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STANDPUNKT/627: Troublemakers' Toolkit - Wenn Internet etwas ändern könnte, wäre es verboten? (lunapark21)


lunapark 21, Heft 35 - Herbst 2016
zeitschrift zur kritik der globalen ökonomie

Troublemakers' Toolkit
Wenn Internet etwas ändern könnte, wäre es verboten?

von Susanne Rohland


Technologisch betrachtet haben wir heute Möglichkeiten, die vor 20 Jahren schlicht undenkbar waren. Möglichkeiten zu Überwachung und Manipulation sind in dieser Einschätzung ebenso enthalten wie die zu Graswurzelvernetzung und "Samisdat" neuen Ausmaßes. "Befreiung oder nicht Befreiung?", ist also eigentlich keine Frage. Denn, von puren Bastlermentalitäten abgesehen, ist Technologie nie Selbstzweck. Es kommt darauf an, was man damit unternimmt. Die Ausgabe 35 der Lunapark21 brachte mit dem Schwerpunkt Digitalisierung, Big Data Monopole, ZERSTÖRUNG einen gelinde gesagt kulturpessimistischen Blick auf die Fortentwicklung von Informationstechnologie, der innerhalb wie außerhalb der Redaktion zu einigen Diskussionen führte. In diesem Zusammenhang seien hier einige Innenansichten aus einer etwas internet-affineren Ideenwelt aufgeschrieben.

Referenzprojekt sei labournet.de, die Webseite vom LabourNet Germany. Das Netzwerk war schon früh der Versuch, die Vernetzungspotentiale für Menschen in Lohnabhängigkeit nutzbar zu machen. 1997 ging das Projekt an den Start - viele von uns hatten da vielleicht einen Rechner auf dem Schreibtisch, aber sicher noch keinen auf dem Schoß (oder in der Handtasche). Zunächst ging es darum, die Belegschaftszeitungen oppositioneller Gewerkschaftsgruppen gesammelt online verfügbar zu machen, die bis dahin ausserhalb des Betriebs nur persönlich bekannte Empfänger postalisch erreicht haben. Inzwischen gibt es im LabourNet Germany zehntausende Dateien zu betrieblichen, gewerkschaftlichen, politischen, sozialen Kämpfen hierzulande und in der Welt. Die Debatte um "Industrie 4.0" und die Auswirkungen auf die Arbeitswelt haben eine eigene Rubrik, Mobilisierungen gegen Überwachungswahn und zur Verteidigung der Freiheit des Internets ebenso.

Es ist unbestritten eine Herausforderung, in der täglichen digitalen Informationsflut zumindest einigermaßen das Gefühl der Übersicht zu behalten. Undenkbar aber wäre es, unsere Arbeit ohne Emails, Mailinglisten, Newsfeed-Reader, Suchmaschinen, Online-Recherche zu betreiben. Täglich posten wir neue Updates aus betrieblichen und sozialen Kämpfen und Debatten, die mensch sich per Newsletter, RSS-Feed oder - neuerdings, da haben wir lange gezögert - über Twitter in Postfach oder Timeline bestellen kann. Es bleibt Herausforderung, den technologischen Entwicklungen zu folgen - in der Theorie, und immer wieder auch in der Praxis. Nicht jeden Schlenker muss man mitmachen wollen - manchmal aus praktischen, aber zum Teil auch schlicht aus (netz-)politischen Gründen. Bei Facebook sind wir aus letztgenannten Gründen immer noch nicht.

Facebook verkörpert zu einem guten Teil all das, was heutzutage an der Internetlandschaft zu kritisieren ist. Ein kapitalistisches Unternehmen bietet eine oberflächlich betrachtet kostenlose Dienstleistung, und buchstäblich Milliarden Menschen legen ihre Kommunikation, ihre Kontakte, ihr Surfverhalten in dessen Hände, wo sie ohne Umschweife in beträchtliche Werbeeinnahmen umgewandelt werden. Zensiert wird nach undurchsichtigen "Gemeinschaftsstandards" amerikanischen Stils: So bleibt rassistische Hetze immer wieder unbeantwortet, während es das berühmte Bild aus dem Vietnamkrieg, das ein nacktes Mädchen auf der Flucht vor den Napalmbomben zeigt, erst nach internationalen Protesten wieder online schafft. Auf welcher polit-ökonomischen Verhandlungsgrundlage die Entscheidung beruht, nicht nur Beiträge mit PKK-Symbolen, sondern auch alle Beiträge mit dem Konterfei des nach wie vor inhaftierten Öcalan ohne Diskussion zu löschen, bleibt für alle, die Facebook beobachten oder nutzen, verborgen. Immerhin können wir inzwischen gewiss sein, dass zumindest für den deutschen Sprachraum die Prüfung von Facebook-Posts nicht irgendwelchen Algorithmen, sondern einer Tochterfirma von Bertelsmann unterliegt. Dass Facebook zwischenzeitlich die Domain "internet.org" gekapert hat, um in Ländern wie Indien, Ägypten, Brasilien den kostenlosen Zugang zum eigenen Service als freien Zugang zum Internet für alle zu verkaufen - und gleichzeitig den Aufenthalt im Internet außerhalb von Facebook kostenpflichtig zu machen - kann kaum genug skandalisiert werden.

Die Kritik an Facebook ist im Grunde bekannt, der Beliebtheit des Dienstes tut sie - offensichtlich - keinen Abbruch. Wer draußen bleibt, wird drinnen eben nicht wahrgenommen. Auch Twitter ist ein Unternehmen, und löscht auf Anfrage autoritärer Staaten Beiträge oder sperrt Accounts. Am Ende läuft die Nutzung oder Nicht-Nutzung auf eine Frage wie die nach dem "richtigen Leben im falschen" hinaus, die jede und jeder im Zweifel für sich selber beantworten muss. Von den ebenfalls populären Anwendungen Whatsapp und Snapchat sowie den verschiedenen Foto- und Pinnwand-Diensten, die sich vergleichsweise nicht durchgesetzt haben, ist da noch gar nicht gesprochen. Sowohl zu Facebook wie auch zu Twitter gibt es freie Alternativen, die - so ist das ja meist - weniger komfortabel und weniger reichweitenstark sind. Auch wir scheuen - jedenfalls derzeit - den Aufwand des Selbstversuchs. Einen PGP-Schlüssel zum Verschlüsseln unseres Email-Verkehrs haben wir - und brauchen ihn nur selten: Die wenigsten, die mit uns kommunizieren, legen praktischen Wert auf solche Art überwachungssicherer Kommunikation.

Es ist insofern nicht das Fehlen technischer Möglichkeiten, sondern die menschliche Bequemlichkeit, die einer netzpolitisch gesehen progressiveren Nutzung entgegen steht. Bei Leuten, die Auto fahren, heißt es: sie stehen nicht im Stau, sie sind der Stau. So gilt für die allermeisten von uns, dass wir nicht schlicht von einer gegenüber virtuellem Korporatismus ohnmächtigen Gesellschaft umgeben sind, sondern diese regelmäßig reproduzieren. Würden wir uns auf den Weg machen und uns etwa mit dem Tor-Projekt, Peer-to-Peer-Diensten, der Freifunk-Initiative beschäftigen, stünde eine ganze Welt zu entdecken.

Wirklich schwierig wird es mit der Bequemlichkeit, wenn Online-Aktivismus mit dem Kern realer politischer Betätigung verwechselt wird. Klicken, sharen, liken, selbst die eine und andere Unterschrift unter der aktuellen Online-Petition erscheinen geradezu verlockend unaufwendig. Als nach einer der inzwischen schon Wochen zurück liegenden Verhaftungswellen gegen kurdische Bürgermeisterinnen und Bürgermeister im Südosten der Türkei das Internet lahmgelegt wurde, sagte der - damals noch nicht in Haft befindliche - Co-Vorsitzende der pro-kurdischen HDP, Selahattin Demirtas, dass die politische Arbeit in den 1990er Jahren auch ohne Internet funktioniert hat - von Tür zu Tür. Auch heute noch gilt, dass Online-Aktivismus nur im Rahmen einer tatsächlich existierenden gesellschaftlichen Organisierung nachhaltige Wirkung entfalten wird.

Gramscis berühmte Aufforderung "Bildet Euch, denn wir brauchen all Eure Klugheit. Bewegt Euch, denn wir brauchen Eure ganze Begeisterung. Organisiert Euch, denn wir brauchen Eure ganze Kraft" betont nicht zuletzt die Rolle von Bildung im Zusammenhang mit selbstorganisierter politischer Aktion. Dabei ist schon in der Formulierung "Bildet Euch..." ein definitives Moment der Selbsttätigkeit enthalten. Wer die Welt verändern will, muss sie verstehen. Die Funktionsweise von Gesellschaft analysieren heißt auch, dass man die Schaltstellen für gesellschaftliche Veränderung besser ausmachen kann. In einer inzwischen ganz anderen Welt als der von Gramsci liegt es nahe, die gegebenen technischen Möglichkeiten für die Selbstbildung zu nutzen. Es gab die Idee der Edupunks, einer Wortschöpfung aus dem englischen "Education" und dem bekannten "Punk", es gibt die Idee der MOOCs, der Massive Open Online Courses - kostenfreier Online-Kurse, die über diverse Plattformen angeboten werden. Aber auch ohne nähere Betrachtung dieser Ideen ist klar, dass im Internet bei weitem nicht nur Herrschaftswissen versammelt ist. Was allerdings auch klar ist: Es sind vor allem die als "bessergebildet" Privilegierten, die das Internet als Zugang zum Wissen der Welt tatsächlich nutzen (können).

Die Welt ist zusammengerückt, unbestreitbar. Explodierende Öltanker beim Abwracken in Pakistan, brennende Autoreifen gegen den politischen Putsch in Brasilien, Putsch und Gegenputsch inklusive aller Einzelheiten zu den Verhaftungswellen in der Türkei - weniges gibt es, das uns nicht innerhalb weniger Stunden online erreicht - erreichen kann, wenn wir die Kanäle verfolgen. Englisch-Kenntnisse helfen wesentlich, jede weitere Fremdsprache erweitert den persönlichen Einzugsbereich.

Internet ist ein Teil der Gesellschaft, es ist ein Kampffeld, wie es andere gesellschaftliche Bereiche auch sind. Das Internet ist so frei, wie wir es sind. Oder eben nicht sind. Es beherbergt emanzipatorische Potentiale mindestens ebenso wie repressive. Die Kämpfe bleiben Verteilungskämpfe. Über Ressourcen, über Machtfragen, hier wie dort. Wenn die vernetzte Welt Kräfte bündeln hilft, kann das kaum falsch sein.

So lange klar ist: Am Ende brauchen wir die Leute auf der Straße.


Susanne Rohland lebt in Berlin. Sie ist Redaktionsmitglied beim LabourNet Germany und bei Lunapark21 und schwankt ansonsten zwischen Edupunk und Informatik-Studium.

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Inhaltsverzeichnis lunapark 21, Heft 36 - Winter 2016

lunart: Trump und Lunapark21-Titelgestaltung
editorial
quartalslüge IV/MMXVI
kolumne winfried wolf: Rheinmetall (Sardinien) läßt im Jemen bomben

welt & wirtschaft
Lucas Zeise • Wer die Deutsche Bank rettet
Hannes Hofbauer • Österreichs Hypo-Desaster

debatte & it
Susanne Rohland • Troublemakers' Toolkit - zur IT-Debatte im LP21-Heft 35

soziales & gegenwehr
Helmut Born • Einzelhandel: Weniger als die Hälfte mit Tarifbindung
Peter Clausing • Bedrohliche Kapitalkonzentration im Agrobusiness

rechts & wirtschaft
Wirtschaftspolitische Vorstellungen der Rechtsextremen in der EU

Thomas Fruth • AfD: Nicht neoliberal, national-protektionistisch!
Hannes Hofbauer • FPÖ: Zwischen paternalistisch & rechtsliberal
Sebastian Gerhardt • Zu Programm und Politik der polnischen PiS
Susan Zimmermann • Fidesz: "Ordnung der Nationalen Zusammenarbeit"
Bernard Schmid • Front National: Euro-Austritt oder doch EU-Neuverhandlungen?

feminismus & ökonomie
Therese Wüthrich • Lohndiskriminierung zwischen Männern & Frauen

spezial >> us-wahlen & trumps programm
Winfried Wolf • Trump-Triumph, Faschismus-Gefahr & der Kampf gegen das Trump-Programm
Mike Davis • (Noch) keine Revolution
Sebastian Gerhardt • Folge dem Geld!
Manfred Dietenberger • Deutscher Zement, Deutsche Bank & andere Trump-Profiteure
Bernhard Knierim • Vergiftetes Klima

lexikon
Georg Fülberth • Lexikon zu "Faschismus & Wohlstandschauvinismus"

rummelplatz
Taiwan, Trump & 42 Prozent

kultur
Daniel Behruzi • Buchbesprechung: Oliver Nachtwey über die "Abstiegsgesellschaft"
Nikos Chilas interviewt Volker Braun "Ihr habt keine Wahl, also wählt!"

märchen des neoliberalismus
Kai Eicker-Wolf & Patrick Schreiner
"Staatsverschuldung belastet künftige Generationen!"

umwelt, energie & verkehr
Winfried Wolf • Das Auftragsgutachten: Stuttgart 21 ein Fass ohne Boden

ort & zeit
Sebastian Gerhardt • Flughafen Tempelhof: Willkommenskultur im Naziprachtbau?

geschichte & ökonomie
Thomas Kuczynski • Die Wahl Donald Trumps: Vor einem neuen Isolationismus?

seziertisch nr. 173
Georg Fülberth • Ein Elitenprojekt

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Quelle:
Lunapark 21, Heft 36 - Winter 2016, Seite 16 - 17
Herausgeber: Lunapark 21 GmbH, An den Bergen 112, 14552 Michendorf
Telefon: 030 42804040
E-Mail: www@lunapark21.net
Internet: www.lunapark21.net
 
Lunapark 21 erscheint viermal jährlich.
Einzelheft: 6,50 Euro + Porto, Jahres-Abo: 26,00 Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 2. Februar 2017

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