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DILJA/1198: Einen "sauberen" Krieg kann es auch in Afghanistan nicht geben (SB)


Massakervorwürfe gegen die Bundeswehr nach Bombardierung zweier Tanklastzüge mit 135 Toten in der Nähe von Kundus

Einen "sauberen" Krieg zu fordern, heißt Krieg zu rechtfertigen


In Afghanistan wird von seiten der westlichen Streitkräfte Krieg geführt. Seit nunmehr acht Jahren befindet sich eine auf höchstem technologischen Niveau operierende Kriegsallianz in dem Land am Hindukusch, der es in diesen langen Jahren nicht gelungen ist, Afghanistan zu befrieden oder auch nur zu stabilisieren. Die "Taliban", wie der Kriegsgegner oder, besser gesagt, der afghanische Besatzungswiderstand um der schnellen Rede willen und losgelöst von der Frage, um welche bewaffneten Milizen oder Kampfverbände es sich im einzelnen handeln mag, genannt wird, scheinen stärker denn je zu sein und bedienen sich in diesem "asymmetrischen" Krieg der klassischen Mittel und Waffen einer Guerilla, die sich eines militärisch übermächtigen Feindes im eigenen Land zu erwehren gewillt ist.

Zu diesem Repertoire gehören kleine und kleinste Attacken und Angriffe, die für sich genommen, auch wenn sie durchaus Tote und Verletzte unter den Besatzungsstreitkräften fordern, militärisch gesehen keine Erfolgsaussichten haben; in der Summe jedoch eine Situation herbeiführen, in der von einer tatsächlichen Kontrolle der Okkupationsarmee über das Land und die in ihm lebenden Menschen nicht einmal ansatzweise die Rede sein kann. Die hohe und stetig wachsende Zahl nahezu täglich durchgeführter Angriffe hat in Afghanistan bereits zu einer militärischen Lage geführt, die schlichtweg als katastrophal zu bezeichnen ist, weil sich die NATO- und US-Streitkräfte außerhalb ihrer hochgesicherten Stützpunkte nirgends sicher sein können. Wie der heutige Selbsttötungsanschlag auf den Flughafen von Kabul, über den der zivile wie auch der militärische Luftverkehr abgewickelt wurde, unterstreicht, werden gezielte und effiziente Angriffe auf die Infrastruktur und Nachschubwege der westlichen Militärmaschinerie geführt - der Flughafen mußte bis auf weiteres geschlossen werden.

Doch auch die Nachschubwege im Landesinneren sind immer wieder Angriffsziele afghanischer Aufständischer. Der Nachschub stellt, militärisch gesprochen, so etwas wie eine Achillesferse der westlichen Besatzungsstreitkräfte dar, die nicht nur rund 100.000 Soldaten mit allem versorgen müssen, was diese im Minimum erwarten und einfordern, um diesen Kriegsdienst auch weiterhin zu leisten, sondern auch in großem Umfang militärisches Gerät warten und vor allem ständig für Treibstoff sorgen müssen. All dies ist ihren Gegnern nicht unbekannt, und so darf angenommen werden, daß die in der Nacht zum vergangenen Freitag erfolgte "Kaperung" zweier von Privatfirmen organisierter Tanklastwagen, deren Fracht für das deutsche Kontingent in Kundus bestimmt war, durch die "Taliban" Bestandteil einer wohldurchdachten und systematisch verfolgten Strategie der afghanischen NATO-Gegner ist und darauf abzielt, die Besatzer an ihrer empfindlichsten Stelle zu treffen.

In einem nach Mitternacht von Taliban-Kämpfern errichteten, vermeintlichen Kontrollpunkt wurden die Tanklastwagen von diesen übernommen, wobei, wie die Frankfurter Rundschau berichtete, die Fahrer geköpft worden sein sollen. Die "entführten" Tanklastwagen fuhren weiter, allerdings in entgegengesetzer Richtung des in ungefähr sieben Kilometer Entfernung gelegenen deutschen Stützpunktes. All dies geschah nicht unbemerkt. Die Tanklastwagen wurden von einer unbemannten Drohne verfolgt, so daß die verantwortlichen NATO-Kommandeure über das Geschehen buchstäblich im Bilde waren. Bei dem Versuch, den Fluß Kundus zu überqueren, blieben die schweren Fahrzeuge im Sand stecken.

Sabjullah Mudschahid, ein Sprecher der Taliban, schilderte den weiteren Verlauf so, daß zunächst versucht worden sei, Treibstoff abzulassen, und die Fahrzeuge wieder in Gang zu bekommen. Aus einem nahegelegenen Dorf seien etwa 500 Menschen herbeigeströmt, um sich Treibstoff zu holen; sie hätten sich, trotz Warnungen vor drohenden Luftangriffen, nicht wegschicken lassen. Bei den Bombardierungen seien keine Taliban-Kämpfer getötet worden. Diese Darstellung kann selbstverständlich bezweifelt werden; dies gilt für die Darstellungen der anderen Seite, sprich der Bundeswehr und der NATO, jedoch nicht minder. Ein Dorfbewohner erklärte gegenüber der Nachrichtenagentur dpa, daß bei den Bombardierungen "mehr als 150 Menschen getötet oder verletzt wurden". Mohammed Omar, der Gouverneur der Provinz Kundus, behauptete, daß der Großteil derjenigen, die die Tanklastwagen umstanden hatten und durch die Bombenangriffe getötet wurden, "bewaffnete Taliban" gewesen seien, erklärte jedoch zugleich, daß es sehr schwierig sei, dies genau herauszufinden, weil die "Menschen um die Tanklastwagen schwer verbrannt wurden".

Nach Schilderung der "Washington Post" wurde nach dem Abwurf von zwei 500-Pfund-Bomben durch US-Kampfbomber von Bundeswehrsoldaten kein Versuch unternommen, die Toten zu bergen und die Verletzten zu versorgen. Erst nach Sonnenaufgang sei eine unbemannte Aufklärungsdrohne am Ort des Geschehens erschienen, und als gegen Mittag die ersten deutschen Soldaten auftauchten, waren die Toten bereits beerdigt worden. Am Freitagmittag, als Bundesverteidigungsminister Jung noch behauptete, es seien "nach bisherigen Erkenntnissen" "Unbeteiligte nicht zu Schaden gekommen", waren bereits Massengräber ausgehoben worden. Ein dpa-Mitarbeiter sah in zwei Dörfern des Distrikts 60 frische Gräber; ein Dorfältester soll von 50 Begräbnissen in seinem Dorf und 70 weiteren in den Nachbardörfern gesprochen haben.

Nach Angaben des Sprechers des Bundesverteidigungsministeriums, Thomas Raabe, erfolgte der Feuerbefehl des deutschen Oberst Georg Klein im Einklang mit den ISAF-Regeln. Die Darstellung der Washington Post, derzufolge sich der deutsche Kommandant bei dieser Entscheidung allein auf die telefonisch übermittelten Angaben eines afghanischen Informanten, denen zufolge sich in der Umgebung des Tanklastzüge keine Zivilisten befunden hätten, verlassen hätte, blieb von deutscher Seite unwidersprochen. Die Staatsanwaltschaft Potsdam sah sich veranlaßt zu prüfen, ob ein Anfangsverdacht wegen eines etwaigen Tötungsdelikts gegen den Oberst bestünde und ein Ermittlungsverfahren eingeleitet werden müsse. In politischer Hinsicht genießt der deutsche Kommandierende volle Rückendeckung. Bundeskanzlerin Merkel wies in einer Sondersitzung des Bundestages die inzwischen auch von NATO-Verbündeten geäußerte Kritik am Vorgehen der Bundeswehr zurück, verbat sich eine "Vorverurteilung" und brachte ihr Bedauern über "mögliche zivile Opfer" zum Ausdruck.

"Das afghanische Volk muß wissen, daß uns alles daran liegt, es zu schützen, und daß wir diesen Vorfall umfassend und umgehend untersuchen werden", versprach NATO-Generalsekretär Fogh Rasmussen nach Angaben von 3sat vom 4. September. Nach einer ersten Untersuchung bestätigte die NATO am heutigen Montag die Zahl von 135 Toten; der Oberkommandierende der ISAF- und US-Truppen, US-General Stanley McChrystal, beauftragte einen kanadischen Offizier mit einer offiziellen, auf mehrere Wochen angelegten Untersuchung des Vorfalls. Im übrigen hieß es auch in der Erklärung der NATO vom heutigen Montag, daß der Oberkommandierende vor Ort in der Annahme, es hätten sich keine Zivilisten in der Umgebung der Tanklastzüge befunden, die Bombenangriffe angefordert hätte und erst eine weitere Untersuchung ergeben hätte, daß sich sehr wohl auch Zivilisten unter den Opfern befinden.

Innerhalb der Bundestagsparteien - unter denen die Linkspartei in diesem Punkt eine Ausnahme bildet, da sie ohnehin seit langem den sofortigen und bedingungslosen Rückzug der Bundeswehr aus dem Afghanistankrieg fordert - wird ersatzweise die Informations- oder vielmehr Desinformationspolitik der Bundesregierung und namentlich des zuständigen Ministers zum Stein des Anstoßes genommen, während die Regierungschefin klarstellte, daß die Frage, ob sich die Bundeswehr aus diesem Krieg zurückziehen könne oder nicht, überhaupt nicht zur Disposition steht. "Der Kampfeinsatz der Bundeswehr zusammen mit unseren Partnern im nordatlantischen Bündnis in Afghanistan", so Merkel vor dem Bundestag, sei "notwendig", da er dazu beitrage, "die internationale Sicherheit, den weltweiten Frieden und Leib und Leben der Menschen hier in Deutschland vor dem Übel des internationalen Terrorismus zu schützen".

Gegen die Bundeswehr wegen des Befehls zur Bombardierung der von vielen Menschen umringten Tanklastwagen den Vorwurf zu erheben, in diesem Krieg ein Massaker begangen zu haben, unterstellt einen auch nur denkbaren Unterschied zwischen einem (sauberen) Krieg und Massakern bzw. Kriegsverbrechen, als welche die Tötung unbeteiligter Zivilisten fraglos definiert ist. Der mit dieser Unterscheidung zwischen einer legitimen und illegitimen Kriegführung behauptete Schutz der in Kriegsgebieten lebenden Menschen wird nicht nur nicht eingelöst, sondern kommt einer faktischen Rechtfertigung militärischer Gewaltanwendung gleich, weil sie es, wie angesichts der aktuellen Ereignisse unschwer nachzuzeichnen ist, der kriegführenden Seite ermöglicht, sich durch die Bezichtigung ihrer Opfer präventiv von jedem denkbaren Vorwurf zu entlasten.

Deutlicher als jeder Repräsentant der NATO dies je tun würde, brachte Ahmadullah Wardak, der Vorsitzende des Provinzrates von Kundus, dies gegenüber US-General McChrystal zum Ausdruck, als er - laut Washington Post vom 6. September - erklärte: "Wenn wir mehr solche Operationen wie diese durchführen, wird die Stabilität nach Kundus kommen. Wenn Leute nicht in Frieden und Harmonie leben wollen, ist das nicht unsere Schuld." [2] Diskussionen und Untersuchungen der Frage, ob der Feuerbefehl des deutschen Oberst in dieser Situation rechtmäßig war oder nicht und wieviele der getöteten Menschen nachträglich zu rechtmäßigen Zielen erklärt werden können, überlagern die angesichts des derzeitigen Unmuts über den Afghanistankrieg der Bundeswehr andernfalls womöglich aufflammende Grundsatzkontroverse über einen Krieg, der - wie jeder andere auch - seiner innersten Zweckbestimmung nach kein "sauberer" sein kann.

Anmerkungen

[1] Massaker bei Kundus, von Rüdiger Göbel, junge Welt, 5.9.2009, S. 1

[2] Bundesregierung bleibt stur, junge Welt, 8.9.2009, S. 2

8. September 2009