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DILJA/1136: "Menschliche Schutzschilde" - Bezichtigungskonstrukt in der Kriegführung (SB)


"Menschliche Schutzschilde" im Gazakrieg?

Bezichtigungskonstrukt im Dienste militärischer Widerstandsbekämpfung und Kriegführung


Es ist schon auffällig, daß in Kriegen, die kaum als solche zu bezeichnen sind, weil sich in ihnen keine Kriegsparteien mit vergleichbaren Streitkräften annähernd auf gleicher Augenhöhe gegenüberstehen, vielfach der Vorwurf erhoben wird, daß Zivilpersonen als "menschliche Schutzschilde mißbraucht" würden. So geschehen im Afghanistan-Krieg, in dem die Kampfverbände der NATO und der USA, nachdem in zunehmendem Maße afghanische Zivilisten von ihnen getötet worden waren, im Jahre 2007 eine bessere Koordination auch mit der afghanischen Armee beschlossen hatten, um die Zahl der zivilen Toten zu senken. Zugleich bezichtigte ein NATO-Sprecher die gegnerischen Taliban, sie würden immer häufiger Zivilisten als "menschliche Schutzschilde" benutzen. Konkrete Beweise, etwa Fotos, die belegen würden, wie afghanische Kämpfer Frauen, Kinder, ältere oder gebrechliche Menschen ihres eigenen Volkes in die Schußlinie zerren, um ihre eigene Haut zu retten, konnten die westlichen Besatzungsmächte des Landes am Hindukusch damals ebensowenig vorlegen wie heute.

Als 25 Menschen im Juni 2007 in einer Woche durch Luftangriffe der Alliierten getötet worden waren, behauptete NATO-Generalsekretär Jaap de Hoop Scheffer, kein Soldat der NATO, der Koalition oder Afghanistans würde wissentlich Zivilisten aufs Korn nehmen. Gleichwohl gäbe es, was de Hoop Scheffer zu bedauern vorgab, immer wieder zivile Opfer, doch es seien die Taliban, die Zivilisten als menschliche Schutzschilde mißbrauchten. Eine solche Kriegsrhetorik ist an Perfidie kaum noch zu überbieten, und es liegt auf der Hand, daß die in derartigen Kriegen zur militärischen Niederschlagung eines von einheimischen Kämpfern geleisteten Besatzungswiderstandes die Deutungshoheit über das Kriegsgeschehen im internationalen Kontext in den Händen der Besatzer sowie der mit ihnen alliierten Staaten und Interessengruppen liegt.

Das Interesse, mit dem derartige Verhältnisse buchstäblich auf den Kopf gestellt werden, indem bewaffnete Gruppierungen, mögen sie auch von ihren Gegnern als irregulär bezeichnet werden, für die Toten auf der eigenen Seite verantwortlich gemacht werden, obwohl diese von ihren Gegnern getötet wurden, ist leicht zu entschlüsseln. Ein deutliches Beispiel einer solchen Kriegsrhetorik lieferte während des Afghanistankrieges der Stabschef im ISAF-Hauptquartier, der Bundeswehrgeneral Hans-Lothar Domröse, der am 15. September 2007 gegenüber dem Deutschlandfunk die Besatzungsstreitkräfte generell von jeglicher Schuld freisprach und im selben Atemzug die Verantwortung für jeden zivilen Toten in diesem Krieg den Taliban zuzulasten suchte:

Lassen Sie mich ganz klar herausstellen, daß wir jedes zivile Opfer, jedes Opfer überhaupt als eins zu viel betrachten. Wir wollen das nicht, und wir zielen nicht auf Unschuldige im Gegensatz zu dem Taliban, zu den Aufständischen. Wir werden angegriffen. Der Taliban in dieser Umgebung ist ja kein Kriegsgegner in Uniform oder in einem Panzer, sondern er sieht aus wie du und ich. Der einzige Unterschied von der Bevölkerung ist, daß er eine Waffe trägt oder abends eine Sprengfalle pflanzt. Und er nimmt in Kauf, daß Kinder, Ärzte und alle möglichen umkommen. Wir machen das nicht. Wenn er sich jetzt in einer Ortschaft versteckt, angreift und es kommt zu einem Gegenangriff durch die ISAF, treffen wir ihn meist. Aber wir können nicht ausschließen, daß das Schutzschild, in den er sich begibt, auch Schäden nimmt.

Im Gazakrieg, in dem nach offiziellen Angaben in drei Kriegswochen über 1.400 Palästinenser, unter ihnen 437 Kinder sowie Hunderte Frauen und alte Menschen, von der israelischen Armee getötet wurden, während auf israelischer Seite 13 Menschen starben, von denen vier Zivilisten waren, wurde von der weit überlegenen israelischen Armee dasselbe Rechtsfertigungs- und Bezichtigungskonstrukt verwendet wie von den westlichen Streitkräften in Afghanistan. Nach den ersten vier Kriegstagen, in denen durch israelische Luftangriffe über 360 Menschen im Gazastreifen getötet und rund 1.400 verwundet worden waren, verwahrte sich die israelische UN-Botschafterin Shalew in New York gegen etwaige Proteste seitens der Vereinten Nationen gegen die Kriegführung ihrer Regierung und erklärte, Israel würde die Angriffe auf den Gazastreifen bis zur vollständigen Vernichtung der Hamas weiterführen. Der Tod von Zivilisten, so Shalew, sei zwar bedauerlich, doch dafür sei die Hamas verantwortlich, denn diese benutze die Menschen als Schutzschilde.

Als die Gefangenenhilfsorganisation amnesty international, die Israel und der Hamas gleichermaßen vorwarf, Waffen gegen Zivilisten eingesetzt zu haben, speziell Israel vorhielt, durch Phosphorbomben aus US-amerikanischer Herstellung wie auch hochexplosive DIME-Munition schwere Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen begangen zu haben, weil diese Waffen in "unverhältnismäßiger Weise" gegen Zivilisten eingesetzt worden waren, wodurch Hunderte Kinder getötet und große Zerstörungen an Häusern und der Infrastruktur angerichtet worden seien, reagierte die israelische Regierung in altbekannter und international bereits in solchen Kriegen etablierter Weise. Das Verteidigungsministerium Israels warf amnesty vor, nicht beachtet zu haben, daß die Hamas eine Terrororganisation sei, die allein die Verantwortung für den Krieg trage. Die israelische Armee würde immer darauf achten, zivile Opfer zu vermeiden, während die Hamas Zivilisten als menschliche Schutzschilde mißbrauche und so weiter und so fort.

Gäbe es ein Foto, das in unbezweifelbarer Weise auch nur einen einzigen Hamas-Kämpfer oder einen anderen Angehörigen palästinensischer Milizen, die die Bevölkerung des Gazastreifens mit ihren im Vergleich zur israelischen Armee geringfügigen militärischen Mitteln zu verteidigen suchten, zeigt, wie er sich ein palästinensisches Kind vor den Kopf hält, um auf diese Weise selbst einer israelischen Kugel zu entgehen, hätte es wohl keinen Grund für Israel gegeben, dieses nicht zu veröffentlichen. Doch tatsächlich wird das Fehlen eines konkreten Beweises für diese schwere Anschuldigung zu kompensieren versucht durch deren stetige und stereotype Wiederholung, so als würde eine Beschuldigung, wenn sie nur oft genug wiederholt wird, an Glaubwürdigkeit gewinnen.

Zu Beginn der vorigen Woche richteten 16 hochrangige internationale Richter und Ermittler an UN-Generalsekretär Ban Ki Moon sowie die Botschafter im Weltsicherheitsrat ein Schreiben, in dem sie eine Untersuchung des Krieges im Gazastreifen forderten und ihr Entsetzen über das bekundeten, was in Gaza geschehen ist. Die israelische Regierung sah sich bislang nicht im mindesten veranlaßt, ihre Kriegsrhetorik bzw. -bezichtigungsstrategie aufzugeben. Richard Falk, UN-Sonderberichterstatter für die Lage der Menschenrechte in den besetzten palästinensischen Gebieten, erklärte, daß der Gaza-Krieg weder der Selbstverteidigung Israels gedient habe noch gerechtfertigt gewesen wäre.

Am 23. März erklärte Radhika Coomaraswamy, UN-Gesandte zum Schutz von Kindern in bewaffneten Konflikten, bezugnehmend auf den von UN-Menschenrechtsexperten erstellten Bericht, daß im Gazakrieg tatsächlich ein elfjähriger Palästinenser als "menschlicher Schutzschild" mißbraucht worden sei. Dem 43seitigen Untersuchungsbericht, der noch viele weitere Menschenrechtsverletzungen dokumentiere, zufolge haben israelische Soldaten am 15. Januar den palästinensischen Jungen gezwungen, vor ihnen her zu laufen, während sie in das Viertel Tel Al-Halwa von Gaza vorrückten.

Einen Tag später erklärte die israelische Armee in einer Pressemitteilung, sie sei "eine der moralischsten Armeen der Welt". Deshalb habe Generalstabschef Gabi Ashkenazi, wie die israelische Tageszeitung Haaretz berichtete, Schwierigkeiten, die Schilderungen israelischer Soldaten über diese und weitere Kriegsverbrechen zu glauben. Der britische Guardian wartete mit Videodokumentationen auf, in denen die israelische Armee schwer belastet und unter anderem der Vorwurf erhoben wird, sie habe Palästinenser, unter ihnen auch ein 14jähriger, gezwungen, israelischen Soldaten als Schutzschilde zu dienen. Der Generalstabschef stellte in Aussicht, daß die Vorwürfe, die er als "vereinzelte Vorfälle" verstanden wissen wollte, untersucht werden würden.

Von einer Abkehr der israelischen Führung von der eingeschlagenen Kriegspropaganda ist allerdings nicht das Mindeste zu vernehmen. So erklärte Mark Regev, Sprecher der scheidenden Olmert-Regierung, in Hinsicht auf den Bericht des UN-Sonderberichterstatters Falk, in dem nahegelegt wurde, daß die Angriffe des israelischen Armee "gemäß dem Völkerrecht vermutlich ein Kriegsverbrechen größten Ausmaßes" gewesen seien und daß die angegriffenen Menschen nicht einmal die Möglichkeit gehabt hätten, aus dem Gazastreifen zu fliehen, dieser sei "leider ein weiteres Beispiel der einseitigen, unausgewogenen und unfairen Haltung der UN-Menschenrechtskommission". Als der Bericht Falks beim UN-Menschenrechtsrat vorgelegt und diskutiert wurde, erklärte der Repräsentant Israels, Aharon Leshno-Yaar, daß schon diese Debatte eine Verletzung der UN-Charta darstelle und nichts als "leere politische Rhetorik" sei. Im übrigen - es erscheint schon müßig, dies überhaupt noch ein weiteres Mal auszuformulieren - hätten die Palästinenser Zivilisten zu "menschlichen Schutzschilden" gemacht und Waffen in Krankenhäusern und Schulen versteckt, weshalb Israel nun angegriffen werde, nur weil es solche Einrichtungen bombardierte ...

An dieser Stelle sei abschließend an Menschen erinnert, die sich freiwillig und im vollen Bewußtsein der damit verbundenen, auch für sie tödlichen Gefahren entschlossen haben, den Palästinensern in den Stunden größter Not, sprich militärischer Angriffe seitens Israels, beizustehen. Internationale Menschenrechtsaktivisten, zumeist aus westlichen Staaten stammend, haben auch im Gazakrieg palästinensische Sanitäter, die Verletzte und Tote bergen wollten, auf ihren gefahrvollen Wegen begleitet. Im Jahre 2003 waren mehrere internationale Aktivisten des International Solidarity Movement (ISM) getötet oder schwer verletzt worden, als sie als menschliche Schutzschilde versucht hatten, das Leben bzw. die Häuser von Palästinensern zu schützen. Die größte traurige Bekanntheit erreichte die 23jährige US-Amerikanerin Rachel Corrie, die aus nächster Nähe von einem israelischen Bulldozer überrollt und umgebracht wurde, obwohl dessen Fahrer sie gar nicht übersehen haben konnte.

Das Wall Street Journal brachte die offene Unterstützung, die westliche Staaten wie die USA für den Kriegskurs Israels aufbringen, nach dem Tod Rachel Corries einmal mehr auf den Punkt. Von der Getöteten wurde behauptet, sie haben "den Terrorismus gegen Israel" unterstützt und auch Amerika gehaßt. Es sei eine Schande, daß sie auf diese Weise sterben mußte, so das US-Magazin, und es sei eine Schande, wie sie gelebt habe. Solche Kommentare lassen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Der Begriff "menschliche Schutzschilde" wäre in Hinsicht auf Rachel Corrie und andere Aktivisten, die sich vollkommen unbewaffnet der israelischen Aggression mit ihrem Leib und Leben entgegenzustellen wagten, angemessen angewendet. Als Bezichtigungsinstrument, um eine Letztbegründung zur Kriegführung zu konstruieren, ist er jedoch in höchstem Maße fehlangewandt und mißbraucht.

27. März 2009