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STANDPUNKT/533: Die Angst vor der Assimilation (Uri Avnery)


Die Angst vor der Assimilation

von Uri Avnery, 9. Januar 2016


DAS ISRAELISCHE Bildungsministerium hat ein Buch von der Leseliste der Studenten gestrichen.

Ein großer Coup. Er geschieht jeden Tag in Russland, China und im Iran. Aber dies war nicht das revolutionäre Werk eines feuer-fressenden Rebellen. Es ist ein einfühlsamer Roman der anerkannten Autorin Dorit Rabinjat.

Ihre Hauptsünde war die Darstellung einer Liebesgeschichte zwischen einem jüdischen Mädchen und einem arabischen Jungen. Sie trafen einander auf amerikanischem Boden.

Das Ministerium schauderte bei dem Gedanken. Was? Eine koschere Tochter aus Israel mit einem arabischen Goy? Undenkbar. Das wäre ja wie eine Liebesgeschichte zwischen einer weißen Frau und einem schwarzen Mann im Atlanta des "Vom Winde verweht". Oder zwischen einer Jüdin und einem reinen Arier in Hitlers Deutschland.

Schockierend. Gut, dass die weisen Männer des Ministeriums die Verbreitung des Buches gerade noch rechtzeitig verhindert haben.


DIE ENTSCHEIDUNG verursachte einen Aufruhr. Liberale Lehrer und Kommentatoren hatten einen großen Tag. Besonders jene, die Sinn für Humor haben (ja, es gibt sogar solche in Israel).

Verschiedene Leute verlangten, die Bibel zu verbieten, da diese voll von Königen und Helden ist, die Ausländerinnen heirateten. Abraham nahm die ausländische Frau Hagar, hatte einen Sohn mit ihr und schickte beide in die Wüste, damit sie dort stürben, weil Sara, die Mutter des jüdischen Volkes, eifersüchtig war. Die Bibel stellt unsere Vorfahrin als einen ziemlich widerlichen Hausdrachen dar.

Moses hatte eine Midianiterin zur Frau. König David heiratete die Frau, die er begehrte, nachdem er ihren hethitischen Ehemann zum Sterben in den Krieg geschickt hatte. Sein Sohn, Salomon hatte eine Menge Frauen, meistens Ausländerinnen. Der Held Samson wurde von seiner philistinischen Frau betrogen. König Ahab, der verblutete, weil er während der Schlacht eine medizinische Behandlung ablehnte, hatte eine Frau aus Sidon. Und so weiter. Eine sehr lange Liste. Einige Lehrer verlangten schadenfroh, die Bibel von der Liste des Ministers zu nehmen.

Fast genauso schlimm sind einige Meisterwerke der modernen hebräischen Literatur - Liebesgeschichten zwischen jüdischen Männern und Schicksen (ein jiddischer Ausdruck für eine nicht jüdische Frau, kommt ursprünglich vom hebräischen Wort für Abscheulichkeit) - Weg mit ihnen!

Was mich an der Sache allerdings am meisten getroffen hat, war ein Wort in der offiziellen Erklärung des Ministeriums für die Maßnahme: "Hitboleluth" was Assimilation bedeutet.

Das Buch wurde beschuldigt, es würde seine Leser, besonders die Jungen in einem leicht zu beeindruckenden Alter zur Assimilation treiben.


ASSIMILATION? HIER? In Israel? In einer offiziellen Regierungserklärung? Unglaublich.

"Assimilation" ist ein Wort, das weithin in der jüdischen Diaspora benutzt wird. Es wird sehr abwertend verwendet. Es bezeichnet die Handlungsweise eines Juden, der sich seines Erbes schämt und versucht, sich seiner christlichen Umgebung anzupassen. Ein Jude, der die Goyim nachmacht und versucht, sich wie sie zu benehmen und so auszusehen. Kurz gesagt ein verachtenswerter Feigling. Einen Juden in Los Angeles oder Moskau "assimiliert" zu nennen, ist eine ernste Anklage. Viele Jahrhunderte lang hatte es eine schlimme Bedeutung.

Es gab gute Gründe dafür. Juden waren überall eine belagerte Minderheit. Sie hatten keinen Staat für sich, keine Armee, um sich selbst zu verteidigen, keine Macht außer ihrer Solidarität. Sie hielten zusammen, um zu überleben. In kleinen Gemeinden konnte der Abfall vom Glauben auch nur einer einzigen Familie allen anderen einen starken Schlag versetzen.

Assimilation führte oft zum vollständigen Glaubenswechsel. Wenn ein jüdisches Mädchen einen christlichen Mann heiratete, wurden die Kinder für gewöhnlich christlich erzogen und verloren allen Kontakt zu ihren jüdischen Wurzeln (obwohl in der jüdischen Religion die Nachkommen einer jüdischen Mutter volle Juden sind. Der Vater zählt nicht (vielleicht weil man nie ganz sicher sein kann, wer der Vater ist).

All dies ist ganz normal für eine zerstreut lebende Gemeinschaft, die als Minderheit in einer ausländischen, oft feindseligen Umgebung lebt. Es ist ein Mittel des Überlebens.

Das Wort "Hitboleluth" ist deshalb mit einem anderen hebräischen Wort verbunden: Galut (wörtlich "Exil").

Nach anerkannter jüdischer Auffassung ist die jüdische Geschichte in drei Teile geteilt: "Der erste Tempel" aus der Zeit von Abraham bis zum babylonischen Exil, einem Exil, das Gott den Juden ihrer Sünden wegen auferlegt hatte. Nach zwei Generationen erlaubte Gott den Juden zurückzukehren und den "zweiten Tempel" zu bauen. Aber sie sündigten wieder. Also wurde Gott wirklich böse und sandte sie wieder ins Exil, dieses Mal auf Dauer. Orthodoxe Rabbiner sahen den Zionismus als Sünde an, weil die Rückkehr ins Heilige Land ein Akt der Rebellion gegen Gott war. Die Juden müssen im Exil bleiben, bis Gott in seiner Gnade sie zurücklässt.


DIE ZIONISTISCHE Ideologie verachtet den "Galut". Da sie grundsätzlich atheistisch war, kümmerte sie sich nicht um den Willen Gottes.

Der Gründer Theodor Herzl glaubte, dass, wenn der jüdische Staat erst einmal entstanden sei, alle wirklichen Juden dorthin kommen würden, um dort zu leben. Von da an werden allein sie Juden genannt. Alle anderen Juden würden sich in ihrer jetzigen Heimat "assimilieren" und aufhören, Juden zu sein. (Dieser Teil der ursprünglichen Ideologie wird in den Schulbüchern nicht erwähnt.)

Ich werde nicht müde, darauf hinzuweisen, dass die zionistische Gemeinschaft in diesem Land vor der Gründung des Staates Israel stolz zwischen sich und den Juden in der galut unterschieden hat. Die Menschen der jüdischen Gemeinschaft im damaligen Palästina nannten sich spontan eine "hebräische" Gemeinschaft und sprachen von hebräischer Landwirtschaft, hebräischem Untergrund, einem künftigen hebräischen Staat und einer hebräischen Armee und unterschieden damit zwischen sich und der jüdischen Religion, jüdischen Traditionen, einer jüdischen Diaspora usw.

Die schlimmste Beleidigung, die man einer Person in Tel Aviv (offiziell die "erste hebräische Stadt") nachrufen konnte, war, dass sie ein "galuti" sei. Das bedeutet, dass ihr die Qualitäten fehlten, die wir bescheiden mit uns selbst verbanden; Aufrichtigkeit, Mut, Selbstopfer, harte Handarbeit.


NICHTS KÖNNTE mehr "galuti" sein, als die Angst vor der Assimilation.

Assimilation an wen? Die arabischen Bürger stellen etwa 20 Prozent der israelischen Bevölkerung dar. Sie werden auf allen Gebieten diskriminiert. Allgemeine Meinungsumfragen zeigen, dass viele jüdische Israelis sie verachten. Erst in dieser Woche wollte ein griechisches Flugzeug Athen verlassen, um nach Tel Aviv zu fliegen. Es wurde stundenlang aufgehalten, weil einige jüdische Passagiere dagegen waren, dass zwei israelische Araber an Bord waren. Die Araber mussten zurückbleiben.

(Man stelle sich zwei schwarze Passagiere in einem amerikanischen Flugzeug vor. Oder zwei jüdische Passagiere in einem deutschen.)

Woraus entspringt also die Furcht vor Assimilierung? Einzig und allein aus tiefen galutischen Wurzeln.

Liebesbeziehungen, ja sogar Ehen zwischen Jüdinnen und Arabern (niemals andersherum) sind in Israel nicht gänzlich unbekannt. Aber sie sind äußerst selten. Vielleicht gibt es ein paar Dutzend. Junge Leute der beiden Nationen mischen sich hier und da, besonders an Universitäten, aber die Kluft zwischen ihnen ist viel zu tief.

Die Idee, dass sogar eine Liebesgeschichte über solch ein Paar verboten werden muss, weil es zu einer "Assimilation" führen kann, ist lächerlich. Es ist eher umgekehrt. Arabische Bürger fürchten sich vor der Assimilation ihrer jungen Männer in der jüdischen Gesellschaft. Auch davon gibt es ein paar Fälle. (Araberinnen heiraten im Allgemeinen innerhalb ihrer Großfamilien.)



WAS IST ALSO der Ursprung dieses Syndroms?

Eine einfache Erklärung ist die "Religionisierung" des Lebens in Israel unter der gegenwärtigen super-rechten-religiösen Regierung. Die "national-religiösen" Kräfte führen die Offensive an der ganzen Front. Benjamin Netanjahu hat ihnen, um Ministerpräsident zu bleiben, fast alle wichtigen Posten in der Regierung übertragen. Kippatragende Männer besetzen nun die verantwortungsvollen Posten in der Polizei, dem Sicherheitsdienst, dem Mossad und vielen anderen Institutionen. Und gut aussehende extrem-rechte Frauen sind für das Übrige zuständig.

Das Armee-Kommando ist noch in den Händen von "säkularen" Generälen; aber während des letzten Gazakrieges hat der Kommandeur einer Brigade (noch dazu meiner alten Brigade) einen Tagesbefehl verfasst, in dem er die IDF "Armee Gottes" nannte. Das ist dieselbe Armee, die im Krieg 1948 gegründet wurde, als fast alle ihre Kommandeure sozialistische, atheistische Kibbuzangehörige waren.

Der neue Stabschef hat es gewagt, die Armee-Abteilung für "jüdisches Bewusstsein", eine religiöse Missionseinrichtung des Armeerabinats, abzuschaffen. Da die Orthodoxen aus religiösen Gründen - z.B. der Nähe zu Soldatinnen - den Dienst in der Armee verweigern, ist die Armee weitgehend säkular, aber sie wird bereits stark von "nationalreligiösen" Offizieren infiltriert. Die Militär-Rabbis spielen in der Armee dieselbe Rolle wie die "politischen Kommissare" in Trotzkys Roter Armee. Soldaten legen ihren Fahneneid an der Klagemauer, Israels religiösestem Ort, ab.


ICH GLAUBE, dass dieser Vorgang sehr viel tiefer greift als ein Machtwechsel von der alten säkularen Elite zur neuen religiösen Elite, so schlimm er auch sein mag.

Was ist geschehen: Die neue israelische Nation, die wir in den 30er, 40er und 50er Jahren des letzten Jahrhunderts geschaffen haben, entwickelt sich zu einer neuen Auflage des jüdischen Ghettos zurück, zu einem bewaffneten Ghetto, einem nuklearen Ghetto, aber nichtsdestoweniger zu einem Ghetto.

Es ist das Gegenteil von dem, worum es im Zionismus ging: ein säkulares, demokratisches, liberales Land mit gleichberechtigten Bürgern im Gegensatz zu einer verschlossenen, religiösen, nationalistischen, rassistischen, ja geradezu halbfaschistischen Gesellschaft.

In solch einer Gesellschaft wird "Assimilation" tatsächlich als tödliche Gefahr angesehen.

Es ist noch Zeit, das Steuerrad herumzureißen und den Staat, den wir aufbauten, zu retten.

Aber wie lange noch?



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 09.01.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 12. Januar 2016

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