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STANDPUNKT/1003: Vor der Zerreißprobe (german-foreign-policy.com)


Informationen zur Deutschen Außenpolitik - 15. Juli 2022
german-foreign-policy.com

Vor der Zerreißprobe

Militärs und Wissenschaftler fordern, den Ukraine-Krieg zur Schwächung Russlands zu nutzen - trotz drohender Verelendung breiter Gesellschaftsschichten bei Erdgaslieferstopp.


BERLIN/WASHINGTON - Deutsche Militärs und Wissenschaftler sprechen sich gegen eine Verhandlungslösung im Ukraine-Krieg, für weitere Hochrüstung gegen Russland und China sowie für die Vorbereitung auf dramatischen Erdgasmangel aus. Mit Blick auf die schweren Verluste der russischen Streitkräfte im Krieg heißt es in einem aktuellen Aufruf: "Die derzeitige russische Schwäche bietet der westlichen Politik Optionen, die auszulassen ... fahrlässig wäre." Die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine und die verstärkte Militarisierung der NATO-Ostflanke sollen den militärischen Druck auf Russland weiter erhöhen. Der Aufruf geht mit verstärkten Vorbereitungen auf einen möglichen Stopp russischer Erdgaslieferungen nach Europa einher. Sollte es dazu kommen, wäre nach einer Analyse der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) mit dem Verlust von gut einem Achtel der deutschen Wirtschaftsleistung zu rechnen; über fünf Millionen Arbeitsplätze gerieten in Gefahr. Während Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck eine "Zerreißprobe" für die deutsche Gesellschaft prognostiziert, fordern erste US-Experten, die Sanktionen wegen ihrer schweren Schäden für Europa zurückzudrehen.

Ein Achtel der Wirtschaftsleistung

Zu den Perspektiven, mit denen Deutschland konfrontiert wäre, sollte Russland tatsächlich kein Erdgas mehr in die EU liefern, sind in den vergangenen Tagen mehrere Untersuchungen vorgelegt worden. Die Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw) etwa hat Ende Juni eine Studie präsentiert, die die Folgen eines sofortigen russischen Exportstopps abzuschätzen sucht.[1] Unter der Voraussetzung, dass gesetzlich geschützte Kunden, darunter vor allem Privathaushalte, tatsächlich vorrangig beliefert werden, ist mit dramatischen Einbrüchen in zentralen Branchen zu rechnen, die bis zu 50 Prozent (Stahl, Glas) oder immerhin 30 Prozent ihrer Wertschöpfung (Nahrungsmittel, Chemie, Druck) verlieren würden. Der Studie zufolge strahlen die Folgen bis in den Dienstleistungssektor und in die Landwirtschaft aus; mit dem Verlust von rund einem Achtel der deutschen Wirtschaftsleistung wäre zu rechnen. Betroffen wären 5,6 Millionen Arbeitsplätze. Eine gestern vom Akademienprojekt Energiesysteme der Zukunft (ESYS) publizierte Analyse weist darauf hin, dass sich der Erdgasmangel nicht kurzfristig beheben lässt - auch dann nicht, wenn es gelingen sollte, beliebig viel Flüssiggas zu kaufen: Die Infrastruktur, um es zu verteilen - Importterminals, Pipelines -, fehlt.[2]

Vor der Zerreißprobe

Längst stimmen Bundesregierung und staatliche Institutionen die Bevölkerung auf zwei Jahre dramatischen Mangels ein. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck kündigt an, den gesetzlich verankerten Schutz für Privathaushalte zugunsten der Gasversorgung der Industrie aufbrechen zu wollen: Die Bevölkerung müsse künftig "ihren Anteil leisten", äußerte Habeck am Dienstag.[3] Erste Kommunen bereiten "Wärmehallen" vor, in denen verarmte Bürger sich im Herbst und im Winter aufwärmen können sollen. Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur, bestätigt, die Abschläge für die Heizkostenabrechnung, die sich schon jetzt verdoppelten, würden sich ab 2023 verdreifachen - "mindestens".[4] Man müsse davon ausgehen, dass sich die Lage im Winter 2023/24 gegenüber der Lage im Winter 2022/23 noch einmal erheblich verschlechtere. Auch wenn sich die Versorgung ab dem Sommer 2024 tatsächlich verbessern sollte, ist - darauf weist das ESYS-Akademieprojekt hin - langfristig mit deutlich höheren Energiepreisen zu rechnen.[5] Habeck urteilt mit Blick auf künftige Lücken in der Erdgasversorgung und die sich abzeichnende Verelendung größerer Teile der Bevölkerung: "Das wird Deutschland vor eine Zerreißprobe stellen". Die Lage werde die "gesellschaftliche Solidarität bis an die Grenze" strapazieren - "und wahrscheinlich darüber hinaus".[6]

"Der Winter kommt"

Im Hinblick auf die sich abzeichnende dramatische Entwicklung in Deutschland und in der EU warnen mittlerweile sogar US-amerikanische Befürworter eines prinzipiell mit allen Mitteln zu führenden, erbitterten Machtkampfs gegen Moskau, die westlichen Sanktionsorgien drohten nicht Russland, sondern stattdessen Europa zu ruinieren. Es sei inzwischen "klar, dass der Wirtschaftskrieg gegen Russland auch nicht annähernd so gut" funktioniere, wie man vermutet habe, urteilte in der vergangenen Woche der einflussreiche US-Publizist Fareed Zakaria. Während Moskau seine Gewinne aus dem Export von Öl und Gas jüngst gesteigert habe [7], stehe Europa vor der "schlimmsten Energiekrise seit 50 Jahren" [8]. "Der Winter kommt", warnte Zakaria; "Wohnungen in Europa" könnten vermutlich nicht mehr angemessen beheizt werden: "Die Zeit arbeitet nicht für uns." Die Regierungen im Westen müssten "erkennen, dass Wirtschaftssanktionen schlicht nicht in einem Zeitrahmen wirken, der Sinn ergibt". Zwar solle man die Verfügbarkeit von Energie weltweit so umfassend wie irgend möglich steigern. Gleichzeitig gelte es aber, "diejenigen Sanktionen zurückzudrehen, die eindeutig dem Westen größere Schmerzen zufügen als Russland". Zakaria ordnet diesen Sanktionen ganz besonders diejenigen gegen die Einfuhr von Energieträgern aus Russland zu.

Russlands Schwäche als Chance

Auch in Deutschland werden mittlerweile Stimmen laut, die Sanktionspolitik einzustellen und im Ukraine-Krieg insgesamt eine Verhandlungslösung anzustreben. Dagegen haben sich am gestrigen Donnerstag eine Reihe von Militärs und Wissenschaftlern - insbesondere solche an den Hochschulen der Bundeswehr - in einem umfangreichen Aufruf in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung positioniert. Die Unterzeichner des Textes lehnen ausdrücklich eine Verhandlungslösung ab. Sie sprechen sich stattdessen für eine umfassende ökonomische und - auf dem Weg über die weitere Hochrüstung der Ukraine - militärische Offensive gegen Russland aus. Mit Blick darauf, dass Moskau ein schneller Erfolg in der Ukraine nicht gelungen ist, heißt es in dem Text: "Die derzeitige russische Schwäche bietet der westlichen Politik Optionen, die auszulassen ... fahrlässig wäre."[9] So werde "die enorme Abnutzung der russischen Berufsarmee ... erst nach einigen Jahren wieder behoben sein". Den Prozess könne man "durch die strikte Aufrechterhaltung westlicher Sanktionen verlangsam[en]". Das gelte ganz besonders für sämtliche "Exporte von Technologien und Materialien, die für die Rüstungsindustrie Russlands bedeutsam sind". Sie müssten um jeden Preis verhindert werden.

"Zwei sehr schwierige Jahre"

Mit Blick darauf, dass Moskau unter diesen Umständen möglicherweise die Lieferung von Erdgas nach Europa einstellt, heißt es in dem Aufruf weiter, "die westlichen Regierungen" müssten sich "auf die Folgen der zu erwartenden Knappheit bei Erdgas einstellen und rechtzeitig die wirtschaftlichen und sozialen Folgen abmildern".[10] Die Unterzeichner des Textes räumen ganz offen ein, "die nächsten zwei Jahre" würden "sehr schwierig werden". Sie plädieren dafür, allem künftigen Mangel mit der Politik eines neuen Burgfriedens entgegenzuwirken: Es bedürfe "einer politischen Einstimmung" auf die gesellschaftlichen Verwerfungen "und einer konzertierten Aktion aller relevanten gesellschaftlichen und politischen Kräfte, die hilft, durch die Krise zu kommen". Neben den Sanktionen sprechen sich die Unterzeichner dafür aus, die Bundeswehr dramatisch aufzurüsten und ihr "eine führende Rolle" bei der geplanten Militarisierung der NATO-Ostflanke zu übertragen.[11] Dass "Europa" in Zukunft "einen größeren Anteil an der Abschreckung russischer Militärmacht" übernehme, sei nötig, weil "die USA zunehmend im indopazifischen Raum gefragt" seien - im sich schnell zuspitzenden globalen Machtkampf des Westens gegen China.


Anmerkungen:

[1] Folgen einer Lieferunterbrechung von russischem Gas für die deutsche Industrie. Eine vbw Studie, erstellt von Prognos. München, Juni 2022.

[2] Wissenschaftsakademien zeigen Folgen eines Wegfalls russischer Energieimporte auf. Informationsdienst Wissenschaft (idw), Pressemitteilung vom 14. Juli 2022.

[3] Maria Fiedler, Julius Betschka, Jakob Schlandt, Thorsten Mumme: Habeck stellt Schutz von privaten Haushalten infrage - und bekommt Gegenwind. tagesspiegel.de 12.07.2022.

[4] "Gaskunden müssen sich auf eine Verdreifachung der Abschläge einstellen - mindestens". rnd.de 13.07.2022.

[5] Wissenschaftsakademien zeigen Folgen eines Wegfalls russischer Energieimporte auf. Informationsdienst Wissenschaft (idw), Pressemitteilung vom 14. Juli 2022.

[6] Jörg Münchenberg: "Das wird Deutschland vor eine Zerreißprobe stellen". deutschlandfunk.de 10.07.2022.

[7] S. dazu Scheiternde Sanktionen.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8962

[8] Fareed Zakaria: The West's Ukraine strategy is in danger of failing. washingtonpost.com 07.07.2022.

[9], [10] Putins Politik nicht belohnen. Frankfurter Allgemeine Zeitung 14.07.2022. Zu den Unterzeichnern gehören Generalleutnant a.D. Heinrich Brauß sowie Wissenschaftler unter anderem vom Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (Joachim Krause, Sebastian Bruns), von der Universität Potsdam (Sönke Neitzel) und von den Universitäten der Bundeswehr in München und Hamburg (Carlo Masala, Burkhard Meißner).

[11] S. dazu Kampfbrigaden statt Battlegroups
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8950
und Die Gipfelbilanz.
https://www.german-foreign-policy.com/news/detail/8966

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Quelle:
www.german-foreign-policy.com
Informationen zur Deutschen Außenpolitik
E-Mail: info@german-foreign-policy.com

veröffentlicht in der Online-Ausgabe des Schattenblick am 19. Juli 2022

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