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STANDPUNKT/634: Napoleons Kanonen (Uri Avnery)


Napoleons Kanonen

von Uri Avnery, 4. März 2017


NAPOLEON KAM in eine deutsche Stadt und wurde nicht mit den traditionellen Artillerie-Salven begrüßt.

Wütend zitierte er den Major zu sich und verlangte eine Erklärung.

Der Deutsche zog eine lange Papierrolle hervor und sagte: "Ich habe eine Liste von 99 Gründen. Grund 1: Wir haben keine Kanonen".

"Das genügt!" unterbrach ihn Napoleon. "Sie können nach Hause gehen!"


ICH ERINNERTE mich an diese Geschichte vor zwei Wochen, als ich Jitzhaq Herzogs 10 Punkte-Friedensplan las.

Herzog, der Führer der Labour-Partei, ist eine ehrenhafte und intelligente Person. Alle die über ihn schlimme Dinge geschrieben haben, als es schien, als würde er auf Benjamin Netanjahus Koalition zukriechen, sind durch die kürzliche Enthüllung der Aqaba-Friedens-Initiative widerlegt worden.

Die Herrscher von Ägypten, Jordanien und Israel hatten sich im Geheimen getroffen und baten Herzog, sich der Koalition von Netanjahu anzuschließen, um den Frieden zu ermöglichen. Herzog wurde von Netanjahu hintergangen und stimmte zu. Er verhielt sich auch unter dem Ansturm verächtlicher Reaktionen still. Das zeigt, dass er anständig und verantwortungsbewusst ist.

Zweifellos könnte er ein guter Ministerpräsident für Irland sein, wo sein Großvater Oberrabbiner gewesen war oder sogar in der Schweiz. Aber nicht in Israel.

Israel benötigt jetzt einen starken Führer, mit viel Charisma und einem tiefen Verständnis für den historischen Konflikt. Nicht einen Herzog.



KOMMEN WIR zurück zu Napoleon.

Vor zwei Wochen veröffentlichte Herzog stolz seinen Friedensplan, der aus 10 Punkten bestand.

Punkt 1 ist eine obligate Wiederholung des zwei-Staaten-Prinzips. Es ist Punkt zwei, der der Knackpunkt der Sache ist. Darin heißt es, dass die Verhandlungen für Frieden erst in zehn Jahren beginnen werden.

Das ist der Punkt, an dem Napoleon gesagt hätte: "Das genügt, gehen Sie nach Hause!"

Die Idee, dass Friedensverhandlungen 10 Jahre lang aufgeschoben werden können, ist absurd. Ein Volk unter einer brutalen Besatzung wird nicht zehn Jahre lang still sitzen. Während dieser Zeit verpflichtet der Plan die Palästinenser (Punkt 6) gegen "Terrorismus und Volksverhetzung" vorzugehen. Israels Gewalt und Volksverhetzung finden keine Erwähnung.

In 10 Jahren werden "unter der Bedingung, dass während dieser Jahre keine Gewalttaten in der Region geschehen", Friedensverhandlungen beginnen.

In unserer Region sind 10 Jahre eine Ewigkeit. Mehrere Kriege wüten gerade jetzt in der Region. Da die Besatzung weitergeht, kann jeden Moment eine Intifada in Palästina ausbrechen.

Während dieser 10 Jahre wird der jüdische Siedlungsbau in den besetzten Gebieten lustig weitergehen. Aber nur in den "Siedlungsblöcken". Diese imaginären Blöcke sind niemals definiert worden und Herzog definiert sie auch nicht. Es gibt keine Landkarten dieser Blöcke. Es gibt auch kein Abkommen über die Zahl dieser Blöcke und ganz sicherlich auch keine über ihre Grenzen.

Für einen Araber sind "Siedlungsblöcke" nur ein Kunstgriff, weiter Siedlungen zu bauen, während man vorgibt keine zu bauen. Wie ein Araber gesagt hat: "Wir verhandeln über eine Pizza und in der Zwischenzeit esst ihr die Pizza auf."

Da gibt es Behauptungen, dass das ganze Gebiet östlich von Jerusalem zu einem Siedlungsblock gehört und bald von Israel annektiert werden soll. Dies würde den zukünftigen Staat Palästina fast in zwei Teile schneiden, die nur durch wenige Kilometer Wüste bei Jericho miteinander verbunden sind.


AH, JERUSALEM! In Herzogs Plan kommt es nicht vor. Das mag seltsam erscheinen, aber das ist es nicht. Es bedeutet, dass der Herzog-Plan keine Veränderung im Status Jerusalems als "Vereintes Jerusalem, ewiger Hauptstadt Israels" vorsieht.

Hier kommt Napoleon noch einmal ins Spiel. Ein Plan, der keine Lösung für Jerusalem einschließt, ist eine Stadt ohne Kanonen.

Jeder, der auch nur den leisesten Schimmer von arabischen und muslimischen Empfindlichkeiten hat, weiß, dass kein Araber oder Moslem in der Welt einem Friedensschluss zustimmen wird, der Ostjerusalem und den Felsendom in nicht muslimische Hände gibt. Es kann verschiedene Lösungen für Jerusalem geben - Teilung, Gemeinsame Herrschaft und andere - aber ein Plan, der keinen Vorschlag für eine Lösung hat, ist wertlos. Er zeigt die abgrundtiefe Unkenntnis des Verfassers von der arabischen Welt.

Was erscheint außerdem nicht in dem Plan? Natürlich die Flüchtlinge.

Im 1948er-Krieg floh mehr als die Hälfte des palästinensischen Volkes oder wurde vertrieben. (In einem meiner letzten Artikel habe ich versucht, zu beschreiben, was tatsächlich geschah.) Viele dieser Flüchtlinge und deren Nachkommen leben jetzt in der Westbank und im Gaza-Streifen. Viele andere leben in den benachbarten arabischen Staaten und in aller Welt.

Kein Araber kann ein Friedensabkommen unterzeichnen, das nicht wenigstens eine symbolische Lösung bietet.

Inzwischen ist man mehr oder weniger still überein gekommen, dass es zu einer "gerechten und einverständliche Lösung" kommen muss - ich vermute - z. B. die Rückkehr einer begrenzten Anzahl, und eine großzügige Entschädigung, um die Ansiedlung von allen anderen außerhalb Israels zu finanzieren.

Aber für viele Israelis würde die Rückkehr eines einzigen Flüchtlings eine tödliche Gefahr für Israel als einen "jüdischen und demokratischen" Staat bedeuten.

Das Problem überhaupt nicht zu erwähnen - außer als nebulöses "Kernproblem" - ist wohl unklug.


DA GIBT es noch ein anderes Problem, das nicht erwähnt wurde.

Der Plan verlangt Einigkeit unter den Palästinensern in der Westbank und Gaza als eine Bedingung für den Frieden. Gut. Aber betrifft uns das?

Aber sicher tut es dies.

Im Oslo-Abkommen verpflichtete sich Israel vier "sichere Passagen" zwischen der Westbank und dem Gazastreifen zu öffnen, eine Strecke von etwa 40 km durch israelisches Gebiet. Es ließ den Charakter dieser Passagen offen - exterritoriale Straßen, eine Eisenbahn-Linie oder was auch immer. Tatsächlich wurde nie eine Passage eröffnet, auch wenn Straßenschilder schon gesetzt waren, die später wieder weggenommen wurden. Dies war und ist ein offenkundiger Bruch des Abkommens.

Das unvermeidbare Ergebnis (siehe Pakistan) ist das Auseinanderbrechen in zwei Einheiten: In die Westbank unter der PLO und den Gazastreifen unter der Hamas. Die israelische Regierung scheint mit dieser Situation glücklich zu sein.

Wiedervereinigung verlangt die Öffnung der Passagen. Im Herzog-Plan werden sie mit keinem Wort erwähnt.

Im Ganzen gesehen, sieht der Plan wie ein Schweizer Käse aus: mehr Löcher als Substanz.


ICH HABE in meinem Leben an der Formulierung von sehr vielen Friedensplänen mitgewirkt. Im September 1958 veröffentlichten ich und meine Freunde das "Hebräische Manifest", ein Dokument von 82 Punkten, einschließlich eines umfassenden Friedensplanes. So kann ich behaupten, eine Art Experte im Friedensplan-Schmieden zu sein (was sich leider vom Friedenschließen unterscheidet).

Herzogs Plan hat nichts mit Friedenschließen zu tun. Er lässt nicht die Absicht erkennen, arabische Herzen zu gewinnen. Er ist eine marode verbale Angelegenheit, dafür bestimmt, jüdisch israelische Wähler anzusprechen.

Allen intelligenten Israelis ist jetzt klar, dass wir vor einer schicksalhaften Wahl stehen: entweder zwei Staaten oder ein Apartheid-Staat oder ein einziger Staat mit arabischer Mehrheit. Die meisten Israelis wollen keines von den dreien.

Jeder, der Israel führen will, muss eine Lösung bieten. Das ist also Herzogs Lösung. Sie ist nur für die Augen der jüdischen Israelis bestimmt. Araber braucht sie nicht anzusprechen.

Als solcher ist er nicht besser oder schlechter als viele andere "Friedenspläne".

Er ist nur noch eine weitere Übung in Vergeblichkeit.



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 04.03.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 7. März 2017

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