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LAIRE/1383: Nahrungsmittelneuverteilungsvorwände ... (SB)



Hunderte Millionen Menschen hungern, zwei Milliarden sind mangelernährt, vor allem in den Ländern des Globalen Südens. Vor diesem Hintergrund mutet die aktuelle Berichterstattung über einen vom Krieg in der Ukraine ausgelösten Nahrungsengpass auch in Europa wie ein Versuch an, eine vermeintliche Erklärung für einen permanenten Mangel an Überlebensmitteln in der Welt zu liefern. Offenbar kommt erst jetzt in der westlichen Welt die Befürchtung auf, dass auch sie selbst davon betroffen sein könnte, was in anderen Weltregionen seit langem "normal" ist, nämlich dass viele Menschen einen großen Teil ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgeben müssen oder ihnen diese nicht zur Verfügung stehen. Begleitet werden solche Befürchtungen auf komfortablem Niveau von dem Schreckensbild, dass Unruhen ausbrechen und bestehende staatliche Strukturen zerrüttet werden könnten ... mit Heerscharen von Flüchtlingen, die in die Wohlstandsregionen Europas "eindringen" wollen.

Seit Beginn der jüngsten Eskalationsstufe des Ukraine-Konflikts am 24. Februar 2022, als russische Streitkräfte an mehreren Stellen die Grenze zur Ukraine überschritten, wird vor einem drohenden Energie- und Nahrungsmangel gewarnt. Zwar wird beteuert, dass Deutschland und die Europäische Union genügend Getreide selber anbauen und deshalb hauptsächlich afrikanische und südostasiatische Länder betroffen sein werden, aber im gleichen Atemzug werden die steigenden Kosten für Herstellung und Kauf von Agrarprodukten beklagt, zumal deren Preis eng mit dem für Energie verbunden ist.

Viele Menschen reagieren bereits mit Hamsterkäufen, und alle Beteuerungen aus den Chefetagen der großen Supermarktketten und Lebensmittelverbände, dass der Nachschub gesichert ist und die Verbraucherinnen und Verbraucher keinen Engpass zu befürchten haben, erweisen sich als Wasser auf die Mühlen der Zweifelnden. Sie fragen sich, warum das so betont werden muss. Ist nicht spätestens seit der Erklärung des früheren Arbeitsministers Norbert Blüm, die Renten seien sicher, die Beschönigung in dieser Behauptung bekannt?

Zumal anlässlich des Vorschlags eines kompletten Gas- und Ölimportboykotts gegenüber Russland Personen aus Politik und Gesellschaft die Bevölkerung auf knappe Zeiten einstimmen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ("Und die ganze Wahrheit ist: Viele Härten liegen erst noch vor uns."), Ex-Bundespräsident Joachim Gauck ("Wir können auch einmal frieren für die Freiheit." Und: "Eine generelle Delle in unserem Wohlstandsleben ist etwas, was Menschen ertragen können.") und Baden-Württembergs Landwirtschaftsminister Peter Hauk ("15 Grad im Winter hält man mit Pullover aus. Daran stirbt niemand."), um nur einige zu nennen, wissen genau, dass ein solcher Boykott auch die Kosten für die landwirtschaftliche Produktion und in der Folge die Lebensmittelkosten dramatisch steigen lassen würde. Von einem dermaßen hohen Wohlstandsniveau, in denen jene leben, die solche Vorschläge unterbreiten, hier und da einige Abstriche zu machen, würde bei weitem nicht so schwer wiegen wie von einem niedrigeren Niveau, auf dem Millionen Menschen in Deutschland existieren.


Die Außenminister sitzen entspannt an einer reich gedeckten Frühstückstafel. Edles Parkett, Teppiche, ein Gemälde und Stuckverzierungen an der Wand runden das imperiale Ambiente ab - Foto: U.S. Department of State from United States, Public domain, via Wikimedia Commons

Planen das Schicksal ganzer Völker oder: Man kann auch mal auf Erdbeeren zum Frühstück verzichten.
Hotel Imperial, Wien, 11. Juli 2015: Arbeitsfrühstück von US-Außenminister John Kerry und dem deutschen Außenminister Frank-Walter Steinmeier zu den Atomverhandlungen mit Iran.
Foto: U.S. Department of State from United States, Public domain, via Wikimedia Commons

Geht es hier womöglich darum, im Vorgriff auf knappe Zeiten die Leidensbereitschaft der Menschen in Deutschland zu aktivieren? Wird der Bevölkerung demnächst mitgeteilt, dass nicht nur zu wenig Gas zum Heizen vorhanden ist, sondern dass auch an Nahrung gespart werden muss? Oder gar, an die Arbeitslosen gerichtet, dass Menschen, die sich angeblich körperlich nicht anstrengen müssen und zu Hause herumsitzen, mit 1600 Kilokalorien pro Tag auskommen könnten, weil davon niemand stirbt? Wird dann Gauck von einer aushaltbaren "Delle" auch in der Nahrungsversorgung sprechen, so wie er es bei der Energieversorgung formuliert hat?

Wenn es denn bei der Gauckschen Delle bliebe und sich der Versorgungsengpass nicht als Beginn eines anhaltenden Mangels erwiese! Das von Gauck gewählte Bild verspricht wohl nicht zufällig, dass der Trend am Ende wieder nach oben geht.


Der globale Nahrungsmangel spitzt sich zu

Anfang Februar dieses Jahres lagen nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO - Food and Agriculture Organization) die globalen Nahrungsmittelpreise 20,7 Prozent höher als im Vorjahresmonat. Der FAO Food Price Index, der aus fünf Warengruppen (Fleisch, Milchprodukte, Getreide, Speiseöl und Zucker) errechnet wird, war von Januar 2021 bis Januar 2022 kontinuierlich gestiegen und hatte mit 135,4 Punkten sogar den historischen Höchststand aus dem Jahr 2011 (131,9 Punkte) deutlich überschritten. Und der Trend setzte sich fort. Im Februar lag der Wert schon bei 140,7 Punkten. Für die Menschen in den ärmeren Ländern ist die Entwicklung lebensbedrohlich, müssen sie doch ihre äußerst geringen Einkommen zu 50, 60 Prozent oder noch mehr für die Nahrungsbeschaffung ausgeben. Das heißt, sie haben keinen finanziellen Puffer, nichts Erspartes, und können auch kaum weitere Einkommensmöglichkeiten realisieren, um die hohen Lebensmittelpreise zu bezahlen.

Laut dem Globalen Humanitären Überblick 2022 (GHO - Global Humanitarian Overview 2022), der von mehreren Hilfsorganisationen der Vereinten Nationen zusammengestellt wird, sind im Jahr 2020 rund 811 Millionen Menschen regelmäßig hungrig zu Bett gegangen, so dass rechnerisch jeder Zehnte betroffen war. Das waren 161 Mio. mehr als im Jahr davor. Die Ernährungslage habe sich in den letzten beiden Jahren in einigen Ländern weiter verschlechtert. Besonders betroffen seien Afghanistan, Syrien, Jemen, Südsudan, Demokratische Republik Kongo, Somalia, Madagaskar, Äthiopien, heißt es in dem Bericht.

China geht es zwar wirtschaftlich vergleichsweise gut, aber es ist auf umfangreiche Agrarimporte angewiesen. In diesem Jahr erwartet die heimische Wirtschaft deutliche Ernterückgänge. Anfang März sagte der neue chinesische Landwirtschaftsminister Tang Renjian am Rande des Treffens des Nationalen Volkskongresses, die Ernte von Winterweizen sei die "schlechteste in der Geschichte".

Das hat weltweite Konsequenzen. Da China sowieso größere Mengen Weizen importiert, weil es seine Nachfrage nicht durch die inländische Produktion decken kann, und darüber hinaus seine Lagerbestände weiter auffüllt - sie waren im vergangenen Jahr teilweise geleert worden, nachdem Weizen anstelle von Mais als Futtermittel verwendet werden musste -, hatte diese Nachfrage noch vor dem 24. Februar 2022 den Weizenpreis hochgetrieben. Das weltweite Ringen um die zu knappen Getreidebestände hatte also schon vor der Invasion an Schärfe zugenommen.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 war die Region rund um das Schwarze Meer Nettoimporteur von Getreide. Russland und später auch der Ukraine war es durch hohe Investitionen gelungen, der "Kornkammer Europas" wieder zu neuer Blüte zu verhelfen. Davon partizipierten auch Agrokonzerne wie Cargill, Bunge und Glencore. Sie investierten in die ukrainische Landwirtschaft, steigerten das Exportvolumen des Landes und verdienten gut daran. Bis zum Beginn der Invasion russischer Truppen zählten Russland und die Ukraine zu den fünf wichtigsten Getreideexportländern der Welt.

Agrar- und Finanzfachleute hatten bereits vor der Eskalation des Kriegs in der Ukraine vermutet, dass die Welt am Beginn eines "Superzyklus" für Agrarprodukte und andere Rohstoffe steht. Die Preise würden auf hohem Niveau bleiben oder sogar noch steigen, wurde prognostiziert. Marktwirtschaftlich bedeutet das, dass die Nachfrage die Angebote übersteigt. "Nachfrage" ist ein Begriff aus der Ökonomie und nicht mit "Bedarf" zu verwechseln. Zum Nachfragefaktor werden nur Menschen gezählt, die finanziell überhaupt in der Lage sind, Nahrung zu kaufen. Das lässt sich auch daran erkennen, dass seit Jahrzehnten viele hundert Millionen Menschen nicht genügend zu essen haben. Hätte ansonsten "der Markt" ihre "Nachfrage" nicht längst lindern müssen?


Explodierende Preise - explodierende Versorgungsnot

Die Ukraine und Russland hatten gemeinsam fast 30 Prozent des weltweiten Weizenangebots, 20 Prozent des Maisangebots, 75 bis 80 Prozent des Sonnenblumenöls und 30 Prozent der Gerste produziert. Die beiden Länder waren für zwölf Prozent der via Exportwirtschaft gehandelten Kalorien zuständig. Die Auswirkungen des Kriegs auf die globale Lebensmittelversorgung werden alles übertreffen, "was wir seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt haben", sagte WFP-Direktor David Beasley vor dem UN-Sicherheitsrat in New York. Er sprach von einer "Katastrophe zusätzlich zu einer Katastrophe". 26 Länder hätten bislang mehr als die Hälfte ihres Weizenbedarfs durch Importe aus diesen beiden Ländern gedeckt.

Seit Anfang Februar ist der ohnehin hohe Weizenpreis nochmals um 60 Prozent gestiegen, und er steigt weiter. Zur Zeit der weltweiten Hungerunruhen 2007-08 und 2010-11 in mehreren Dutzend Ländern schnellte die Zahl der Hungernden auf über eine Milliarde. Der sogenannte arabische Frühling brach aus, Potentaten wie Ben Ali in Tunesien wurden hinweggefegt und Regierungen wie die von Haiti und Madagaskar gestürzt; andere gerieten zumindest unter massiven Druck. Es waren nicht die unmittelbar Hungernden oder die Landbevölkerung, die sich erhoben hatten, sondern das urbane Proletariat und der aufstrebende Mittelstand, der plötzlich (wieder) auf mehrere Mahlzeiten täglich verzichten musste. Von diesen Menschen fühlen sich die Machthabenden am meisten bedroht. Aus einer Reihe von Gründen ist die gegenwärtige Ausgangslage für die globale Nahrungsmittelversorgung erheblich angespannter.

Erstens zeigen sich heute die Folgen der globalen Klimakrise deutlicher als 2008. Dürren in Nord- und Südamerika sowie Ostafrika und Madagaskar auf der einen Seite und Überschwemmungen wie die in Westaustralien auf der anderen haben landwirtschaftliche Flächen schwer getroffen.

Zweitens beeinträchtigt seit Anfang 2020 die Covid-19-Pandemie die landwirtschaftliche Produktion, unter anderem weil die globalen Lieferketten unterbrochen und in der Landwirtschaft tätige Menschen erkrankt oder gestorben sind. Laut einem aktuellen Report über 35 Länder, der vom Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF - United Nations Childrens Fund) gemeinsam mit der Weltbank veröffentlicht wurde, haben mehr als drei Viertel der Haushalte mit drei oder mehr Kindern seit Beginn der Pandemie Einkommensverluste erlitten.

Drittens hat die Verschuldung der ärmeren Länder erheblich zugenommen, was deren Staatshaushalte belastet. Die Weltbank spricht vom höchsten Schuldenstand seit Jahrzehnten; außerdem hätten viele Länder seit Beginn der Covid-19-Pandemie keine Zahlen zur Verschuldung bekanntgegeben, so dass deren Ausmaß noch gar nicht klar sei. Das Bedienen der Schulden zählt zu den wichtigsten Verarmungsfaktoren.

Viertens ist in vielen Ländern die Inflationsrate gestiegen, was bedeutet, dass die in den betroffenen Ländern geleistete Arbeit (nicht nur in der Landwirtschaft) im Verhältnis zu früher eine geringere Kaufkraft besitzt. Das wirkt sich deshalb besonders negativ aus, weil die Preise für Lebensmittel, aber auch für landwirtschaftliche Produktionsmittel wie Treibstoff und Dünger, in nahezu allen Ländern enorm gestiegen sind.

Fünftens hat der Ukraine-Krieg die Kosten für die unterschiedlichen Düngerarten nochmals drastisch verschärft. Neben der Ukraine und Russland ist auch Belarus ein für den Weltmarkt wichtiger Produzent von mineralischem Dünger. Gegen das Land waren schrittweise Sanktionen verhängt worden, was ab Dezember 2021 dazu führte, dass das Staatsunternehmen Belaruskali, das rund 15 Prozent des Weltbedarfs an Kalidüngemitteln herstellt und damit nach dem kanadischen Unternehmen Nutrien Ltd. auf Platz zwei liegt, nicht mehr exportieren konnte.

Während in der Europäischen Union bis dahin die hohen Gaspreise kostentreibend für die Düngerproduktion waren - Hersteller wie Yara hatten deswegen zeitweilig ihre Produktion von Stickstoffdünger deutlich gedrosselt -, haben in den USA der Kälteeinbruch in Texas im Frühjahr 2021, der Wirbelsturm "Ida" im August desselben Jahres im US-Bundesstaat Louisiana, wo zwei wichtige Düngemittelfabriken zerstört wurden, sowie ein Feuer in einer Düngemittelfabrik in North-Carolina im Januar 2022 für einen deutlichen Preisanstieg für Düngemittel gesorgt. Alles in allem waren 2021 die Düngemittelpreise auf dem Weltmarkt um mehr als 80 Prozent gegenüber 2020 gestiegen. Und in diesem Jahr explodieren die Preise von dem hohen Niveau nochmals in "astronomische Höhen", wie "agrar heute", ein Fachmagazin für die Landwirtschaft, online schreibt. Von einer "Zeitenwende am Düngermarkt" ist dort die Rede.

Weil Russland und Ukraine, die ebenfalls für die globale Produktion von Stickstoff- und Kaliumdünger wichtig sind, seit dem 24. Februar als Lieferanten weitgehend ausfallen, betrifft der akute Düngermangel über jene 26 Länder hinausgehend, die auf Weizenimporte aus der Ukraine und Russland angewiesen sind, fast alle Länder der Erde. Auch China und Indien, die sich den Sanktionen gegenüber Russland nicht angeschlossen haben, bekommen den Preisanstieg vom Weltmarkt zu spüren. Diese beiden Länder haben einen Anteil von zusammen mehr als 36 Prozent der Weltbevölkerung.

Wenn nicht genügend Dünger für die industriell geprägte Landwirtschaft zur Verfügung steht, droht ein globaler Rückgang der Erntemengen nicht allein bei Weizen. So wünschenswert ein Umstieg auf ökologische Anbausysteme auch erscheinen mag, ein Wechsel von heute auf morgen könnte die düngerbedingten Ausfälle kurzfristig nicht ersetzen. Jetzt rächen sich die politischen Entscheidungen der Vergangenheit für die großindustrielle konventionelle Landwirtschaft.

Sechstens: Die Lagerbestände von Weizen werden nach Einschätzung des Internationalen Getreiderats (IGC - International Grains Council) in der aktuellen Anbausaison 2021/22 in den wichtigsten Produzentenländern (Europäische Union, Russland, USA, Kanada, China, Ukraine, Argentinien, Australien, Kasachstan) auf das 9-Jahres-Tief von rund 57 Millionen Tonnen schrumpfen. Bei einem weltweiten Weizenverbrauch von 781 Millionen Tonnen würden die globalen Lagerbestände nur für 27 Tage reichen.


Feigenblätter machen nicht satt

Das Welternährungsprogramm (WFP - World Food Programme) ist die größte Hilfsorganisation weltweit. Es versorgt in diesem Jahr 144 Millionen Menschen. Das ist ein Rekord, und dennoch lindert das die Nahrungsnot nur eines kleineren Teils der Hunderte von Millionen Menschen, die nicht genügend zu essen haben. Der Anteil reduziert sich weiter, weil inzwischen die Getreidepreise exorbitant gestiegen sind und das WFP, das über kein eigenes Budget verfügt, sondern Jahr für Jahr um Spenden betteln muss, für seine Einnahmen weniger Getreide kaufen kann als geplant. Die UN-Einrichtung spricht schon jetzt von einem Minus in Höhe von zehn Milliarden Dollar und kündigt an, die Rationen der Bedürftigen zu kürzen.

Selbst wenn dem Welternährungsprogramm nun Spendengelder in Milliardenhöhe zuflössen, stellt sich die Frage, ob damit die Hungerkrise gelöst werden könnte. Sind dafür überhaupt die erforderlichen Erntemengen verfügbar, wo doch auch China und andere Länder versuchen, ihre starke Nachfrage zu decken?


Gauck, von Menschen umgeben, reckt die Arme empor und freut sich - Foto: ACBahn, CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

Begeisterung für einen Herrscher, der in weiten Teilen Europas verlustreiche Feldzüge führte, Menschen zwangsweise christianisieren ließ und riesige Mengen an Raubgut sicherte. Für dieses "Eigentum" Karls des Großen mussten andere ihr Lebensglück oder gar ihr Leben lassen.
Bundespräsident Joachim Gauck nach der Eröffnung der Ausstellung "Karl der Große - Macht, Kunst, Schätze" am 19. Juni 2014 in Aachen vor der Domschatzkammer.
Links mit Amtskette der Oberbürgermeister von Aachen, Marcel Philipp, hinten links Armin Laschet, hinten rechts Domprobst Monsignore Helmut Poqué, der den Bundespräsidenten durch den Aachener Dom geführt hat.
Foto: ACBahn, CC BY-SA 3.0 [https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0], via Wikimedia Commons

So eine "Delle" in der Versorgung mit Nahrung oder Nährstoffen - Stichwort: versteckter Hunger - wirkt sich manchmal verheerend aus. Guatemala ist hierfür ein Schreckensbeispiel. Nach Angaben von UNICEF erhält dort die Hälfte der Kinder in den ersten fünf Lebensjahren nicht genügend Nährstoffe, in manchen Regionen sind es sogar 80 Prozent. Das beeinträchtigt die Entwicklung, was die Betroffenen ihr Leben lang nicht mehr ausgleichen können. Die körperlichen Schäden sind irreversibel.

Mangelernährung ist mehr als nur "Hunger", sagte Sofia Letona, Leiterin der örtlichen Hilfsorganisation Antigua al Rescate in Guatemala gegenüber "Al Jazeera". Mangelernährung bestehe auch dann, wenn man nicht genug Wasser, keine Elektrizität und kein Einkommen habe. Zu Mangelernährung gehöre ebenfalls, im Schmutz leben zu müssen, keine befestigten Straßen zur Verfügung zu haben und viele Stunden zu Fuß gehen zu müssen, um irgendwohin zu kommen. Mangelernährung sei auch die Art und Weise, wie ein Staat sein Volk im Stich lasse.

Die Aussage Letonas lässt sich erweitern: Mangelernährung besteht ebenfalls darin, wenn Staaten sich gegenüber anderen Staaten bei der Nahrungsbeschaffung durchsetzen. Der Widerspruch, dass jedes Jahr auf der einen Seite Hunderte Millionen Menschen Hunger leiden und auf der anderen zugleich Hunderte Millionen Tonnen Lebensmittel vernichtet werden, reicht weit. Wie eingangs ausgeführt, zählen die Hungernden in einer kapitalistischen, auf Profit ausgerichteten Wirtschaftsordnung nicht als Nachfragefaktor. Die Menschen haben zwar einen individuellen Bedarf an Nahrung, aber verfügen über keine Mittel, diesen Bedarf zu stillen. Das bedeutet, dass sie aus dem System herausfallen. Es ist nicht zu erkennen, dass sich daran etwas ändert, weil diejenigen, welche die Mittel dazu hätten, offenkundig ein Interesse an der gegenwärtigen Ordnung haben. Sicherlich gibt es Bemühungen, die schlimmsten Folgen des Systems abzumildern oder innerhalb der Wirtschaftsordnung Produktionsweisen anzuwenden, die nicht dem Wettbewerb und der Profitmaximierung unterworfen sind, aber dass solche Ansätze hegemonial werden, ist weit und breit nicht zu erkennen.

Hilfsorganisationen lindern zwar den Hunger einzelner und retten Menschenleben - das individuelle Engagement der Hilfskräfte wird hier nicht in Frage gestellt, - aber als Bestandteil des Systems erfüllen sie die Funktion, etwas Dampf aus dem Kessel zu lassen. In einer Welt, in der Hilfsorganisationen von einem Tag auf den anderen ihre Arbeit einstellen, würde der Hunger erheblich zunehmen. Dem widerspricht nicht, dass Hilfsorganisationen mit ihrer Tätigkeit eine gesellschaftliche Feigenblattfunktion erfüllen. Sie tragen dazu bei, dass alles seine Ordnung hat, was bedeutet, dass die Hungerleider in Schach gehalten werden und sich nicht im großen Maßstab zusammenschließen. Akutes Leid wird partiell gelindert, aber niemals, man kann es nicht genug betonen, niemals wird der Hunger in der Welt komplett beseitigt.

Die Hungerkrise wird auch deshalb in einem Dauerzustand gehalten, weil sie zur Entfaltung des Prinzips des Teilens und Herrschens von Nutzen ist. Selbst für die miesesten, gesundheitlich ruinösesten und schlechtbezahltesten Jobs finden sich Menschen bereit, weil sie genau nicht zu den Hungernden gehören wollen, die nochmals "unter" ihnen stehen. Deren bloße Existenz, wahrgenommen als permanente Bedrohung auch nur eines geringfügigen Einkommens, hält die Knochenmühle in Betrieb - vergleichbar, wenn auch auf einem viel höheren Niveau, mit der Funktion des Hartz-IV-Verelendungsregimes für den hiesigen Arbeitsfrieden (sprich: für das Befrieden der Lohnarbeiterinnen und -arbeiter, die berechtigte Angst davor haben, "hartzen" zu müssen, sollten sie jemals ihren Job verlieren). Die Bekämpfung des Hungers wird nicht zum viel versprochenen Erfolg führen, solange die Hungerleidenden als Druckmittel zur Durchsetzung von Lohnarbeit gebraucht werden.


Rechtmäßige Verteilung versus gerechte Verteilung

Die Massenvernichtung der Hungernden und die Massenvernichtung von Lebensmitteln liegen auf einer Linie. Nicht nur in Krisenzeiten, wie in den letzten Jahren während der Pandemie, werden zwecks Markstabilisierung Lebensmittel vernichtet. Finden sich keine Abnehmerinnen oder Abnehmer, die für Lebensmittel bezahlen, kommt deren Vernichtung günstiger als deren Verteilung an die Bedürftigen. Außerdem unterliegen weggeworfene Lebensmittel dem Eigentumsrecht. Das sogenannte Containern, also das Retten von weggeworfenen, aber noch genießbaren Lebensmitteln beispielsweise aus den Abfallbehältern von Supermärkten, ist in Deutschland verboten und kann bestraft werden. Der Müll befindet sich rechtmäßig im Gewahrsam der Läden.

Werden weltweit genügend Lebensmittel hergestellt, um alle Menschen satt zu machen und ausreichend mit Nährstoffen zu versorgen? Ist es nur eine Frage der gerechten Verteilung, weswegen über 800 Millionen Menschen nicht genügend zu essen haben, während beispielsweise in Deutschland und anderen Staaten Getreide verbrannt wird, um Autos anzutreiben?

Eine rechtmäßige Verteilung findet bereits statt, aber ob sie als gerecht empfunden wird, ist eine andere Frage. Die einen erhalten mehr als ausreichend und müssen sich keine Sorgen machen, die anderen erhalten weniger bis gar nichts. Die seit Jahrzehnten kolportierte Behauptung, dass angeblich nur eine "gerechte" Verteilung zwischen der produzierten Menge an Lebensmitteln und dem Mangel von Hunderten Millionen Menschen steht, lässt die Frage aufkommen, warum nicht längst dafür gesorgt wurde, dass jene Gerechtigkeit auch in das Recht Eingang gefunden hat. Offenbar stehen dieser Lösung des Hungerproblems einflussreiche Interessen entgegen. Dabei muss es sich logischerweise um Interessen handeln, die das Recht auf ihrer Seite wissen und sich seiner zu bedienen verstehen. Man kann davon ausgehen, dass es nicht die Hungernden sind, die Einfluss darauf haben.

Es ist eine Binsenweisheit und zugleich ein Tabu: Der globale Nahrungsmittelmangel kam nicht erst mit dem 24. Februar 2022 in die Welt. Zwar wird seitdem aus den beiden unmittelbar am Kriegsgeschehen beteiligten, weltweit wichtigen Agrarexportstaaten Russland und Ukraine weniger bis gar kein Getreide mehr ausgeführt, aber hinter der dadurch in anderen Ländern ausgelösten oder drohenden Ernährungsnot steckt ein prinzipieller Mangel. Der tritt auch ohne Krieg, ohne klimawandelbedingte Unwetter und auch ohne die Covid-19-Pandemie auf.


Eigentum verpflichtet ... die anderen

Der Hunger lässt sich auf die Produktionsverhältnisse zurückführen, die von einer gesellschaftlichen Ordnung begünstigt werden, in der Staaten, Regionen, Unternehmen und Lohnarbeitskräfte in Konkurrenz zueinander wirtschaften, so dass der eigene Vorteil dem anderen zum Nachteil gereicht. Im Ergebnis wird die Welt in den Globalen Norden und den Globalen Süden geordnet, und die einzelnen Staaten wiederum in oben und unten, in marginalisierte und privilegierte Gruppen.

Wenn von letzteren beispielsweise ein Bill Gates oder ein Warren Buffett viele Millionen ihres Einkommens an Hilfsorganisationen spenden, dann können sie dies, weil ihnen zuvor ermöglicht worden war, ein Vielfaches dieses Betrags anzuhäufen und ihr Eigentum zu nennen. Somit besteht der grundsätzliche Widerspruch nicht darin, dass sie noch mehr spenden könnten, als sie es bereits tun, sondern dass sie (und, selbstredend, im Prinzip jeder Eigentümer und jede Eigentümerin) überhaupt etwas als ihr Eigentum reklamieren können. Eigentum zeigt sich als Resultat eines erfolgreichen Raubzugs, denn es bedeutet, anderen die Verfügbarkeit über etwas, sei es Nahrung, Energie oder was auch immer, vorzuenthalten.

Selbst den Menschen, die in marginalisierten Weltregionen am Hungertuch nagen, wird der Zugang zu Nahrung verwehrt, weil längst die notwendige Infrastruktur hätte gebaut werden können, um sie zu erreichen. Da Online-Händler wie Amazon, Alibaba oder das in Afrika tätige Handelsunternehmen Jumia ein immer dichteres Versorgungsnetz für Paketdienste aufbauen - für jene, die bezahlen können -, kann es keine technische Frage sein, warum niemand etwas dagegen unternimmt, dass Menschen verhungern.

Die Bezeichnung "Raub" als entscheidender, eigentumssichernder Auslöser von Hunger mag übertrieben wirken, aber nur deshalb, weil er längst in den und durch die gesellschaftlichen Strukturen in Stellung gebracht wurde. Eigentum als fundamentale, gesellschaftlich sanktionierte Gewaltform wird weithin tabuisiert. Die Eigentumsfrage bleibt im öffentlichen Diskurs über Hungerursachen nicht nur unerwähnt, sondern sie wird mit Hilfe von Zuschreibungen vermeintlicher Schicksalshaftigkeit der Nahrungsnot wie "Hurrikan des Hungers", "sich überlappende Nahrungsmittelkrisen" bewusst verschleiert, ganz so, als würden Menschen in einer Welt verhungern, in der keine Interessen vorherrschen. Wenn man aber anerkennt, dass bestimmte Interessen vorherrschen, müsste man dann nicht konsequenterweise ebenfalls anerkennen, dass die Dauernotlage von Hunderten Millionen Menschen und die Verteilung von Nahrungsmitteln exakt der Erfüllung eben dieser Interessen entspricht?

Insofern ist die eingangs erwähnte Furcht vor Verteuerungen von und Engpässen an Nahrungsmitteln in den westlichen Wohlstandsregionen doch nicht so unbegründet, bieten doch Klimakrise, Pandemiefolgen und nun auch noch der Ukrainekrieg Vorwände zur Neuverteilung von Nahrungsmitteln.

4. April 2022

veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 173 vom 9. April 2022


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