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STANDPUNKT/705: Libyen - Öl, Lager und Sklaven (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 21. November 2017
(german-foreign-policy.com)

Öl, Lager und Sklaven


BERLIN/TRIPOLIS - Im Windschatten der EU-Flüchtlingsabwehr breitet sich in Libyen Sklavenhandel mit Migranten aus. Kürzlich publizierte Videoaufnahmen dokumentieren, wie Flüchtlinge aus Nigeria in dem nordafrikanischen Land etwa als "große, starke Jungen für die Feldarbeit" angepriesen und versteigert werden. Von verheerenden Zuständen in libyschen Flüchtlingslagern berichten UN-Mitarbeiter; wie der UN-Menschenrechtskommissar Zeid Raad al Hussein schildert, vegetieren dort "tausende ausgezehrte und traumatisierte Männer, Frauen und Kinder" ohne ausreichend Nahrung dahin, werden bedroht, geschlagen und vergewaltigt. Die von der EU geförderte libysche Küstenwache liefert Migranten, die sie auf Druck Berlins und Brüssels auf dem Mittelmeer aufgreift, in die erwähnten Lager ein. Jenseits der Flüchtlingsabwehr dient Libyen der Bundesrepublik insbesondere als Erdöllieferant. Derzeit tobt ein Streit zwischen dem deutschen Konzern Wintershall und libyschen Stellen: Wintershall will die von diesen geforderten Abgaben auf die Erdölförderung nicht bezahlen.

Sonderbedingungen

Die Auseinandersetzungen zwischen Libyens National Oil Company (NOC) und dem deutschen Wintershall-Konzern dauern schon seit längerer Zeit an. Im Kern geht es dabei um die Frage, zu welchen Konditionen die Kasseler BASF-Tochtergesellschaft in Libyen Erdöl fördern darf. Wintershall beklagt, die NOC fordere Abgaben, die den geltenden vertraglichen Vereinbarungen nicht entsprächen.[1] NOC-Chef Mustafa Sanalla wiederum erklärt, das deutsche Unternehmen bestehe auf Sonderbedingungen, die auf eine Vereinbarung aus dem Jahr 1956 zurückgingen. Damals regierte im Land König Idris al Senussi, der als willfähriger Parteigänger der westlichen Staaten galt. Sanalla erklärt weiter, im Jahr 2010 habe Wintershall, um eine Verlängerung seiner Konzessionen zu erhalten, einem Verzicht auf die Sonderbedingungen und einer Anpassung an finanzielle Verpflichtungen, wie sie für alle anderen in Libyen tätigen Erdölfirmen gälten, zustimmen müssen.[2] Wintershall streitet dies ab. Die Auseinandersetzungen sind bis heute nicht beigelegt. NOC-Chef Sanalla, der in britischen Medien als entschlossener Kämpfer für den Wiederaufbau der libyschen Ölindustrie beschrieben wird [3], hat im Juni erreicht, dass die NOC einen größeren Teil des von Wintershall geförderten Öls in ihre Kassen verkaufen darf. Strittig ist allerdings, ob dieser Teil der libyschen Institution zusteht oder ob Wintershall ihn gewissermaßen als künftig von Libyen zurückzuzahlenden Kredit verbuchen darf.[4]

Proteste

Seit Ende Oktober eskalieren die Auseinandersetzungen erneut. Auslöser waren Proteste in der Oasenstadt Jakharra, die nahe dem von Wintershall ausgebeuteten Erdölfeld Al Sarah liegt. Einwohner der Stadt demonstrierten zunächst vor einem lokalen Wintershall-Büro, weil sie ihre Interessen von dem Konzern nicht berücksichtigt sahen.[5] Ihre Forderung, neue Arbeitsplätze zu schaffen, werde nach wie vor hartnäckig ignoriert, hieß es; zugleich nehme die Verschmutzung der Region durch das Abfackeln von Erdgas zu. Die lokale Bevölkerung ziehe keinerlei Nutzen aus der Anwesenheit der Ölindustrie.[6] Wintershall hat auf die Proteste mit einer Einstellung der Erdölförderung auf dem Al Sarah-Feld reagiert. Dies wiederum führt, wie NOC-Chef Sanalla beklagt, zu Millionenverlusten für den libyschen Staat. Inzwischen fordern örtliche Würdenträger aus Jakharra, Wintershall die Konzession zu entziehen.[7] Zudem verlangen sie Fördermaßnahmen für ihre Stadt und für die Region Cyrenaika, zu der Jakharra gehört. Ihr Protest wird seit einigen Tagen von Honoratioren aus der gesamten Cyrenaika unterstützt; seine Ausweitung inklusive einer Blockade weiterer Ölfelder wird nicht ausgeschlossen.

Ausgepeitscht und geschlagen

Während Wintershall um möglichst profitable Förderbedingungen im kriegszerstörten Libyen kämpft, werden erneut schwere Vorwürfe gegen libysche Helfershelfer der deutsch-europäischen Flüchtlingsabwehr laut - gegen die sogenannte Küstenwache und gegen libysche Lagerbetreiber. Die Vorwürfe gegen die Küstenwache beziehen sich aktuell vor allem auf eine Tragödie, die sich am 6. November rund 30 Seemeilen nördlich von Tripolis ereignete, als sich ein Schiff der Hilfsorganisation Sea Watch einem in Seenot geratenen Flüchtlingsboot näherte. Im erkennbaren Bemühen, dem Rettungsschiff zuvorzukommen, eilte ein Küstenwachschiff herbei, wobei es das Flüchtlingsboot beinahe überfuhr. Sea Watch hat mit Fotos und Videos dokumentiert, wie Küstenwächter Flüchtlinge, die sich an Bord retten konnten, auspeitschten und schlugen; einige wurden dadurch wieder von Bord getrieben. Ihr mitgeführtes Rettungsboot, mit dem ins Meer gefallene Flüchtlinge hätten aufgenommen werden können, setzten die Küstenwächter nicht ein; Sea Watch-Rettungsboote bewarfen sie mit Kartoffeln.[8] Laut Sea Watch ertranken aufgrund des gewalttätigen Vorgehens der Küstenwache nachweislich fünf Flüchtlinge. Polizeiberichten zufolge kamen mutmaßlich sogar bis zu 50 Menschen zu Tode.[9] Wenige Tage nach Bekanntwerden der Tragödie hieß es bei Diplomaten in Brüssel, die EU werde ihre Unterstützung für die libysche Küstenwache in Zukunft ausweiten.[10] Außenminister Sigmar Gabriel erklärte am vergangenen Mittwoch wörtlich, dazu gebe es "keine Alternative".[11]

Unvorstellbare Schrecken

Schwere Vorwürfe werden zum wiederholten Male auch gegen libysche Lagerbetreiber laut. In deren Lagern werden Flüchtlinge festgehalten, die entweder noch an Land von libyschen Milizen oder auf See von der Küstenwache aufgegriffen werden. Dies geschieht in voller Kenntnis Berlins und der EU, die zudem darauf dringen, möglichst viele Flüchtlinge durch die Küstenwache nach Libyen zurückbringen oder sie gar nicht erst in See stechen zu lassen. Dazu haben EU-Staaten zumindest zeitweise auch mit berüchtigten libyschen Milizen kooperiert (german-foreign-policy.com berichtete [12]). Nach Angaben libyscher Stellen ist die Anzahl der Flüchtlinge, die in Lagern festgehalten werden, von 7.000 im September auf 19.900 Anfang November in die Höhe geschnellt. Nach einem Besuch von UN-Mitarbeitern in insgesamt vier Internierungslagern für Flüchtlinge in Tripolis berichtete UN-Menschenrechtskommissar Zeid Raad al Hussein, dort seien "tausende ausgezehrte und traumatisierte Männer, Frauen und Kinder übereinandergestapelt" gewesen, "in Hangars ohne Zugang zu lebensnotwendigen Dingen eingeschlossen"; sie müssten über Monate ohne Dusche, ohne genug Nahrung überleben, sie würden bedroht, geschlagen und vergewaltigt.[13] Ihr Leiden sei ein "Frevel gegen das Gewissen der Menschheit". Dabei hätten die "zunehmenden Interventionen der EU und ihrer Mitgliedstaaten" nicht nur "nichts getan", um die katastrophale Lage der Migranten zu verbessern - im Gegenteil: Deren Lebenssituation lasse sogar "eine schnelle Verschlechterung" erkennen. "Die internationale Gemeinschaft", fordert Hussein, "kann die unvorstellbaren Schrecken nicht einfach ignorieren, die Migranten in Libyen erleiden".

Menschenhändler

Weit davon entfernt, Konsequenzen zu ziehen, setzen Berlin und Brüssel ihren Kurs ungerührt fort. Daran ändern auch jüngste Berichte nichts, denen zufolge Flüchtlinge in Libyen mittlerweile auf Sklavenmärkten feilgeboten werden. Letzte Woche sind Videoaufnahmen veröffentlicht worden, die zeigen, wie Nigerianer in Libyen verkauft werden - angepriesen beispielsweise als "Feldarbeiter", als "große, starke Jungen für die Landwirtschaft", versteigert an den Meistbietenden "für 500, 550, 600, 650", letztlich für 1.200 libysche Dinar - ungefähr 800 US-Dollar.[14] Anschließend übergeben die Sklavenhändler die soeben verkauften Flüchtlinge umstandslos an ihre neuen "Besitzer". Selbst wenn sie entkommen können, wird ihre Chance zur Flucht aus Libyen täglich geringer - dank der Flüchtlingsabwehr Berlins und der EU.



Mehr zum Thema:
Europäische Werte
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7337/
Europäische Werte (II) und
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/5906/
Europas Hilfspolizisten
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7415/


Anmerkungen:

[1] Simon Book: Tochter Wintershall macht Milliarden-Zugeständnis in Libyen. wiwo.de 11.08.2017.

[2] NOC cuts short-term deal with Wintershall as contractual dispute talks continue. libyaherald.com 13.06.2017.

[3] Anjli Raval: Libya's oil guardian coaxes ravaged industry into recovery. ft.com 13.11.2017.

[4] Simon Book: Tochter Wintershall macht Milliarden-Zugeständnis in Libyen. wiwo.de 11.08.2017.

[5] Jikharra protesters demand jobs and development projects. libyaobserver.ly 29.10.2017.

[6], [7] Eastern community leaders threaten to block oil production and exports. libyaherald.com 17.11.2017.

[8] Fotos und Videos sind auf sea-watch.org dokumentiert.

[9] Christian Jakob: Nicht 5, sondern 50 Tote. taz.de 10.11.2017.

[10] Christoph B. Schiltz: EU will Ausbildung der libyschen Küstenwache ausweiten. welt.de 12.11.2017.

[11] Unterstützung der libyschen Küstenwache. handelsblatt.com 15.11.2017.

[12] S. dazu Europas Hilfspolizisten.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/7415/

[13] UN human rights chief: Suffering of migrants in Libya outrage to conscience of humanity. ohchr.org 14.11.2017.

[14] Nima Elbagir, Raja Razek, Alex Platt, Bryony Jones: People for sale. edition.cnn.com 14.11.2017.

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. November 2017

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