Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → MEINUNGEN

DILJA/1094: Gazastreifen - Israel greift straflos UN-Einrichtungen an (SB)


Israelischer Vernichtungskrieg gegen eineinhalb Millionen Menschen im Gazastreifen

Nach zwei Wochen Krieg und über 750 getöteten Palästinensern brüskiert Israel auch die Vereinten Nationen


Zu Beginn der Woche kündigte Israels Außenministerin Zipi Livni auf einer Pressekonferenz vor EU-Politikern an, ihr Land sei die Speerspitze im Kampf gegen Terrorismus und Extremismus im Nahen Osten und würde die "Gleichung" in der Region verändern. Tatsächlich jedoch scheint Israel die Speerspitze in der Verbreitung von Terror gegen eine Zivilbevölkerung, nämlich die palästinensische im Gazastreifen, zu sein. Wie den von den Vereinten Nationen tagtäglich erstellten Reporten zur humanitären Lage zu entnehmen ist, kann von einer "Gleichung" in bezug auf die Opfer dieses Krieges, den Israel und seine westlichen Verbündeten gern als eine irgendwie doch symmetrische Auseinandersetzung oder, schlimmer noch, als eine reine Verteidigungsmaßnahme Israels darzustellen trachten, nicht die Rede sein.

Bis zum heutigen Mittag schlugen 20 Kassam-Raketen in Israel ein, durch die israelischen Pressemeldungen zufolge niemand verletzt wurde. Ebensowenig sterben in Israel Menschen an Hunger, Entkräftung oder infolge einer medizinischen Mangelversorgung. Im Gazastreifen hingegen läßt sich kaum beziffern, wie hoch der Blutzoll ist, den die nun schon seit zwei Wochen andauernde israelische Kriegführung hier Tag für Tag und Stunde um Stunde fordert. Der heutige Tagesreport der Vereinten Nationen beziffert die Zahl der Palästinenser, die durch die Militärangriffe bislang ums Leben gekommen sind, mit 758, von denen jeder Dritte ein Kind ist. Die Vereinten Nationen weisen explizit darauf hin, daß Kinder und Jugendliche am meisten unter dem Krieg zu leiden hätten, schließlich besteht die Bevölkerung des Gazastreifens zu 56 Prozent aus Kindern unter 14 Jahren. Die Zahl der Verwundeten liegt derzeit bei ca 3100 und übersteigt bei weitem die Möglichkeiten der medizinischen Versorgung. Da die israelische Luftwaffe Krankenhäuser und Verwundetentransporte gezielt angreift, steht außer Frage, daß die ohnehin notleidende und in jeder Hinsicht mangelversorgte Bevölkerung des Gazastreifens auf diese Weise systematisch terrorisiert werden soll.

Zu dieser Bewertung der Lage kam auch Karen AbuZayd, die Chefin des UN-Flüchtlingshilfswerks (UNWRA), die unlängst erklärte, daß Israel die Menschen terrorisiere. Israels Außenministerin Livni hatte gegenüber den EU-Abgesandten jedoch nicht nur erklärt, daß Israel die "Gleichung" im Nahen Osten verändern werde, sondern mit unverhohlen drohendem Unterton angekündigt, daß sich alle in der Region für oder gegen Israel entscheiden müßten. Tatsächlich scheint die israelische Regierung damit nicht nur die Region des Nahen Ostens, in der ihr von seiten der dem Westen hörigen arabischen Regime ohnehin kein Paroli geboten wird, sondern die sogenannte internationale Gemeinschaft gemeint zu haben, nahm sie doch die Vereinten Nationen direkt ins Visier.

Dies ist leider nicht nur im übertragenen Wortsinn zu verstehen. Nachdem am Montag bei den bislang schwersten Luftangriffen auf Ziele im Gazastreifen über einhundert Menschen getötet worden waren, erfolgte am Dienstag der folgenschwerste, wenn auch nicht der erste Angriff auf eine Einrichtung der Vereinten Nationen, nämlich die UN-Schule in Dschamalia, in der 350 palästinensische Flüchtlinge Aufnahme gefunden und Schutz gesucht hatten. 40 Menschen wurden allein bei diesem Angriff getötet. Die Vereinten Nationen fordern eine von unabhängiger Seite durchgeführte Untersuchung dieses Vorfalls und erklärten, sie seien sich zu 99,9 Prozent sicher, daß die israelischen Behauptungen, denen zufolge sich Waffen und Munition der Hamas in der Schule befunden hätten, nicht zutreffend seien. Das als Beweis vorgelegte Video, auf dem ein aus diesem Gebäude erfolgter Raketenbeschuß zu sehen sei, konnte die Nahost-Expertin Karin Storch in einem Bericht des ZDF umgehend als nichtig entlarven, indem sie klarstellte, daß das von der israelischen Armee Journalisten vorgelegte Material aus dem Herbst 2007 stammte.

Die israelische Armee verwehrt internationalen Hilfs- und Menschenrechtsorganisationen wie amnesty international und Human Rights Watch den Zutritt zum Gazastreifen. Auch ausländische Journalisten werden systematisch ferngehalten und somit an der Direktberichterstattung gehindert. Zu diesem Zweck ging die israelische Regierung sogar über eine Entscheidung des Obersten Gerichts in Israel hinweg. Dieses hatte nach einer Klage der Vereinigung der Auslandskorrespondenten am vergangenen Freitag einen Vergleich geschlossen, der vorsah, daß acht Reporter in den Gazastreifen gelassen werden und die übrigen deren Berichte übernehmen könnten. Doch tatsächlich geöffnet wurden die Grenzen für diese wenigen Korrespondenten nicht. Die Vereinten Nationen allerdings sind noch immer vor Ort. Sie haben, da durch die ständigen israelischen Bomben- und Artillerieangriffe inzwischen über 3600 Wohnhäuser, aber auch Regierungsgebäude, Schulen, Marktplätze, Moscheen und Krankenhäuser bombardiert wurden, für 15.000 Flüchtlinge Aufnahmemöglichkeiten in 23 UN-Schulen geschaffen.

Israelischen Fernsehberichten zufolge hat das israelische Sicherheits- oder vielmehr Kriegskabinett am Mittwoch bereits über die dritte Eskalationsstufe in diesem Krieg beraten. Nach dem Beginn des Krieges am 27. Dezember, der zunächst als Luftkrieg geführt worden war, und seiner Ausweitung auf einen Bodenkrieg am 3. Januar scheint nun in Kürze die Steigerung der Grausamkeiten durch gezielt auf wehrlose Flüchtlinge durchgeführte Angriffe bevorzustehen. Um die dritte Eskalationsstufe einzuleiten, so hieß es, sollten Reservisten in die Städte und Flüchtlingslager des Gazastreifens geschickt werden. Dieser Beschluß wurde noch einmal aufgeschoben, hängt jedoch wie ein weiteres Damoklesschwert über der Bevölkerung des Gazastreifens. Beschlossen wurde hingegen am heutigen Freitag die Fortsetzung der Militäroffensive, womit die israelische Regierung auf eine UN-Resolution reagierte, in der ein sofortiger und langanhaltender Waffenstillstand gefordert wird.

Das UN-Hilfswerk sah sich unterdessen gezwungen, seine Hilfe im Gazastreifen einzustellen und kündigte an, die Hilfslieferungen erst wieder aufzunehmen, wenn Israel zusage, die UN-Fahrzeuge nicht anzugreifen - doch eine solche Zusage will Israel nicht geben. Bereits am Dienstag hatte Katharina Ritz, die Leiterin des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes für die palästinensischen Gebiete, gegenüber Deutschlandradio Kultur geschildert, unter welchen Bedingungen im Gazastreifen Kranken- und Verwundetentransporte durchgeführt werden:

Es ist sehr gefährlich, weil viele von diesen Ambulanzen versuchen wirklich ihr bestes. Die gehen in Gebiete rein, weil sie Telefonanrufe von der Bevölkerung bekommen, und danach werden sie angeschossen, und dann müssen sie wieder zurückgehen. Die Frustration ist wahnsinnig hoch. Die Leute haben Angst, auch die Ambulanzfahrer haben wahnsinnig Angst.

Nach Angaben der Vereinten Nationen sind bereits fünf Ambulanzhelfer und ein Arzt bei Verwundetentransporten getötet worden. UN-Verantwortliche gehören zu den wenigen, die über das mörderische Geschehen im Gazastreifen noch berichten (können). So widersprach John Ging, Direktor der UN-Hilfsorganisation UNRWA in Gaza, nicht nur der israelischen Behauptung, Hamas-Kämpfer würden die von den Vereinten Nationen in ihren Schulen eingerichteten Schutzräume als Verstecke benutzen und erklärte, daß es in Gaza keine sicheren Orte gäbe und daß jeder hier in Todesangst lebe und traumatisiert sei. Dies scheint voll und ganz in der Absicht der israelischen Kriegführung zu liegen. Wie der NDR-Korrespondent Clemens Verenkotte heute auf NDR Info berichtete, habe eine Palästinenserin mit ausländischem Paß nach ihrer Evakuierung wartenden Journalisten auf der israelischen Seite des Grenzübergangs Erez berichtet:

Jeden Tag hat uns jemand von der israelischen Armee angerufen und sie sagten: "Davon werdet ihr noch mehr und mehr sehen. Das ist nicht genug für euch. Und es ist wegen euch und der Hamas. Das wird nicht aufhören."

Die israelische Regierung stellte derweil klar, daß sie gar nicht daran denke, sich auf einen Waffenstillstand, wie in der jüngsten UN-Resolution gefordert, einzulassen. Dabei sieht sie sich nicht einmal veranlaßt, ihre Entscheidung, den Krieg fortzusetzen, zu rechtfertigen oder zu begründen. Offenbar kann sie es sich dank der tatkräftigen Unterstützung ihrer westlichen Partner, die so fundamental und uneingeschränkt ist, daß man an einen Statthalterkrieg denken könnte, den Israel im Auftrag der führenden westlichen Staaten um die unangefochtene Vorherrschaft im Nahen Osten führt, nicht nur leisten, Gebäude und Fahrzeuge der Vereinten Nationen im Gazastreifen direkt anzugreifen, sondern die Institution der Völkergemeinschaft selbst an den Pranger ihrer Terrorrechtfertigung zu stellen.

So soll NDR Info zufolge der stellvertretende Ministerpräsident Israels Eli Jischai von der ultraorthoxen Schas-Partei im Armeerundfunk zu der vom Weltsicherheitsrat verabschiedenen UN-Resolution erklärt haben, daß die UN "als ein Lobbyist der Terrororganisationen" agiert habe. Die Weltorganisation als einen Lobbyisten der Hamas zu bezeichnen, kommt einer verbalen Kampfansage oder gar Kriegserklärung gleich. Erklärtermaßen soll mit der Hamas die gewählte Regierung der Palästinenser gestürzt werden. Mit Mahmud Abbas steht schon ein Palästinenserpräsident von Israels Gnaden bereit, der willens ist, nach einem Sturz der Hamas, der aufgrund der tiefen Verwurzelung dieser Partei in der palästinensischen Bevölkerung nur äußerst gewaltsam vollzogen werden kann, die Regierungsgeschäfte auch im Gazastreifen zu übernehmen.

"Wir müssen die Operation fortsetzen, trotz der UN-Resolution", so Jischai. Wenn Israel sich herausnimmt, die Vereinten Nationen wegen einer ihm nicht genehmen Resolution als "Terror-Lobbyisten" zu brandmarken, dann ist das ein starkes Stück nicht etwa allein deshalb, weil der stellvertretende Ministerpräsident Israels damit die Vereinten Nationen insgesamt zu brüskieren versucht, sondern weil durch seine Worte - wenn auch indirekt - diejenigen westlichen Staaten sprechen, die durch ihre militärische, politische, wirtschaftliche, finanzielle und propagandistische Unterstützung Israel erst zu dem Aggressor gemacht haben, der es heute ist. Und nur so ist zu erklären, warum die israelische Armee UN-Schulen und Verwundetentransporte unter Inkaufnahme vieler Todesopfer angreifen kann, ohne daß dies für Israel auch nur die geringsten politischen Konsequenzen oder Sanktionen nach sich ziehen würde.

9. Januar 2009