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DILJA/1143: Zwei tote Demonstranten am Geburtstag Abdullah Öcalans und der NATO (SB)


Zwei Demonstranten am Tag des 60jährigen NATO-Jubiläums getötet

Gedenkfeiern für den inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan im in der Türkei gelegenen Teil Kurdistans gewaltsam aufgelöst


Den 4. April 2009, den Tag ihres 60jährigen Bestehens, nahm die NATO zum Anlaß, um auf einem Gipfeltreffen in Strasbourg, Kehl und Baden-Baden eine neue Strategieausrichtung des vermeintlichen Verteidigungsbündnisses festzuschreiben und zuzuspitzen, die sich als generelle Selbstmandatierung zu militärischen Interventionen in aller Welt umschreiben ließe und gleichermaßen befürchten läßt, daß der eingeschlagene Eindämmungskurs gegenüber Rußland zwecks einer mittel- bis langfristigen feindlichen Übernahme des einstigen Systemkontrahenten fortgesetzt und intensiviert wird. Zugleich war der NATO-Gipfel eine Plattform, um die neue Trumpfkarte der Allianz, den zum Sympathie- und Hoffnungsträger aufgebauten neuen US-Präsidenten Barack Obama, im europäischen Rahmen erstmals live und hautnah medien- und öffentlichkeitswirksam in Szene zu setzen.

Die erste Europatournee Obamas hatte ihn zuvor zum G-20-Finanzgipfel nach London und nach seinen Auftritten in Strasbourg und Baden-Baden auch noch zum ersten US-amerikanisch-europäischen Gipfeltreffen seiner Amtszeit nach Prag geführt, wo er durch seine "Vision" einer atomwaffenfreien Welt zu punkten suchte. Zum Abschluß seiner Europa-Reise wurde er am Sonntagabend in der Türkei erwartet, deren Beitritt in die EU er schon zuvor gegenüber seinen europäischen "Partnern" befürwortet hatte. Doch wie schon in allen anderen europäischen Städten, in denen sich die Granden des politischen Geschäfts ein Stelldichein gegeben hatten, war es auch in vielen türkischen Städten zu Protesten, Kundgebungen und Demonstrationen gekommen, auf denen kritische und ablehnende Positionen gegen die NATO wie auch Obama deutlich gemacht wurden. So hatten bereits am Samstag, einen Tag vor dem Besuch Obamas in der Türkei, in Istanbul und Ankara tausende Menschen gegen die US-Außenpolitik demonstriert und insbesondere den neuen US-Präsidenten aufgefordert, der Türkei fernzubleiben.

Am Sonntagabend landete die Präsidentenmaschine gleichwohl auf dem Flughafen von Ankara. Zu diesem Zeitpunkt waren zwei Demonstranten, die am Tag zuvor zeitnah zu den Anti-NATO- und Anti-Obama-Protesten im Südosten des Landes an einer von der türkischen Polizei gewaltsam aufgelösten kurdischen Kundgebung teilgenommen hatten, schon ihren schweren Verletzungen erlegen. Mit Obamas Stippvisite in die Türkei, bei der er am heutigen Montag in Ankara Gespräche mit Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan und Staatspräsident Abdullah Gül führt, eine Rede vor dem türkischen Parlament halten sowie einen Kranz im Mausoleum des Staatsgründers Kemal Atatürk niederlegen wird, haben diese Toten nichts oder doch sehr viel zu tun. Sie starben fernab der türkischen Westküste im in der Südosttürkei gelegenen Teil Kurdistans. Rund dreitausend kurdische Demonstranten hatten versucht, in den Geburtsort des seit zehn Jahren unter den Bedingungen der Isolationsfolter auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten PKK-Vorsitzenden Abdullah Öcalan zu gelangen.

Der Fernsehnachrichtenagentur Dogan zufolge war ein Aufgebot von hunderten Polizeikräften dabei, um unter Einsatz von Wasserwerfern und Tränengas die Menge aufzulösen und daran zu hindern, die gesperrte, in das Geburtsdorf Öcalans Omerli führende Straße zu erreichen. Wie die amtliche Nachrichtenagentur Anadolu meldete, wurden neun Menschen dabei verletzt, von denen zwei später im Krankenhaus ihren Verletzungen erlegen seien. Während sich die Wogen über die zum Teil gewaltsamen Anti-NATO-Proteste in Strasbourg, bei denen die Frage, ob und inwiefern polizeiliche Provokationsstrategien zu ihrer Entstehung beigetragen haben, noch lange nicht geklärt ist, sich noch nicht gelegt haben, stellen zwei tote Demonstranten in Südosten der Türkei offensichtlich kein medienrelevantes Thema dar.

Dabei stehen die kurdischen Proteste, in deren Verlauf die beiden jungen Männer von der türkischen Polizei getötet wurden, wenn nicht in einem unmittelbaren, so doch in einem mittelbaren Zusammenhang mit der NATO und dem vermeintlichen Hoffnungsträger Barack Obama. Die Türkei als Mitgliedsstaat der NATO führt gegen den aufständischen kurdischen Teil seiner Bevölkerung schon seit langem Krieg, ohne daß dies innerhalb des Bündnisses mehr als ein Achselzucken hervorgerufen hätte, das die stillschweigende Akzeptanz der übrigen NATO-Staaten mit diesem eher inoffiziellen Krieg nur unterstreicht.

Die militärstrategische Bedeutung der Türkei und ihres traditionell von Kurden besiedelten Südostens steht aus Sicht der NATO so unanfechtbar außer Frage, daß weder beim Gipfeltreffen anläßlich des 60jährigen Bestehens des Bündnisses noch bei irgendeiner anderen Gelegenheit die Frage aufgeworfen oder diskutiert worden wäre, ob nicht die von kurdischen Aktivisten wie der in der Türkei inhaftierten Trägerin des Sacharow-Friedenspreises des EU-Parlaments, Leyla Zana, propagierte Idee einer türkischen Demokratie, in der das türkische und kurdische Volk zusammenleben, viel eher eine Gewähr für politisch stabile Verhältnisse auch im Südosten der Türkei bieten würde als der derzeitige, türkisch-nationalistische Staat mit einem für eine echte Demokratie abträglich großen Einfluß des Militärs.

Am 4. April feierte nicht nur die NATO ihren 60. Jahrestag, auch Abdullah Öcalan wurde an genau diesem Tag 60 Jahre alt. Von Feierlichkeiten kann in seinem Fall jedoch nicht die Rede sein, hat doch die inzwischen über zehnjährige Isolationshaft bei ihm zu schwerwiegenden gesundheitlichen Schäden geführt, weshalb schon im Herbst vergangenen Jahres kurdische Politiker und Aktivisten verstärkt die Forderung nach seiner Verlegung in ein Normalgefängnis aufgestellt hatten. Auch in Strasbourg hatten kurdische Teilnehmer am vergangenen Wochenende die Freilassung des PKK-Führers verlangt, den sie als "Gefangenen der NATO" bezeichneten. Ebenfalls im französischen Strasbourg hatten erst vor wenigen Wochen über 50.000 Menschen, die meisten von ihnen Kurden aus vielen Ländern Europas, vor dem Europarat für die Freilassung Öcalans demonstriert, wie es auch in der Türkei selbst anläßlich des 15. Februar, an dem sich die Verschleppung des PKK-Führers zum 10. Mal gejährt hatte, zahlreiche Kundgebungen und Demonstrationen gegeben hatte.

In Strasbourg hatten auf der Kundgebung mehrere Redner, unter ihnen die Vorsitzende der DTP, Emine Ayna, vorgebracht, daß der Europarat ungeachtet des Votums seines Antifolterkomitees (CPT) für eine Aufhebung der gesundheitsschädlichen Isolationshaft Öcalans keine Schritte zu dessen Umsetzung eingeleitet hat. Allem Anschein nach ist das NATO-Mitgliedsland Türkei gegenüber humanitär und menschenrechtlich begründeten Forderungen auch dann immun, wenn sie von einem europäischen Gremium wie dem Europarat vorgetragen werden. Barack Obama, dessen primäre Funktion darin besteht, den Ansehensverlust der USA keineswegs in der gesamten Welt, so doch aber im Verhältnis zu den eigenen Verbündeten zu kompensieren, steht jedoch bei der im Rahmen der NATO nicht einmal gestellten Frage nach der Souveränität, Anerkennung und Autonomie der in der Türkei lebenden Kurden felsenfest in den Stiefelspuren seines Amtsvorgängers.

Mit seinem heutigen Auftritt in den türkischen Metropolen Ankara und Istanbul hat Barack Obama etwaige Hoffnungen darauf, daß in seiner Amtszeit der US-amerikanische Einfluß auf die türkische Regierung (und das türkische Militär) womöglich einen "Change" (Wechsel) in deren Kurden-Politik bewirken oder doch zumindest einleiten könnte, vom Tisch gefegt. Washington, ob nun angeführt von einem Bush oder einem Obama, setzt die ebenso von den übrigen NATO- und EU-Staaten eingeschlagene und beibehaltene Linie fort, der Türkei ihre gewaltsame Unterdrückung kurdischer Proteste, Emanzipations- und Autonomiebestrebungen nachzusehen. Schließlich wird diese durch einen militärischen und ihren Hegemonialbestrebungen dienlichen Zweck, dem von den Menschenrechtskriegern der heutigen NATO in diesem Fall selbstverständlich auch die Menschenrechtsrhetorik nachgeordnet wird. geadelt.

Und so reihen sich die beiden jungen Kurden, die am 60. Geburtstag Abdullah Öcalans, der - welch ein Zufall - auch der 60. Jahrestag der NATO war, in die lange Liste all jener Toten ein, die in diesem langen und aus besagten Gründen wenig beachteten Krieg bislang schon ums Leben gekommen sind.

6. April 2009