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STANDPUNKT/555: Integration - das unbekannte Wesen (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2016

Integration - das unbekannte Wesen

Von Thomas Meyer


Es gibt, folgt man der wissenschaftlichen Literatur, drei Arten, wie größere Migrantengruppen in ihren Aufnahmegesellschaften ankommen können: Insertion als äußerliche Anwesenheit unter voller Beibehaltung ihrer kulturellen Ursprungsidentität; Assimilation als komplette Übernahme der Kultur des Aufnahmelandes; schließlich Integration als gleiche Teilhabe an den Chancen und Pflichten, vor allem aber auch der politischen und zivilen Kultur des Aufnahmelandes bei Wahrung ihrer selbst gewählten Glaubens- und Lebenskultur. Für alle drei Modelle lassen sich in den europäischen Ländern Beispiele finden: Aber, es liegt auf der Hand, dass nicht jedes von ihnen den betreffenden Gesellschaften gleich gut bekommt. Das sollten wir hierzulande am Anfang einer neuen, in ihrer Art und ihrem Ausmaß beispiellosen Integrationsaufgabe sorgfältig prüfen und beherzigen.

Dem Insertionsmodell sind die Niederlande vor geraumer Zeit ziemlich nahe gekommen. Das dort ursprünglich in dem religionsgeprägten Land praktizierte Toleranzkonzept eines nur noch rein äußerlich verbundenen Nebeneinanders ("Versäulung") separater ethnischer und Glaubenskulturen, später "Multikulturalismus" genannt, ist erst nach traumatischen Erfahrungen und heftigen Konflikten vehement verworfen worden. Es funktionierte nicht und brachte weder ein gemeinsames Staatsbürgerbewusstsein noch übergreifende Solidarität hervor. Das Assimilationsmodell erschien dem postkolonialen Frankreich mit seinem laizistischen Staatsbewusstsein zunächst als Selbstverständlichkeit: Wir sind alle Franzosen und die Religion spielt keine Rolle. Auch dieses Modell ist, vor allem aus Gründen der krassen sozialen Ungleichheit und Ausgrenzung, in den dafür fast zum globalen Symbol gewordenen Vororten der großen Städte (banlieus) krachend gescheitert. Ein Ausweg aus der Misere ist nicht in Sicht.

Sobald (es war ziemlich spät) in der Bundesrepublik sich das Bewusstsein zu entwickeln begann, dass die vielen gerufenen "Gastarbeiter" in Wahrheit nicht nur Produktionsfaktoren waren, die wieder gingen, wenn sie nicht mehr gebraucht würden, nahm in der öffentlichen Debatte zögerlich die Zielvorstellung der Integration Gestalt an. Sie verlangt, kurz gesagt, eine delikate Balance zwischen der gleichen Teilhabe der Neubürgerinnen und -bürger an den das Leben bestimmenden Chancen und Pflichten (politisch, ökonomisch, sozial und zivilgesellschaftlich) unter Wahrung des Rechts auf Selbstbestimmung ihrer kulturellen und religiösen Identität. Letzteres ist, was wenig bekannt zu sein scheint, kein Gnadengeschenk einer großzügigen Gesellschaft, sondern ein universelles Grundrecht.

Integration braucht Konsens

Integration, so viel sollte angesichts der europaweiten Erfahrung unstrittig sein, kann schnell misslingen, das ist schließlich auch hierzulande an Brennpunkten zu besichtigen. Und sie kann ganz gut gelingen, das ist bei uns in der großen Fläche und in wichtigen Belangen durchaus der Fall, mit schmerzhaften Defiziten und vielen nicht recht vorankommenden Baustellen (Schulabschlüsse, Separierung, Arbeitslosigkeit). Akzeptiert sollte auch sein, dass Integration ein zweipoliger Prozess ist, der nur dort gelingt, wo beide Seiten, die Migrant/innen und die Aufnahmegesellschaft, das auch wollen und das Richtige dafür beizeiten tun. Integration lässt sich nicht von oben verordnen, aber doch in ihren materiellen Bedingungen entscheidend erleichtern. Die Mindestbedingung für das Gelingen, auch das sollte allen einleuchten, lässt sich nicht ohne eine prinzipielle Selbstverständigung der Aufnahmegesellschaft darüber erfüllen, was es heißt und was von jedem verlangt wird, wenn alle bei der Integration von Millionen Neuankömmlingen in kurzer Zeit, in den Schulen, in den Nachbarschaften, an den Arbeitsplätzen und in den Wohnwelten aktiv mitwirken müssen. Da sich viele, ohne Zweifel die meisten Menschen an die Sicherheiten des Eingelebten, des Überschaubaren, des halbwegs Kalkulierbaren in einer ohnehin von großen und wachsenden Unsicherheiten geprägten Welt klammern, worauf sie durchaus ein gutes Recht haben, bedarf jeder gewollte Bruch mit ihrer Lebensnormalität - tatsächlich oder nur gefürchtet - eines neuen gesellschaftlichen Konsenses.

Nun ist die Bundesrepublik fast über Nacht zu einer Gesellschaft der "Masseneinwanderung" geworden, wofür sich Gründe nennen lassen, aber die große öffentliche Debatte darüber, was das für alle heißt, und wie wir es gemeinsam schaffen können, hat nicht stattgefunden - noch nicht einmal eine große, überzeugende und mitreißende Rede der Kanzlerin, in der sie klargestellt hätte, was ihre unabweisbaren Gründe für die Grenzöffnung waren, ob diese befristet sein soll oder nicht und was genau sie selbst und das Land nun tun müssen. Das ist bei einem gesellschaftlichen Experiment dieser Größenordnung, Plötzlichkeit, Unkalkulierbarkeit und Unumkehrbarkeit ein großes Risiko für das Gelingen - und ein gravierendes Legitimationsdefizit. Der notorische Merkelsche Politikstil, diese spezielle Mischung aus pauschal beschwichtigender, auf die eigene Person bezogener Symbolpolitik als scheinbarer Garantie für Glaubwürdigkeit und Erfolg, verbunden mit einem ungeklärten Durchwursteln auf Sicht, dürfte sich bei diesem Thema als folgenreicher Fehler erweisen. Er gibt der wachsenden Vielzahl der Verunsicherten und Verängstigten weder Orientierung noch Gewissheit. Indem er sie mit ihren Ängsten und Befürchtungen allein lässt, erleichtert er ungewollt den Erfolg der Rechtspopulisten. Im Übrigen dürfte eine Kommunikationskultur nach dem Motto "Die heilige Merkel gegen die Rassisten", wie der Oxforder Entwicklungsökonom Paul Collier jüngst spottete, gesellschaftliche Gräben aufreißen und vertiefen, die lange offen bleiben werden. Die Wirklichkeit ist zwar nun, wie Navid Kermani pointierte, mit den sehr großen Zahlen an Migrant/innen seit dem Sommer 2015 in die schon aus anderen Gründen tief verunsicherte Republik hereingebrochen, aber sie hat den politischen Diskurs noch nicht erreicht. Er zerfällt bis heute im Wesentlichen in zwei sich trotzig gegeneinander verbarrikadierende Varianten der Realitätsverweigerung: die Utopisten der Grenzenlosigkeit auf der einen Seite und die der romantischen Verteidigung vergangener Zeiten vermeintlicher Homogenität auf der anderen. Diese unheilvolle Polarisierung sollte schnell beendet werden.

Es liegt doch nach allen bisherigen Erfahrungen in Europa auf der Hand: Ein längeres Andauern der Migration in einer den Zahlen von 2015 nahe kommenden Größenordnung würde die Integrationsfähigkeit unseres Landes und jedes anderen schon rein materiell überfordern und seine Fähigkeit, auch den danach kommenden Flüchtlingen noch Schutz zu gewähren, in jeder Hinsicht massiv beschädigen. Darum ist sie auch moralisch widersprüchlich. Weder die Infrastruktur und der Arbeitsmarkt, noch die Wohnsituation und schon gar nicht die bisherige Willkommenskultur eines erstaunlich großen Teils der Gesellschaft hielten einer solchen Entwicklung stand - und die Stimmung könnte, es hat schon begonnen, dann auch in Deutschland auf breiter Fläche umkippen. Das Vertrauen der Gesellschaft in die nachhaltige Verkraftbarkeit der schon jetzt sehr großen Zahl von Migrant/innen ist aber eine zentrale sozialpsychologische Voraussetzung für das tatsächliche Gelingen der Integration. Gegen die Mehrheit der Gesellschaft kann es keine Integration geben.

Gemeinsame Bürgerschaft

Es ist ja gar nicht lange her, dass die "heilige Angela" vehement gegen den Multikulturalismus polemisiert und gespottet hat. Ist sie sich, sind wir uns wirklich darüber im Klaren, worin der Unterschied zwischen einem multikulturell offerieren Land und einer kulturell pluralistischen Republik besteht? Vermutlich nicht so richtig. Denn letztere ist, wie die europäische Erfahrung zeigt, sehr schwer zu schaffen, weil sie ein in den individuellen Überzeugungen verwurzeltes und im Handeln sichtbares gemeinsame Bürgerbewusstsein über alle kulturellen Differenzen hinweg verlangt: ein neues "Wir", das stark genug ist, um Toleranz, übergreifende Verantwortung und Solidarität zu schaffen. Mit der gleichen Teilhabe aller an den Chancen und Pflichten des Gemeinwesens, auch sie schon schwer genug zu erreichen, ist ja erst die eine Voraussetzung von Integration geleistet; die andere ist weit schwieriger. Die Anerkennung des Rechts auf kulturelle und religiöse Selbstbestimmung findet nämlich auch in der kulturell pluralistischen Republik ihre (unverhandelbare) Grenze an den politisch-kulturellen Bedingungen gemeinsamer Bürgerschaft. Von allen, die in einer rechtsstaatlichen Demokratie zusammen als Bürger/innen zusammenleben, wird ja die überzeugte Akzeptanz der politischen und der zivilbürgerlichen Kultur erwartet, die gemeinsam Bürgerschaft erst möglich macht. Das Herz der politischen Kultur sind Grundwerte der demokratischen Verfassung. Das geht über die selbstverständliche Achtung des Grundgesetzes und der Gesetze hinaus. Es geht um mehr, nämlich um Kultur, also um Werte, Einstellungen und Dispositionen, die sich im gesellschaftlichen Handeln bewähren - eine große Herausforderung, von der manche Kenner meinen, sie bedürfe der Anstrengung von Generationen.

Schwierig und im Kern ungeklärt ist dabei die Frage, wie weit reicht und wie tief greift jene zivilbürgerliche Kultur, die von allen als Bürgerinnen und Bürger geteilt werden muss? Was gehört dazu, um im Umgang miteinander wechselseitige Anerkennung, Gesprächsfähigkeit und -bereitschaft, vor allem auch Solidarität zu fundieren? Wie viel von der Geschichte unseres Landes sollten alle halbwegs kennen? Wie viel von der damit verbundenen Verantwortung kann ihnen zugemutet werden? Wo genau sind die Grenzen der kulturell-religiösen Selbstbestimmung, wo beginnt das Terrain der verpflichtenden Gemeinsamkeit, damit in Schulen, Wohnwelten und im Arbeitsleben die alten und die neuen Bürger/innen einander näherkommen können? Es gibt Arten des Gebrauchs von Versatzstücken religiöser Überlieferungen und die religiöse Bemäntelung archaischer Gewohnheiten, die nicht zur demokratischen Bürgerkultur passen. Sie unterscheiden sich von Region zu Region und von Milieu zu Milieu: Antisemitismus, habituelle Frauenfeindlichkeit, konfrontative Durchsetzungskultur von Männern (untereinander und gegen Frauen) - alles auch hierzulande milieuspezifisch vertreten - dürfen nicht unter vermeintlich kulturell-religiösen Artenschutz gestellt werden. Die Berufung auf religiöse Identitäten kann jedenfalls in einer demokratischen Republik kein Rechtfertigungsgrund für die Verletzung ihrer zivilen Normen sein. Der Islam als persönliche Religion hingegen ist, wie der mittlerweile bei uns zum faktischen Mainstream gewordene Euro-Islam zeigt, keine Integrationsbarriere und auch kein Hindernis auf dem Weg zu einer gemeinsamen Bürgerschaft. Und um sie vor allem geht es jetzt.


Thomas Meyer ist emeritierter Professor für Politikwissenschaften an der Universität Dortmund und Chefredakteur der NG/FH. In der edition Suhrkamp erschien 2015: Die Unbelangbaren: Wie politische Journalisten mitregieren.
thomas.meyer@fes.de

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 3/2016, S. 37 - 39
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Die NG/FH erscheint zehnmal im Jahr (Hefte 1+2 und 7+8 als Doppelheft)
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Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. April 2016

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