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STANDPUNKT/642: Die Universität des Terrors (Uri Avnery)


Die Universität des Terrors

von Uri Avnery, 1. April 2017


VOR EINIGEN TAGEN beging ein Mann im Zentrum von London, einer Stadt, die ich liebe, einen Terrorakt.

Er überfuhr mehrere Personen auf der Westminster Brücke, erstach einen Polizisten und näherte sich den Toren des Parlaments, wo er erschossen wurde. All dies geschah im Schatten von Big Ben, einem unwiderstehlichen Anziehungspunkt für Fotografen.

Es war eine alle Welt elektrisierende Nachrichten. Innerhalb von Minuten wurde Daesh die Schuld zugeschrieben. Aber als die Wahrheit ans Licht kam, stellte sich heraus, daß der Terrorist ein zum Islam konvertierter britischer Bürger war, der in England geboren wurde. Von früher Jugend an hatte er eine Reihe von kleinen Straftaten begangen. Er war mehrere Male im Gefängnis gewesen.

Wie wurde ausgerechnet dieser Mensch ein religiöser Fanatiker, ein Shahid - ein Zeuge für die Wahrheit Allahs -, der sein Leben für die Größe des Islam opferte? Wie war er zum Täter eines Verbrechens geworden, das Europa und die ganze Welt schockierte?


BEVOR ICH versuche, auf diese faszinierende Frage eine Antwort zu geben, schiebe ich eine Bemerkung über die Wirksamkeit des "Terrorismus" ein.

Wie der Begriff "Terrorismus" besagt, geht es darum, Angst zu verbreiten. Es ist eine Methode, ein politisches Ziel zu erreichen, indem man dem Volk Angst macht.

Aber warum fürchten sich die Menschen so sehr vor Terroristen? Das ist für mich immer ein Rätsel gewesen, sogar als ich als Junge zu einer Organisation gehörte, die von den britischen Oberherren als "terroristisch" bezeichnet wurde.

Ich weiß nicht, wie viele Leute in dem Monat, in dem die Westminsterattacke geschah, im Vereinigten Königreich bei Straßenunfällen zu Tode kamen. Ich vermute, dass die Zahl sehr viel größer war. Doch die Leute fürchten sich nicht vor Straßenunfällen. Sie vermeiden es nicht, auf die Straße zu gehen. Gefährliche Autofahrer werden nicht vorsorglich in Haft genommen.

Doch eine sehr kleine Anzahl von "Terroristen" genügt, um eine hysterische Furcht im ganzen Land, auf ganzen Kontinenten, ja sogar auf dem ganzen Globus auszulösen.

Großbritannien sollte der letzte Ort in der Welt sein, dessen Bewohner dieser vollkommen irrationalen Furcht erliegen. 1940 stand diese kleine Insel gegen den Koloss des von Nazis eroberten Europas. Ich erinnere mich noch an ein bewegendes Plakat, das in Palästina an den Mauern befestigt war. Es zeigte den Kopf von Winston Churchill mit dem Slogan: "Gut, dann also alleine!"

Konnte ein einzelner Terrorist mit einem Auto und einem Messer diesem Land Furcht bis zur Unterwerfung einflößen?

Für mich klingt dies verrückt, doch dies ist für mich nur eine Nebenbemerkung. Meine Absicht ist es, hier ein Licht auf eine Institution zu werfen, an die wenige Leute denken: das Gefängnis.


DER TERRORISTISCHE Angriff am Westminster lässt eine einfache Frage aufkommen: Wie wird ein kleiner Krimineller zu einem Shahid, der die Aufmerksamkeit der Welt auf sich zieht?

Es gibt viele Theorien, viele von ihnen werden von Experten aufgestellt, die bei weitem kompetenter sind als ich. Religiöse Experten. Kulturelle Experten. Islamistische Experten. Kriminologen.

Meine eigene Antwort ist sehr einfach: Das hat das Gefängnis bewirkt.


ENTFERNEN WIR uns von Großbritannien und der Religion so weit wie möglich. Kehren wir nach Israel zurück zu unserer Verbrechens-Szene hier.

Wir hören oft von größeren Verbrechen, die von Leuten begangen wurden, die als jugendliche Straftäter angefangen haben.

Wie wird eine gewöhnliche Person Chef organisierter Verbrechen? Wo hat er studiert? Nun, am selben Ort wie der britische Jihadist. Oder ein israelischer Muslim-Jihadist.

Ein Junge hat zu Hause Ärger. Vielleicht hat sein Vater seine geliebte Mutter regelmäßig geschlagen. Vielleicht ist seine Mutter eine Prostituierte. Vielleicht ist er ein dummer Schüler gewesen und wurde von seinen Kameraden verachtet. Das sind nur einige von Hunderten möglicher Gründe.

Mit 14 wird der Junge beim Stehlen erwischt. Nachdem er von der Polizei verwarnt und freigelassen wurde, stiehlt er wieder. Er wird ins Gefängnis gesteckt. Im Gefängnis nehmen sich die am höchsten geachteten Verbrecher seiner an, vielleicht sogar sexuell. Er wird immer wieder ins Gefängnis gesteckt und allmählich steigt er in der unsichtbaren Gefängnis-Hierarchie auf.

Er wird von seinen Mitgefangenen respektiert, er hat Autorität. Das Gefängnis wird seine Welt, er kennt die Regeln. Er fühlt sich gut.

Als er entlassen wird, wird er wieder ein Niemand. Bewährungshelfer behandeln ihn wie einen Gegenstand. Er sehnt sich danach, in seine Welt zurückzukehren, an den Ort, an dem er bekannt ist und respektiert wird. Er wird nicht ins Gefängnis geschickt, weil er ein Verbrechen begangen hat. Er begeht ein Verbrechen, um wieder ins Gefängnis geschickt zu werden.

Er wird selbst ein Verbrecher-Boss. Als er ins Gefängnis zurückkehrt, behandelt ihn sogar der Oberwärter wie einen alten Bekannten.

Während der Jahre hat das Gefängnis für ihn wie eine Universität gewirkt, eine Universität der Verbrechen. Dort lernt er alle notwendigen Tricks, bis er schließlich Professor im Fach Verbrechen wird.

Der kleine muslimische Dieb, der ins Gefängnis gesperrt wird, trifft dort möglicherweise einen inhaftierten Muslim-Prediger, der ihn davon überzeugt, kein verachteter Krimineller zu sein, sondern einer der wenigen von Allah dazu Erwählten, die Ungläubigen zu vernichten.


ALL DIES ist altbekannt. Ich enthülle nichts Neues. Jeder Häftling, jeder höhere Polizei-Offizier, jeder Gefängnisdirektor oder Psychologe weiß es viel besser als ich.

Wenn das so ist, wie kommt es dann, dass keiner etwas dagegen tut? Warum funktioniert das Gefängnis heute wie vor hundert Jahren?

Ich habe den Verdacht, dass die einfache Antwort folgende ist: Keiner weiß, was stattdessen getan werden muss.

Die Briten hatten einst eine gute Antwort: Sie schickten alle Kriminellen, selbst kleine Diebe, nach Australien. Wenn sie sie nicht vorher schon gehenkt hatten.

Aber in modernen Zeiten gibt es nicht einmal mehr diese Abhilfe. Australien ist jetzt eine starke Nation, die unglückselige Flüchtlinge auf entfernte pazifistische Inseln schickt.

Die Vereinigten Staaten, die mächtigste Weltmacht mit einigen der besten Universitäten, halten Millionen ihrer Bürger in Gefängnissen, wo sie zu abgebrühten Kriminellen werden.

Israels Gefängnisse sind zum Platzen voll mit Inhaftierten, viele von ihnen sind "Terroristen", die ohne Gerichtsverhandlung dort sind. Das wird beschönigend "Vorbeugehaft" genannt - ein Oxymoron, wie es nicht schärfer und dümmer sein könnte.

Wenn man einen Polizei-Offizier über die Logik dieses ganzen Systems befragt, zuckt er mit seinen Schultern und antwortet - die jüdische Art - mit einer anderen Frage: Was kann man sonst mit ihnen tun?

So hat die Gesellschaft Jahr um Jahr, Jahrhunderte um Jahrhunderte seine Kriminellen in die Verbrechens-Universität geschickt. Studium mit Vollpension und Ausgaben, die vom Staat bezahlt werden.

Und natürlich hängt eine riesige Armee von Gefängniswärtern, Polizeibeamten, Experten und Akademiker (mitsamt ihren weiblichen Entsprechungen) hinsichtlich ihres Lebensunterhalts von diesem System ab. Alle sind glücklich.


SELTSAMERWEISE war ich nie im Gefängnis, obwohl ich mehrere Male nahe dran war.

Der Chef von Israels politischer Polizei (Entschuldigung, ich meine "Sicherheitsbehörde") hat einmal dem Ministerpräsidenten vorgeschlagen, mich, ohne die Beteiligung eines Richters, als Auslandsspion in "Vorbeugehaft" zu nehmen. Dies war nur von Menachim Begin, dem Führer der Opposition verhindert worden, der seine Zustimmung verweigerte.

Ein anderes Mal war nach meinem Treffen mit Yassir Arafat während der Belagerung von Beirut, als die Regierung offiziell den Generalstaatsanwalt bat, gegen mich wegen Verrats zu ermitteln. Der Staatsanwalt, eine nette Person, kam zu dem Schluß, ich hätte kein Verbrechen begangen. Ich hatte die Grenze nicht illegal überschritten, denn ich war als Zeitungsherausgeber von der israelischen Armee ins besetzte Ostbeirut eingeladen worden. Es bestand auch kein Verdacht, dass ich die Absicht gehabt hätte, die Staatssicherheit zu gefährden.

Ich habe insofern also keine persönlichen Erfahrung mit dem Gefängnis gemacht. Aber die Absurdität der ganzen Situation hat mich viele Jahre beschäftigt. Ich hielt mehrere Reden darüber in der Knesset.

Vergebens. Keiner weiß eine Alternative.

Meine verstorbene Frau war eine Lehrerin. Sie weigerte sich immer, eine höhere Klasse als die zweite zu nehmen. Sie war davon überzeugt, dass in diesem Alter der Charakter eines menschlichen Wesens schon voll entwickelt ist.

Wenn es so ist, dann sollten alle Bemühungen sich auf dieses sehr frühe Alter konzentrieren.

Ich bin mir sicher, dass irgendwo Experimente mit anderen Lösungen durchgeführt werden. Vielleicht in Skandinavien. Oder auf den Fiji-Inseln.

Wäre es nicht höchste Zeit?



Copyright 2017 by Uri Avnery

(Aus dem Englischen: Ellen Rohlfs, vom Verfasser autorisiert)
Redigiert von der Schattenblick-Redaktion

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Quelle:
Uri Avnery, 01.04.2017
www.uri-avnery.de
Der Schattenblick veröffentlicht diesen Artikel mit der freundlichen
Genehmigung des Autors.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. April 2017

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