tageslicht und wurde sofort von einer ägyptischen Gewehrkugel durchdrungen. Vier meiner Soldaten, Freiwillige aus Marokko, holten mich tapfer aus der Schusslinie. Ich kam gerade noch rechtzeitig zum nächsten Militärhospital, so wurde mein Leben gerettet.

Selbst dies Erlebnis hat meine verlorene Angst nicht wieder hervorgerufen. Ich fühle sie noch immer nicht, obwohl mir bewusst ist, dass dies äußerst dumm ist.



ZURÜCK ZU meinem Volk.

Die neue hebräische Gemeinschaft in Palästina, gegründet von Flüchtlingen der Pogrome in Moldawien, Polen, Ukraine und Russland, und später verstärkt von den vom Holocaust Übriggebliebenen, lebten in Angst vor ihren arabischen Nachbarn, die von Zeit zu Zeit gegen die Einwanderung revoltierten.

Die neue Gemeinschaft, Yishuv genannt, war sehr stolz auf die Heldenhaftigkeit ihrer Jugend, die durchaus in der Lage war, sich, ihre Städte und ihre Dörfer zu verteidigen. Ein richtiger Kult entstand um den neuen Sabra (Kaktus): den furchtlosen heldenhaften jungen Hebräer, der im Land geboren war. Als wir den Krieg von 1948 nach langem und bitterem Kampf (wir verloren 6500 junge Männer aus einer Gemeinschaft von 650.000 Menschen) schließlich gewannen, wurde die kollektive rationale Angst durch einen irrationalen Stolz ersetzt.

Hier waren wir nun, eine neue Nation auf neuem Boden, stark und selbstbewusst; wir konnten es uns leisten, furchtlos zu sein. Aber wir waren es nicht.

Furchtlose Leute können Frieden schließen und mit den Feinden von gestern einen Kompromiss eingehen, nach Koexistenz und sogar Freundschaft streben. Dies geschah - mehr oder weniger - in Europa nach vielen Jahrhunderten ständiger Kriege.

Nicht hier. Die Furcht vor der "arabischen Welt" erzeugte eine dauernde Spannung in unserm nationalen Leben: das Bild des "kleinen von Feinden umgebenen Israel" war eine innere Überzeugung und ein Propagandatrick. Ein Krieg folgte dem anderen, und jeder produzierte neue Wellen von Ängstlichkeit.

Diese Mischung aus anmaßendem Stolz und tiefsitzender Angst, eine Eroberer-Mentalität, und permanente Furcht, ist ein Kennzeichen des heutigen Israel. Ausländer haben oft den Verdacht, dass dies eine Täuschung sei, aber es ist ganz real.


ANGST IST auch das Instrument der Herrscher. Schaffe Angst und herrsche. Dies ist eine Maxime der Könige und Diktatoren Jahrhunderte lang gewesen.

In Israel ist es das leichteste Ding der Welt. Man muss nur den Holocaust erwähnen (Shoah auf Hebräisch) und die Angst sickert aus allen Poren des nationalen Körpers.

Holocaust-Erinnerungen zu schüren ist ein Nationalgewerbe. Kinder werden zu ihrer ersten Auslandreise nach Auschwitz gesandt, um es zu besichtigen. Der letzte Erziehungsminister ordnete (allen Ernstes) an, dass schon die Kinder im Kindergarten über den Holocaust belehrt würden. Es gibt neben vielen anderen jüdischen Feiertagen, von denen die meisten an Verschwörungen zur Tötung von Juden in der Vergangenheit erinnern, nun auch einen Holocaust-Tag.

Das historische Bild, das so im Gedächtnis eines jeden jüdischen Kindes - in Israel wie im Ausland - geschaffen wird, liegt in den Worten des Passah-Gebetes, das jedes Jahr in jeder jüdischen Familie laut gelesen wird: "In jeder Generation erheben sie sich gegen uns, um uns zu vernichten, aber Gott rettet uns aus ihren Händen!"


DIE LEUTE FRAGEN sich, welches die besondere Qualität ist, die Benjamin Netanjahu auszeichnet, um immer wieder gewählt zu werden und praktisch alleine zu regieren, umgeben von einer Herde geräuschvoller, unbedeutender Personen.

Die Person, die ihn am besten kennt, sein eigener Vater, erklärte einmal, dass Bibi ein guter Außenminister sein könnte, aber unter keinen Umständen ein Ministerpräsident. Es stimmt! Netanjahu hat eine gute Stimme und ein wahres Talent fürs Fernsehen - aber das ist auch alles. Er ist oberflächlich, er hat keine Vision von der Welt und keine wirkliche Vision für Israel, seine historischen Kenntnisse kann man vergessen.

Aber er hat ein wirkliches Talent: Panikmache. Darin hat er keinen Konkurrenten.

Es gibt kaum eine große Rede Netanjahus, weder in Israel noch im Ausland, in der er nicht wenigstens einmal den Holocaust erwähnt. Dem folgt dann das neueste, das aktuelle, angsteinflößende Bild.

Früher einmal war es der "internationale Terrorismus". Der junge Netanjahu schrieb ein Buch darüber und etablierte sich selbst als Experten. In Wirklichkeit ist dies Unsinn. So etwas wie internationalen Terrorismus gibt es nicht. Er ist von Scharlatanen erfunden worden, die darauf eine Karriere bauen wollten. Professoren und dergleichen.

Was ist Terrorismus? Zivilisten töten? Wenn es so ist, dann sind die abscheulichsten Akte von Terrorismus in der neuen Geschichte die Ereignisse von Dresden und Hiroshima. Oder: Wenn nicht staatliche Kämpfer Zivilpersonen töten? Suchen Sie sich eine Definition aus. Wie ich schon oft gesagt habe: "Freiheitskämpfer" heißen die Kämpfer meiner Seite und "Terroristen" die der anderen Seite.

Palästinenser und Araber sind im Allgemeinen natürlich Terroristen. Sie hassen uns, weil wir ihnen einen großen Teil ihres Landes weggenommen haben. Offensichtlich kann man keinen Frieden mit solch perversen Leuten wie jenen machen. Man kann sie nur fürchten und sie bekämpfen.

Wenn das Gebiet der Terrorismus-Kämpfer übervölkert ist, dann wechselt Netanjahu zur Bombe des Iran. Da war sie: die aktuelle Bedrohung unserer bloßen Existenz. Der zweite Holocaust.

Für mich ist dies immer lächerlich gewesen. Die Iraner haben keine Atombombe, und wenn sie sie hätten, würden sie sie nicht benutzen.

Aber nimm Netanjahu die iranische Bombe - was bleibt dann noch? Kein Wunder, dass er sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt. Aber jetzt ist sie endgültig vom Tisch. Was ist da zu machen?

Mach dir keine Sorgen. Bibi wird eine andere Bedrohung finden, blutrünstiger als je zuvor.

Warte nur und zittere.



Copyright 2015 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 26.04.2015
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. September 2015

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