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STANDPUNKT/828: Welche Sicherheit brauchen wir? (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2018

UnSicherheit
Welche Sicherheit brauchen wir?

von Thomas Meyer


Die letzte große Botschaft, die der bedeutende New Yorker Historiker Tony Judt der verunsicherten Sozialdemokratie Europas kurz vor seinem frühen Tod 2010 übermittelte, war die leidenschaftliche Erinnerung daran, dass sie und ihre Leitideen im 21. Jahrhundert auf neue Weise historisch herausgefordert seien. Die soeben beginnende Epoche sei ein "Zeitalter der Unsicherheit". Falls es nicht gelänge, dieser überzeugend Herr zu werden, drohe der Rückfall in inhumane, autoritäre oder gar totalitäre Zustände. Er hatte recht, Unsicherheit ist zum allgemeinen Lebensgefühl geworden, die Meinungsumfragen bestätigen es Mal um Mal und die autoritären Brandstifter mit ihrem falschen Sicherheitsversprechen stehen überall bereit, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Wahr ist freilich auch, wirklich sichere Zeiten hat es in der Menschheitsgeschichte nie gegeben. Aber heute prallen erhöhte Erwartungen mit drastisch gestiegenen, oft existenziellen Risiken zusammen, von denen die meisten im Prinzip vermeidbar wären. Darin liegt die besondere Brisanz dieser Epoche. Die Unsicherheitstoleranz ist geschwunden und der Fortschritt ist am Beginn des 21. Jahrhunderts aus einem säkularen Heilsversprechen zu einem Synonym ängstigender Verunsicherung auf ganzer Linie geworden.

Ist denn aber Sicherheit in der Gegenwartswelt, die überall voller alter und neuer Risiken steckt, überhaupt noch erreichbar? Oder jagt die Sehnsucht nach ihr in Wahrheit einem trügerischen Leitbild nach, das die Gefahr womöglich nur noch steigert? Worum kann es heute wirklich gehen, welche Sicherheiten sind machbar und mit welchen Unsicherheiten müssen wir zu leben lernen? Beides geht in der politischen Debatte zumeist oft arg durcheinander - keineswegs immer ohne politische Absicht.

Der deutsche Begriff "Sicherheit" verdeckt eine Welt von Unterschieden, um die es in der Sache eigentlich geht. Die englische Sprache unterscheidet die Unsicherheiten, die das moderne Leben prägen, präziser durch die Verwendung getrennter Begriffe. Die prinzipielle "Ungewissheit" der Erkenntnis, die wir zur Orientierung im Leben brauchen, nennt sie uncertainty, die Unsicherheit der physischen Existenz in wechselnden Situationen des Risikos unsafety und die soziale Ungesichertheit insecurity. Das klärt die Lage, denn diese Unsicherheiten haben einen höchst unterschiedlichen existenziellen Status und entspringen ganz verschiedenen Quellen. Und vor allem: Sie sind nicht gleichermaßen Schicksal. Hängen sie miteinander zusammen? Und wie? Die Sicherheit von Erkenntnis und Wissen als Grundlage unseres Welt- und Selbstverständnisses ist auf dem langen Weg der Moderne über Immanuel Kant bis zur gegenwärtigen Wissenschaftstheorie gänzlich außer Reichweite gerückt. Alles was wir seither erwarten dürfen, sind nur noch mehr oder weniger gut gestützte Vermutungen, aber keinerlei absolute Gewissheiten mehr. Die Wissenschaft konnte entgegen den Erwartungen der Aufklärung (und der frühen Sozialdemokratie) die Religion als Gewissheitslieferant nicht beerben. Sicher ist nur noch die bleibende Ungewissheit. Wir können sie durch private Gewissheiten des Glaubens und praktikable Orientierungen der Lebensführung eingrenzen, aber immer nur auf eigene Rechnung.

Mit der verbleibenden Unsicherheit müssen wir zu leben lernen: Kein Thema für die Politik? Leider in verquerer Weise eben doch, nämlich in der liberalistischen Fangfrage, ob nicht im Ertragen von Ungewissheit und Unsicherheit das Wesen der Freiheit selbst bestehe, und folglich das ganze moderne Sicherheitsstreben nur in die Irre führt, einschließlich seiner sozialen Ansprüche. In Wahrheit jedoch besteht eine der großen Lehren des 20. Jahrhunderts darin, dass Freiheit Unsicherheit nur sehr begrenzt und nur in spezieller Hinsicht verträgt. Ein Staat, der uns die Verunsicherung des Wissens durch eigene Verfügungen nehmen wollte, löscht die Freiheit aus. Die Alltagsrisiken für Gesundheit und Leben hingegen, die persönliche Unsicherheit schaffen, können deutlich verringert und in ihren Folgen zumeist gemildert, wenn auch niemals gänzlich beherrscht werden - Bedingungen der Freiheit sind sie aber nicht, im Gegenteil. Natürlich kann der Sozialstaat die Risiken der Ungewissheit nicht überwinden und der Rechtsstaat die Risiken für Leib und Leben nicht ganz aus der Welt schaffen, die Vergehen und Verbrechen bewirken. Der Rechtsstaat kann aber, wo er gut funktioniert, die persönliche Sicherheit (safety )wesentlich erhöhen und der Sozialstaat ist dafür da, die existenzielle Unsicherheit (insecurity) zu beseitigen. Bei beiden handelt es sich um elementare politische Aufgaben, deren Erfüllung Freiheit schafft.

Damit die unvermeidlichen Unsicherheiten des Lebens und die untilgbaren Ungewissheiten der Moderne für die Menschen erträglich werden, müssen die beeinflussbaren persönlichen Unsicherheiten begrenzt und die sozialen Risiken im Zaum gehalten werden. Davon hängen der Zusammenhalt freier und demokratischer Gesellschaften und die Wahrung eines zivilisierten, friedlichen Gesellschaftslebens ab. Die Gewährleistung einer Lebenskultur der Zivilität verlangt von der Politik in unserer Zeit die unbedingte Verteidigung zweier "Bollwerke" gegen das Abgleiten der modernen Gesellschaft in diffuse Unsicherheitsängste und frei flottierende Aggression. Denn ein fahrlässig entfachter Naturzustand immerwährender Verunsicherung droht, wenn die gemeinsamen Lebenswelten zerbrechen und die sozialen Lebensrisiken reprivatisiert werden, frei nach dem libertären Motto "Jeder für sich". Solche Verhältnisse sind für Menschen nicht lebbar. Sie produzieren Anomie und Apathie oder Fundamentalismus und Revolte, derweil die zahlungskräftige Créme da la Créme der Gesellschaft sich in Parallelwelten gekaufter Teil-Sicherheiten verschanzt.

Das Bürgerrecht auf eine Grundsicherung, die die soziale Teilhabe des Einzelnen unter allen Umständen gewährleistet, ist das eine der genannten Bollwerke. Eine Kultur der Anerkennung, die die faire Teilhabe aller, einschließlich der kulturellen Minderheiten an Arbeit, Bildung und Demokratie einschließt, das andere. In verlässlichen Sozialbeziehungen ist auch unter modernen Lebensbedingungen ein Maß an sozialer Sicherheit möglich, das die modernen Ungewissheiten in den letzen Fragen der Lebensorientierung handhabbar macht. Die Unsicherheiten für die körperliche Integrität werden erträglicher, wo sie im Wesentlichen auf die gut versorgten Wechselfälle der Gesundheit beschränkt und für alle durch das soziale Recht auf umfassende Heilbehandlung verringert werden. Gegen Risiken des Unglücks in den privaten Dingen des Lebens hilft außer Lebensklugheit und dem Beistand von Familie und Freunden vor allem auch gesellschaftliche Solidarität, das Bewusstsein der Menschen, in der Zuwendung und Hilfsbereitschaft vieler Mitmenschen aufgehoben zu sein. Sie schafft Sicherheit, gefühlt und real und sollte daher zu einem Schlüsselthema im Zeitalter der Unsicherheit werden.


Thomas Meyer
ist emeritierter Professor für Politikwissenschaften an der Universität Dortmund und Chefredakteur der NG/FH. 2015 erschien in der edition Suhrkamp: Die Unbelangbaren: Wie politische Journalisten mitregieren.

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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 12/2018, S. 31 - 33
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Januar 2019

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