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STANDPUNKT/971: 30 Jahre Einheit! - 30 Jahre schwache Hoffnungen! (Pressenza)


Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin

30 Jahre Einheit! - 30 Jahre schwache Hoffnungen!

Von Günter Buhlke, 18. Juni 2020


... und was hat uns der Kanzler der CDU 1990 nicht alles versprochen. Es kam jedoch nichts. Dann kündete eine CDU-Kanzlerin seit 16 Jahren vor Wahlterminen zum Bundestages "kein Weiter so!" an, ohne das spürbare Änderungen eintraten.

Statt blühende Landschaften, droht das Klima mit Katastrophen. Es sterben die Arten aus. In der europäischen Sozialstatistik ist Deutschland während dieser Zeitspanne auf schlechten Plätzen gelandet und hat sich einen Billiglohnsektor zugelegt. Die junge Generation wurde zu Freelancern, ohne wirksame Arbeitsrechte und mit schlechten Rentenanwartschaften. Hartz IV ist ihre letzte Station.

Meine Arbeitsstelle in der Staatlichen Plankommission (SPK) der DDR, im Bereich Länderplanung Entwicklungsländer, wurde nicht mehr gebraucht. Das entschied die Regierung der DDR, die seit März 1990 durch Wahlmehrheiten unter einer Koalition mit Namen Allianz für Deutschland in ihr Amt gekommen ist.

Mit Blick auf den von Herrn Kohl versprochenen Staatsvertrag über eine Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion hatten die Entlassungsnormen bereits einen westdeutschen Zuschnitt. Herr Modrow hatte zu diesem Zeitpunkt zunächst eine Vertragsgemeinschaft vorgeschlagen und eine Einheit zeitlich später gelegt.

Die 6 Monate April bis September waren Wochen ohne eindeutige gesetzliche Regeln. Die letzte DDR-Regierung de Maizière handelte im Zweifelsfall stets so, als sei das Ostgebiet schon ein westdeutsches Bundesland. Zur Erinnerung: Der Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion galt erst ab 1. Juli 1990 und der Staatsvertrag über die Einheit wurde erst am 3.10.1990 wirksam.

Die Einarbeitung in meine Aufgaben begann mit einem lehrreichen Aha-Erlebnis. Der Ausschuss wurde von Christa Luft (PDS) geleitet. Dass der wichtige Ausschuss nach den Statuten des Parlaments von der Opposition geleitet wird, war mir neu. Es stellte sich aber als eine Feigenblattkonstruktion heraus. Beschlüsse des hohen Hauses wurden erst nach zählbaren Mehrheiten gültig, auch in den Ausschüssen und unabhängig davon, welche Partei den Ausschuss leitete. Die Qualität eines Gesetzes ist zum Zeitpunkt seiner Annahme kein Kriterium. Gesetze benötigen nur in Zahlen ausdrückbare Mehrheiten. Der Wille des Fraktionsvorstandes der Mehrheitspartei und ein Fraktionszwang reichen.

In den Arbeitsmonaten Juni, Juli, August bestanden die Aufgaben des Haushaltsausschusses nicht etwa darin, Gesetzesregeln oder Novellierungen zu finden, die der notleidenden DDR-Wirtschaft bessere Rahmenbedingungen hätten verschaffen können. Sie waren darauf gerichtet, Gesetze der BRD in das Rechtssystem der DDR zu überführen, obwohl es noch keine Staatsverträge über ein einheitliches Deutschland gab.

Ein nächstes Aha-Erlebnis war die große Anzahl der Interessenvertreter der Altbundesländer im Vorraum unseres Sitzungssaales. Jeder Gang, um eine Akte zu holen, oder zum Waschraum zu gehen, wurde von den Herren genutzt, um ihre Vorstellungen zu den Beratungspunkten zu äußern. Sie waren bestens informiert, was am Tage im Ausschuss gerade behandelt wurde. Wie das in einem Rechtsstaat?

Ein weiterer Schwerpunkt des von der Parlamentsspitze bzw. der Regierung vorgesehenen Arbeitsplanes war das Gesetz über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion mit seinen Regelungen zum Umtausch der Mark der DDR zur DM der BRD, sowie den verpflichtenden DM-Eröffnungsbilanzen. Das Gesetz kam einem Todesurteil für die Wirtschaft der DDR-Betriebe gleich, deren Betriebswirtschaften und Finanzierungsregeln nach sozialen Prinzipien aufgebaut waren. Beispielsweise erhielten Genossenschaften von der DDR-Bank für einfache Betriebsmittel Zuweisungen. Nur echte Investitionsmittel waren rückzahlbare Kredite. Nach der Wende stuften Westberliner Banken, die nun die Konten der Genossenschaft führten, alles als Kredit ein. So entstanden Altschulden, die weiterhin die Genossenschaften belasten.

Details des Staatsvertrages wurden im Haushaltsausschuss nicht behandelt oder entschieden.

Das gleiche Prozedere lief für die Behandlung des Gesetzes zur Deutschen Einheit ab. Er erhielt Wirksamkeit ab 3.10.1990.

Das Prinzip "Stimmenmehrheit geht vor qualitativen Erörterungen in den Ausschüssen" sorgte dafür, dass Vorschläge aus den Minderheitsparteien keine Berücksichtigungen in Gesetzen finden. Mit der Festlegung beider Ministerpräsidenten "Privatisierung geht vor Sanierung" und der Gesetzeslage nach der Währungsunion hätten Rettungsschirme für die DDR-Betriebe auch nicht mehr geholfen. Immerhin hatte die PDS-Fraktion dem Präsidium der Volkskammer vorgeschlagen, der DDR-Wirtschaft ähnliche Übergangsfristen einzuräumen, wie sie einst dem Saarland zugebilligt wurden, als es nach einer Wahl von Frankreich zu Deutschland kam. Der Vorschlag wurde abgelehnt. Der Wille der mächtigeren Oberen aus Bonn, die DDR in ihr System einzupassen, war von der Volkskammer nicht veränderbar. Grünes Licht aus Moskau lag nach Verhandlungen zwischen Kohl und Gorbatschow vor.

Die praktische Folge des ersten Staatsvertrages zur Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion war ein rasanter Anstieg der Arbeitslosigkeiten im Ex-DDR-Gebiet ab Oktober 1990 in den Verwaltungen, Universitäten u.v.a. Institutionen der DDR, auch in der Volkskammer.

Ein drittes Aha-Erlebnis, wie es mental in einer Wende so geht, stellte sich schnell ein. Mit Kühnheit, gelegentlich mit Fakes News kehrten die westlichen Politiker und Medien die Ursachen des sozialen und wirtschaftlichen Misere der Wendezeit einfach um und schoben alles auf die "marode DDR mit ihrer Mangelwirtschaft, dem Unrechtssystem, der Stasi". Natürlich gab es in der DDR-Wirtschaft und in der Versorgung Probleme. Wo gibt es die nicht? Erfolgreiche Kombinatsdirektoren, kompetente Akademiker, eine funktionierende Bildungs- und Gesundheitsversorgung, internationale Patente der DDR-Ingenieure kamen in den Medien nicht mehr vor. Die Bevölkerung erwies sich in Teilen als verführbar und sollte mit Versprechungen auf blühende Landschaften beruhigt werden. Sprüche, dass jeder eine Chance hätte, wurden geklopft.

Bürgerrechtler stellten gutgemeinte Forderungen, das Volkseigentum mit Anteilsscheinen dem Volk zu übergeben. Die Anteile wären nach den Entlassungswellen schnell zur Beute der Kapitalbesitzer geworden, wie es die Beispiele aus der Ukraine, Russland belegen. Ein Makro-ökonomisches Modell funktioniert nicht mit Anteilsscheinen.

Als Einzelner ist jeder, je nach Thema, oft von der Wahrheit entfernt, um Fragen richtig zu beantworten. Sie erschließt sich erst im Dialog mit anderen, beim Debattieren der Dinge.

Der Gedankenaustausch zwischen Oben und Unten aber wurde und wird auch in der Gegenwart nicht ausreichend gepflegt. Die Sprache von oben verschleiert oft mehr, als das sie Orientierung bringt. Beispielsweise verspricht der Titel des Hartz-IV-Gesetzes viel Gutes. Das Marketing für des Kaisers neue Kleider feiert Auferstehung.

Die Hoffnung bleibt, dass sich eine humanere Gesellschaft in Zukunft formiert. Die nächste Bundestagswahl ermöglicht einen ersten Schritt Mehrheiten zu verändern. Ohne einen zweiten oder dritten aus dem Blick zu verlieren. Anders sind nachhaltige Veränderung nicht erreichbar.


Der Text steht unter der Lizenz Creative Commons 4.0
http://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

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Quelle:
Internationale Presseagentur Pressenza - Büro Berlin
Reto Thumiger
E-Mail: redaktion.berlin@pressenza.com
Internet: www.pressenza.com/de


veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Juni 2020

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