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STANDPUNKT/579: Der Bürgerkrieg (Uri Avnery)


Der Bürgerkrieg

Uri Avnery, 3. September 2016


ETWAS SELTSAMES geschieht mit den Chefs des Israelischen Inlandsgeheimdienstes Schin Bet, wenn sie sich im Ruhestand befinden.

Dieser Dienst ist der Definition nach eine tragende Säule der israelischen Besatzung. Er wird von den (jüdischen) Israelis bewundert, von den Palästinensern gefürchtet und überall respektiert. Die Besatzung könnte ohne ihn nicht existieren.

Und hier liegt das Paradoxon: Sobald die Chefs ihren Job beim Geheimdienst quittieren, werden sie zu Fürsprechern des Frieden. Wie kommt das?

Tatsächlich gibt es eine logische Erklärung. Shin Bet-Agenten sind der einzige Teil des Establishment, der mit der palästinensischen Realität in wirkliche, direkte und tägliche Berührung kommt. Sie verhören palästinensische Verdächtige, foltern sie, versuchen sie umzudrehen, also Informanten aus ihnen zu machen. Sie sammeln Informationen, durchdringen die entferntesten Teile der palästinensischen Gesellschaft. Sie wissen mehr über die Palästinenser als irgendjemand in Israel (und vielleicht auch in Palästina).

Die Intelligentesten unter ihnen ("intelligence officers" können tatsächlich intelligent sein und oft sind sie das auch) denken über das, was sie hören, auch nach. Sie kommen zu Schlussfolgerungen, die vielen Politikern entgehen: dass wir es mit einer palästinensischen Nation zu tun haben, dass diese Nation nicht verschwinden wird, dass die Palästinenser einen eigenen Staat haben wollen, dass die einzige Lösung des Konfliktes ein palästinensischer Staat neben Israel sein wird.

So sehen wir ein seltsames Phänomen: nach dem Verlassen des Dienstes werden die Shin Bet-Chefs - einer nach dem anderen - ausgesprochene Advokaten der "Zwei-Staaten-Lösung".

Dasselbe geschieht mit den Chefs des israelischen Auslandsgeheimdienstes Mossad.

Ihre Hauptaufgabe besteht im Allgemeinen darin, gegen die Araber und insbesondere gegen die Palästinenser zu kämpfen. Doch in dem Moment, in dem sie den Geheimdienst verlassen, werden sie zu Fürsprechern der Zwei-Staaten-Lösung im direkten Widerspruch zur Politik des Ministerpräsidenten und seiner Regierung.


ALLE ANGESTELLTEN der beiden Geheimdienste sind - natürlich - geheim. Alle außer den Chefs.

(Dies ist meine Errungenschaft. Als ich ein Mitglied in der Knesset war, reichte ich eine Gesetzesvorlage ein, die forderte, dass der Name des Geheimdienstchefs öffentlich gemacht wird. Die Gesetzesvorlage wurde natürlich abgewiesen, wie alle meine Vorschläge, aber bald danach verordnete der Ministerpräsident, dass die Namen der Chefs tatsächlich öffentlich gemacht wurden.)

Vor einiger Zeit zeigte das israelische Fernsehen ein Dokument, das "Torhüter" genannt wurde, in dem alle lebenden Ex-Chefs des Shin Bet und des Mossad über Lösungen des Konfliktes befragt wurden.

Alle sprachen sich für Frieden aus, wenn auch mit verschiedener Intensität. Einen Frieden, der sich auf die "Zwei-Staaten-Lösung" gründet. Sie äusserten ihre Meinung, dass es keinen Frieden geben würde, wenn die Palästinenser nicht einen eigenen Nationalstaat bekämen.

Zu dieser Zeit war Tamir Pardo der Chef des Mossad; er konnte seine Meinung nicht äussern. Aber seit Anfang 2016 ist er wieder eine Privatperson. In dieser Woche machte er das erste Mal seinen Mund auf.

Wie sein Name zeigt, ist Pardo ein sephardischer Jude. Er wurde vor 63 Jahren in Jerusalem geboren. Seine Familie kommt aus der Türkei, wo viele Juden Zuflucht fanden, als sie aus Spanien vor 525 Jahren vertrieben wurden. Er gehört also nicht zur Ashkenazi-Elite, die von dem "orientalischen" Teil der jüdisch-israelischen Gesellschaft so gehasst wird.

Pardos Hauptpunkt war eine Warnung: Israel nähert sich der Situation eines Bürgerkrieges. Wir sind noch nicht soweit, sagte er, aber wir sind sehr schnell dort.

Seiner Meinung nach ist diese Bedrohung jetzt die Hauptbedrohung, der Israel gegenübersteht. Mehr als das, er sagte, dass diese Bedrohung die einzige sei, die es noch gebe. Diese Aussage bedeutet: Der neueste ehemalige Chef des Mossad sieht keine militärische Bedrohung Israels - weder durch den Iran noch durch Daesh noch durch sonst irgendjemanden. Das ist eine direkte Infragestellung des Hauptkatalogpunktes in Netanjahus Politik: dass Israel von gefährlichen Feinden und tödlichen Bedrohungen umgeben sei.

Aber Pardo sieht eine Bedrohung, die weit gefährlicher ist: die Kluft innerhalb Israels jüdischer Gesellschaft. Wir haben keinen Bürgerkrieg - noch nicht. Doch "nähern wir uns ihm sehr schnell".


BÜRGERKRIEG ZWISCHEN wem? Die übliche Antwort ist zwischen "Rechts" und "Links".

Wie ich schon bemerkt habe, bedeutet "Rechts" und "Links" in Israel nicht dasselbe wie in der übrigen Welt. In England, Deutschland und den USA betrifft die Teilung zwischen links und rechts die Einstellung hinsichtlich sozialer und wirtschaftlicher Probleme.

In Israel haben wir natürlich auch eine Menge sozio-ökonomischer Probleme. Aber die Teilung zwischen "links" und "rechts" in Israel betrifft fast nur den Frieden und die Besatzung. Wenn man ein Ende der Besatzung und Frieden mit den Palästinensern will, dann ist man ein "Linker". Wenn man die Annexion der besetzten Gebiete will und die Vergrößerung der Siedlungen, dann ist man ein "Rechter".

Aber ich vermute, dass Pardo eine viel tiefere Spaltung meint, auch wenn er das nicht explizit sagt. Der Riss zwischen europäischen ("Ashkenasim") und "Orientalischen" ("Misrahim") Juden. Die "Sephardische" ("Spanisch") Gemeinde, zu der Pardo gehört, wird als ein Teil der Orientalischen betrachtet.

Was macht diese Spaltung so potentiell gefährlich und erklärt Pardos düstere Warnung? Es ist die Tatsache, dass die überwältigende Mehrheit der Orientalen "rechts", nationalistisch und wenigstens ein bisschen religiös sind, während die Mehrheit der Ashkenasim "links", mehr friedensorientiert und säkular eingestellt sind. Da die Ashkenasim für gewöhnlich auch sozial und wirtschaftlich besser dastehen als die Orientalen, ist die Kluft tiefer.

Zu der Zeit, als Pardo geboren wurde (1953), trösteten wir, denen der Beginn der Spaltung schon bewusst war, uns mit dem Glauben, das werde vorübergehen, es sei nur eine Phase. Nach einer Massen-Einwanderung sei eine Spaltung verständlich, aber der "Schmelztiegel" werde seine Aufgabe schon erfüllen, Heiraten von Angehörigen der verschiedenen Gemeinschaften würden weiterhelfen und nach ein oder zwei Generationen werde die ganze Sache verschwinden und nie wieder auftauchen.

Nun, es geschah nicht. Im Gegenteil - die Kluft vertiefte sich schnell. Zeichen von gegenseitigem Hass sind offensichtlicher geworden. Der öffentliche Diskurs ist voll davon. Politiker, besonders die rechten, gründen ihre Karriere auf Aufhetzung und werden dabei von Netanjahu, dem größten Aufhetzer von allen, angeführt.

Heiraten zwischen Angehörigen der Gemeinschaften helfen nicht weiter. Gewöhnlich entscheiden sich die Söhne und Töchter gemischter Paare für eine der beiden Seiten - und werden auf dieser Seite zu Extremisten.

Ein fast komisches Symptom ist, dass die Rechte, die seit 1977 (mit kleinen Unterbrechungen) an der Macht ist, sich immer noch wie eine unterdrückte Minderheit benimmt und den "alten Eliten" die Schuld an all ihren Übeln gibt. Das ist nicht lächerlich, weil die "alten Eliten" in der Wirtschaft, den Medien, den Gerichten und in der Kunst noch immer überwiegen.

Der gegenseitige Zwiespalt wächst. Pardo selbst liefert ein alarmierendes Beispiel: Seine Warnung hat keinen Sturm veranlasst. Sie ging fast unbemerkt vorüber; eine kurze Nachricht und das war es dann. Kein Grund, sich aufzuregen.


EIN SYMPTOM, das Pardo hätte ängstigen müssen, ist, dass die einzige Kraft, die die Juden im Land verbindet - die Armee - auch ein Opfer der Spaltung wird.

Die israelische Armee entstand vor der Unabhängigkeit im Untergrund, lange vor Israel selbst, und gründete sich auf die sozialistischen aschkenasischen Kibbuzim. Spuren aus dieser Vergangenheit sind noch in den oberen Rängen bemerkbar. Die Generäle sind meistens Ashkenasim.

Dies mag die seltsame Tatsache erklären, dass 43 Jahre nach dem letzten wirklichen Krieg (dem Yom Kippur Krieg, 1973) und 49 Jahre, nachdem die Armee hauptsächlich eine koloniale Kraft wurde, die Armee-Führung immer noch moderater als das politische Establishment ist. Aber von unten her wächst eine andere Armee - deren Offiziere eine Kippa tragen, eine Armee, deren neue Rekruten in Häusern wie dem von Elor Azariya erzogen wurden und das nationalistisch israelische Schulsystem absolviert haben.

Der Militärprozess Azariyas zerreißt Israel weiterhin, seit sieben Monaten, nachdem er angefangen hat, und noch weitere Monate, bevor er mit einem Urteil enden wird. Man erinnere sich: Azariya ist der Feldwebel, der einen schwer verwundeten arabischen Angreifer, der schon hilflos am Boden lag, erschoss.

Tag für Tag regt diese Affäre das Land auf. Das Armee-Kommando wird bedroht, was schon an eine allgemeine Meuterei grenzt. Der neue Verteidigungsminister, der Siedler Avigdor Lieberman unterstützt offen den Soldaten gegen seinen Stabschef, während Benjamin Netanjahu, wie üblich bei einem politischen Feigling, beide Seiten unterstützt.

Dieses Gerichtsverfahren hat schon vor langem aufgehört, ein moralisches oder disziplinarisches Problem zu sein, und ist ein Teil der tiefen Kluft, die die israelische Gesellschaft spaltet. Das Bild des kindlich aussehenden Killers mit seiner Mutter, die im Gericht hinter ihm sitzt und seinen Kopf streichelt, ist zum Symbol des drohenden Bürgerkriegs geworden, von dem Pardo spricht.


EINE MENGE Israelis haben begonnen, über die "zwei jüdischen Gesellschaften" in Israel zu sprechen - manche sprechen sogar von "zwei jüdischen Völkern" innerhalb der Israelisch-jüdischen Nation.

Was hält sie zusammen? Der Konflikt natürlich. Die Besatzung. Der andauernde Zustand des Krieges.

Der trauernde Vater Yitzhak Frankenthal, eine Säule der israelischen Friedenskräfte, hat eine erhellende Bemerkung gemacht: Der israelisch-arabische Konflikt wurde Israel nicht aufgezwungen, sondern es ist umgekehrt: Israel erhält den Konflikt aufrecht, weil es ihn für seine bloße Existenz braucht.

Dies könnte die endlose Besatzung erklären. Es passt gut in Pardos Theorie des nahenden Bürgerkrieges. Nur ein Gefühl der Einheit, das durch den Konflikt geschaffen wird, kann ihn verhindern.

Der Konflikt - oder Frieden.



Copyright 2016 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 03.09.2016
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 6. September 2016

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