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LAIRE/1372: Corona - die Pandemie spitzt sich zu ... (SB)



Hinter dem oberflächlichen Merkmal, daß die Coronaviruspandemie einige wenige Krisengewinner hervorgebracht hat, deren Reichtum in kurzer Zeit drastisch anschwoll, und umgekehrt weltweit Hunderte Millionen, wenn nicht Milliarden Menschen im Begriff sind, in tiefe Armut zu stürzen, vollzieht die Vergesellschaftung des Menschen zur Zeit eine geradezu sprunghafte Weiterentwicklung. Aus dem durchaus berechtigten Anlaß, die sich zuspitzende Pandemie eindämmen zu müssen, um einen steilen Anstieg der Sterberate zu verhindern, werden schon vor Jahren offen aufgebrochene Widersprüche der vorherrschenden Produktionsverhältnisse in Fortschritte der Verfügungsgewalt umgemünzt.

Zwischen dem 18. März und 10. April 2020, also inmitten der Coronaviruspandemie, hat das Vermögen der reichsten Milliardäre der USA um 282 Milliarden Dollar zugenommen. Der größte Profiteur der Krise dürfte Amazon-Chef Jeff Bezos gewesen sein. Dessen Vermögen stieg zwischen dem 1. Januar und 15. April 2020 um 25 Mrd. Dollar. [1] Auf der anderen Seite haben in den USA innerhalb eines Monats 26 Millionen Menschen einen Erstantrag auf Arbeitslosenhilfe gestellt. [2]

Doch all der Reichtum wäre nichts wert, wenn seine Gültigkeit nicht durch staatliche Gewaltmittel gesichert würde. Mit ihnen steht der Staat für das Versprechen ein, daß das Geld in Waren oder Dienstleistungen getauscht werden kann. Der Reichtum des milliardenschweren Amazon-Chefs besteht somit darin, daß er viele Menschen dazu bringen kann, etwas für ihn zu tun - beispielsweise als Dienstleistung oder als Arbeitskraft, so daß er weiter Geschäfte machen, Profite einfahren und noch mehr Reichtum anhäufen kann. Der Staat, nicht der Konzern sichert die vorherrschende Eigentumsordnung.

Die Coronaviruspandemie bringt jedoch gesellschaftliche Veränderungen von weitreichenderen Konsequenzen mit sich, als daß Superreiche noch reicher werden und umgekehrt immer mehr Menschen in Armut fallen oder so dicht am Rande zur Armut stehen, daß sie ständig in der Angst leben, beim kleinsten Anstoß abzurutschen. Die administrative Verfügungsgewalt qualifiziert sich weiter, und das Gefüge aus Reichtum und Armut könnte irgendwann sogar obsolet werden. Der Überwindung würde jedoch keine Entlastung vom Druck folgen, sondern dessen Verfeinerung und Erhöhung, um die sprichwörtlich unterdrückten Menschen unumstößlicher denn je verfügbar zu machen.

Einen Hebel hierbei bilden Schuld und Verschuldung. Sie haben weltweit gewaltig zugenommen. Auch Schulden sind fiktiv, sie könnten mit einem Federstrich beseitigt werden. Doch das werden sie nicht, denn wenn alle Menschen so hoch verschuldet sind, daß sie ihr Leben lang arbeiten müssen, um sie zurückzuzahlen, hat man diese Menschen am Band. Sie geraten zu modernen Arbeitssklaven. Das ist gewiß keine neue Entwicklung, aber der Druck wird sich auf jede und jeden einzelnen massiv erhöhen, für den exorbitanten Schuldenabtrag zu arbeiten, der ihnen gegenwärtig von ihren Regierungen zwecks Ankurbelung der Real- und Finanzwirtschaft aufgehalst wird.

Weder Konzerne noch das Finanzkapital werden als alleinige Gewinner aus der globalen Krise hervorgehen, da auch sie vor allem Mittel zum Zweck bzw. Folgeerscheinungen der weltgesellschaftlichen Entwicklung sind, sondern vor allem die Staaten. Sie beanspruchen das Gewaltmonopol und setzen es durch.

Angesichts der bestehenden multiplen Krisen, also der strukturell angelegten, seit 2008/2009 offenen und bis heute kaum verhohlenen Krise des kapitalistischen Verwertungssystems, der bereits in verschiedenen Natursystemen angelaufenen Klimakrise, der breite Verlust an bezahlten Arbeitsplätzen durch die Digitalisierung und Automatisierung nahezu aller Produktionsbereiche kommt ein realer äußerer "Feind" wie Sars-CoV-2 wie gerufen. Die Frage steht sowieso seit längerem im Raum, nach welcher Ordnung die Gesellschaft von morgen geformt werden soll.

Die Gefährlichkeit der Pandemie mußte nicht erfunden werden, um weltweit staatliche Restriktionen zu legitimieren, vor denen sich die Menschen bisher durch Versprechungen wie "Demokratie", "Menschenrechte", etc. geschützt sahen. Womit wohl die wenigsten gerechnet haben, sind es die Infektionsschutzgesetze, die das Potential haben, den Ausnahmezustand zu legitimieren und all die sogenannten Errungenschaften des modernen (Un)rechtsstaats außer Kraft zu setzen.

Die Leibeigenschaft wurde eigentlich abgeschafft, doch erfahren nun viele Menschen, daß sie in zentralen Lebensbereichen Anordnungen der Obrigkeit befolgen müssen, die aufgrund ihrer Eingriffstiefe als Leibeigenschaft des 21. Jahrhunderts bezeichnet werden könnten. Die Pflicht zur sozialen Distanzierung, Ausgeh- und Kontaktverbote, das Schließen von Betrieben und Geschäften, das Tragen von Gesichtsmasken in Teilen des öffentlichen Raums sowie in Geschäften wären ohne die reale Virenbedrohung nur schwer durchsetzbar gewesen. Manchen Staaten genügt es nicht, daß die Menschen freiwillig elektronische Fußfesseln mit sich tragen, weil sie damit beispielsweise Spiele spielen, Filme schauen, im Internet surfen und, ja, auch das, telefonieren können; sie werden auch aufgefordert, sich Bewegungs-Apps auf ihre sogenannten Smartphones aufzuladen, so daß ihre sozialen Kontakte nachvollziehbar werden. Transparenz und Selbstkontrolle erweisen sich als innovative Herrschaftsmittel.

Wo auch immer sich in der Vergangenheit Widerstand gegen staatliche Bevormundung und Repressionen erfolgreich formiert hat, waren dabei soziale Kontakte unverzichtbar. Umgekehrt sind Repressionsorgane stets daran interessiert, solche Zusammenhänge zu infiltrieren oder gar nicht erst zustande kommen zu lassen. Die jetzt verhängte soziale Distanzierung kommt diesem Anliegen sehr entgegen.

Nur weil beispielsweise Bundeskanzlerin Angela Merkel brav und bieder erscheint und nicht bei jeder Gelegenheit das Maul so weit aufreißt wie ein Donald Trump, Jair Bolsonaro oder Boris Johnson, bedeutet das nicht, daß sie nicht Entscheidungen fällt, durch die andere Menschen in existentielle Not gestürzt werden. Erinnert sei nur an die Griechenland aufgeherrschten Sparmaßnahmen, wodurch Menschen vorzeitig gestorben sind, die hätten gerettet werden können, wenn der griechische Staat dabei unterstützt worden, Sozial- und Gesundheitsprogramme aufzulegen.

Die staatlichen Maßnahmen zur Kontrolle der Pandemie folgen zwar der Ratio des Gesundheitsschutzes, aber gleichzeitig folgen sie der Ratio der Herrschaftssicherung. Auch wenn am Ende des Tages, sollte jemals ein Impfstoff gegen Sars-CoV-2 zur Verfügung stehen, die Restriktionen wieder vollständig zurückgenommen werden sollten - was keineswegs sicher ist -, wird sich in dem dann zu gestaltenden Neubeginn etwas manifestieren, das dazu beiträgt, die administrative Verfügungsgewalt tiefer denn je zu etablieren.

Der bevorstehende Innovationsschub deutet sich schon heute an, beispielsweise in dem Bestreben, das Bargeld abzuschaffen. Um potentielle Übertragungswege des Coronavirus auf andere Menschen zu vermeiden, werben Supermärkte bereits auf Hinweisschildern für den bargeldlosen Zahlungsverkehr. Geld ist zwar von jeher ein Lehen, das jederzeit wieder von denjenigen, die es ausgegeben haben, eingefordert oder entwertet werden kann, und sei es mittels einer vermeintlich schicksalshaft hereinbrechenden Inflation, aber Bargeld bietet gegenüber dem elektronischen Geld noch den Vorteil seiner relativ freien Verfügbarkeit. Elektronisch hingegen wird jeder Zahlungsverkehr nicht nur registriert, sondern kontrolliert, das heißt gelenkt.

Ein anderes Beispiel: Das Internet galt einmal als subversiv. Jede und jeder konnte darin ihre/seine Meinung äußern. Mit der Coronaviruspandemie werden bereits im bisherigen System angelegte Überwachungsfunktionen weiter ausgebaut, und es werden Schnittstellen bzw. Instanzen geschaffen, die nur noch genehme Meinungen, Ansichten und Fakten zulassen. "Fake News" werden nicht als solche kenntlich gemacht, sondern verboten. Und was "Fake News" sind, bestimmen diejenigen, die die Definitionshoheit innehaben.

Ein noch wenig beleuchteter Effekt der Pandemie betrifft das Arbeiten in den eigenen vier Wänden. Das sogenannte Home Office erspart den Unternehmen Betriebskosten, entlastet Behörden vom Unterhalt der Amtsstuben, erhöht den Druck auf die Familien, sich nach den Anforderungen der Arbeit zu richten. Außerdem werden die im Home Office Arbeitenden verunsichert. Angesichts der realen Gefahr, ihren Job zu verlieren, fragen sich viele, ob ihre Leistungen genügen. Sie brauchen keinen Aufpasser, da sie selbst ihre eigenen Aufpasser sind. Mit dem Home Office erfolgt der Angriff auf den Feierabend und das Wochenende.

Die hier skizzierte Entwicklung, zu der mehr und mehr Spuren führen, je weiter sich die Pandemie zuspitzt, aber die schon längst in dem herrschaftslogischen System angelegt war, läuft Schritt für Schritt auf einen Menschentypus hinaus, der nicht nur aufgegeben hat, sich gegen die ihn beherrschenden Kräfte und Interessen aufzulehnen, sondern der irgendwann sogar die Erinnerung daran verlieren könnte, was früher einmal mit dem Aufzeigen des Widerspruchs von Herrschaft und Unterdrückung gemeint war und zu dem es in der Konsequenz nur eine Antwort gab, nämlich Nein zu sagen.


Fußnoten:

[1] https://inequality.org/great-divide/billionaire-bonanza-2020/

[2] https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/corona-krise-in-den-usa-arbeitslosen-antraege-erreichen-neuen-hoechststand-a-1c4ba168-6fe0-4298-8559-1893e548f59e

29. April 2020


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