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DILJA/1199: Von Venezuela lernen? Analphabetismus und Bildungsmisere in Deutschland (SB)


Schlechte Noten für deutsche Bildungspolitik am Weltalphabetisierungstag

Kein Interesse im offiziellen Berlin am Beispiel Venezuelas


Am 15. September 2005 hielt Hugo Chávez Frías, der Präsident der Bolivarischen Republik Venezuela, auf der 60. UN-Vollversammlung in New York eine Rede, in der er die "bittere Schlußfolgerung" zog, daß sich die Vereinten Nationen als Modell erschöpft hätten und begründete dies unter anderem auch damit, daß das proklamierte Ziel, im Jahre 2015 eine allgemeine Grundschulbildung für alle ermöglicht zu haben, bei einer Beibehaltung des gegenwärtigen Tempos nicht vor dem Jahr 2100 erreicht werde. Reformen (im Rahmen der Vereinten Nationen) durchzuführen, reiche nicht aus, so der venezolanische Präsident, der vor vier Jahren vor der UN-Vollversammlung folgende Vision einer unter anderem auch vom Analphabetismus befreiten Welt entwarf:

Das 21. Jahrhundert erfordert tiefgreifende Veränderungen, die nur mit einer Neugründung dieser Organisation möglich sein werden. Diese hier taugt nicht mehr, wie wir feststellen müssen, das ist die reine Wahrheit. (...) Aber der Traum vom Weltfrieden, der Traum von einem "Wir" ohne Hunger, Krankheiten, Analphabetismus, extreme Not braucht neben Wurzeln auch Flügel zum Fliegen. Wir brauchen Flügel zum Fliegen. Wir wissen, daß es die schreckliche neoliberale Globalisierung gibt, aber es gibt eine vernetzte Welt als Realität, der wir uns stellen müssen - nicht als einem Problem, sondern als einer Herausforderung. [1]

In dieser Rede wies der venezolanische Präsident auf die sozialen und wirtschaftlichen Errungenschaften seines Landes nach "fast sieben Jahren Bolivarischer Revolution" hin und führte zum Bereich Bildung aus:

1.406.000 Venezolaner haben innerhalb von anderthalb Jahren Lesen und Schreiben gelernt. Wir sind rund 25 Millionen, und in wenigen Wochen, in wenigen Tagen, wird sich das Land als frei vom Analphabetismus erklären können. Drei Millionen Venezolaner, die zuvor aufgrund ihrer Armut vom Bildungswesen ausgeschlossen waren, sind in die Grund-, Sekundär- und Hochschulbildung einbezogen worden.

Dies sind überprüfbare Fakten, und in der Tat hat die Kulturorganisation der Vereinten Nationen (UNESCO) Venezuela noch im selben Jahr - 2005 - für frei vom Analphabetismus erklärt. Doch damit nicht genug, wird doch im heutigen Venezuela über die Vermittlung grundlegendster Kenntnisse hinaus die Verwirklichung des Rechtes auf Bildung für alle groß geschrieben. Die Bemühungen, über die 2005 abgeschlossene Bekämpfung des Analphabetismus hinaus die gesellschaftliche Teilhabe zuvor ausgegrenzter Menschen auch durch weitere Bildungsanstrengungen sicherzustellen, schilderte die Botschafterin des Landes, Dr. Blancanieve Portocarrero, in einem SB-Interview [2] im Dezember 2008 folgendermaßen:

Und alle die, die weitermachen wollten, nachdem sie lesen und schreiben gelernt haben, konnten dann weiter in den Grundschulunterricht gehen. Zum Beispiel Menschen, die in der dritten oder vierten Klasse von der Grundschule abgegangen wurden, sind dann wieder ins Bildungssystem einbezogen worden. Jugendliche, die zum Beispiel nach der Hälfte ihres Weges zum Schulabschluß oder zum Abitur aufgegeben haben oder aufgeben mußten, sind jetzt wieder im Schulbereich, um ihren Schulabschluß nachzuholen. Diejenigen, die jetzt das neue Abitur auf diesem Weg geholt haben, treten jetzt auch in die neue bolivarische Universität ein. Es gibt jetzt in Venezuela das spannende Phänomen, daß alle Welt studieren will. Ich glaube, das ist wirklich ein sehr interessantes Produkt und eben auch Ausdruck und Anwendung des Verfassungsrechts auf eine Bildung für alle.

Um sich der Fragestellung anzunähern, mit welcher Rezeptur die aus Sicht westlicher Staaten erstaunlich anmutende Tatsache, daß in eineinhalb Jahren 1,4 Millionen Menschen Lesen und Schreiben gelernt haben, in Venezuela bewerkstelligt worden sein könnte, erscheint es angebracht, das politische Grundverständnis zu thematisieren, mit dem die heutige Regierung Venezuelas sich der Bewältigung dieser Aufgabe gewidmet hat. Ebenfalls im Jahre 2005 führte der damalige Außenminister des Landes, Dr. Alí Rodríguez Araque, anläßlich eines Berlin-Besuchs aus, wie untrennbar aus der Sicht seiner Regierung das sogenannte Bildungsproblem mit der Gesamtentwicklung des Landes in seinem internationalen Kontext ist [3]:

Allerdings besteht eine geschichtliche Tradition: Die Supermächte haben immer versucht, ihre Vision und ihre Ideen den schwächeren Ländern - denen, die sie für schwächer hielten - aufzudrücken. Doch ist Schwäche ebenso relativ wie Stärke. Wir haben die Stärke der Wahrheit, die Stärke, daß wir verstanden werden: Wir besitzen die Unterstützung vieler Länder, die Venezuela als ein Beispiel sehen, das man zwar nicht kopieren muß, aber das man sich zumindest anschauen und von dem man lernen kann.

Schließlich geht es uns hauptsächlich darum, unseren wichtigsten inneren Feind zu bekämpfen, und das ist die Armut. Es ist unmöglich in einem Land, wo die große Mehrheit in Armut lebt, von Menschenrechten zu sprechen. Wir wollen den Menschen in Venezuela ihre elementarsten Rechte zurückgeben: Das Recht auf Leben, das auch die Rechte auf Nahrung, Gesundheit, Bildung sowie auf Beteiligung an den Entscheidungen des Landes beinhaltet. An der Verwirklichung dieser Ziele arbeiten wir intensiv. Das haben das Volk wie auch sehr viele Regierungen und Länder in der Welt verstanden.

Die Ergebnisse dieser Bemühungen sprechen für sich. Zwei Jahre später hatte die venezolanische Regierung nicht etwa nur wohlfeile Absichtserklärungen, sondern "harte" Fakten vorzuweisen, um die Fortschritte bei der Bekämpfung der Armut in Verbindung mit den Bildungs- und Sozialprogrammen zu belegen. So erklärte Präsident Chávez in einem Interview mit einer US-amerikanischen Journalistin [4]:

Wir setzen hier die Priorität auf Bildung, Gesundheitsversorgung, Wohnungen, Arbeit, die vollständige Entwicklung des Landes, und du kannst die Ergebnisse auf den Straßen sehen, in den Armenvierteln. Ich erwähne das, denn es ist Teil der Meinungsmache über Chávez, die in der Welt vorgenommen wird, daß er ein Waffenkäufer ist und Venezuela aufrüstet. Das ist das Minimum, das wir für die Verteidigung brauchen, aber hier sind die Berichte vom heutigen Tag, in der Presse von heute, sieh sie dir an, das erfüllt mich mit Befriedigung und mit Mut, um weiter zu kämpfen.

Die ärmsten Klassen Venezuelas ... Heute erscheint in der venezolanischen Presse eine Erhebung von Datanálisis, ein Meinungsforschungsinstitut, du kannst nachforschen, wer sie sind, sie sind nicht von der Regierung und unterstützen auch nicht die Regierung, sie unterstützen eher Teile der Opposition. Sie sagen, daß die ärmste venezolanische Schicht ihre Einkommen in den vergangenen zwei Jahren um fast 20 Prozent gesteigert hat, daß der Konsum der Ärmsten um fast 25 Prozent zugenommen hat, das zeigt, daß im Land ein Prozeß der Umverteilung des nationalen Reichtums hin zu einem gerechteren Land vor sich geht. Das ist mein wichtigstes Anliegen, hoffentlich wird dasselbe in den Vereinigten Staaten geschehen.

Wir haben die Armut von mehr als 50 auf 33 Prozent reduziert, die extreme Armut von über 20 auf zehn Prozent. Im Unterschied dazu sieht man in den Vereinigten Staaten, daß die Armut zugenommen hat, während der Regierungszeit von George Bush hat das Elend zugenommen - hier sind die Zahlen.

Doch zurück zur Bildung und dem im Gegensatz zu Venezuela in Deutschland wie auch in sehr vielen anderen Staaten der Erde bis heute nicht gelösten Problem des Analphabetismus. "Wir müssen deshalb den funktionalen Analphabetismus abbauen, um persönliche, gesellschaftliche und wirtschaftliche Teilhabe aller zu ermöglichen", hatte Bundesbildungsministerin Annette Schavan auf dem 12. Deutschen Hochschultag im Mai 2006 versprochen. Von Absichtserklärungen dieser und ähnlicher Art einmal abgesehen, hat sich bis heute an dem Problem nichts verbessert.

Anläßlich des Weltalphabetisierungstages am 8. September 2009 stellte Peter Hubertus, Geschäftsführer des Bundesverbandes Alphabetisierung und Grundbildung, einem gemeinnützigen Verein, der sich als einzige bundesweite Organisation für die Interessen der Betroffenen einsetzt, fest, daß sehr viele Menschen aus Angst vor Entdeckung ihre Lese- und Schreibschwäche zu verbergen suchen. Nach Experteneinschätzungen [5] gibt es in der Bundesrepublik Deutschland rund vier Millionen Erwachsene, die "nur geringe Lese- und Schreibfähigkeiten" haben und als funktionale Analphabeten gelten.

In Folge der sogenannten "Arbeitsmarktreformen" sind die Fördermöglichkeiten für sie in den vergangenen Jahren sogar noch abgebaut worden. In Berlin, wo die Zahl der funktionalen Analphabeten auf 164.000 Menschen geschätzt wird, jedoch noch höher sein könnte, stehen nach den Ergebnissen einer im Auftrag der Bündnisgrünen durchgeführten Untersuchung des Sozialwissenschaftlers Thomas Welzenbacher gerade einmal 1500 Lernplätze pro Jahr zur Verfügung. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat bis zum Ende der Weltalphabetisierungskampagne im Jahr 2012 30 Millionen Euro zur Verfügung gestellt zur Projektförderung, wodurch insgesamt 27 Verbände staatliche Mittel erhalten. Mit anderen Worten: Für die Bundesrepublik Deutschland ist eine Verbesserung der Lage im Interesse der Betroffenen auf absehbare Zeit nicht nur nicht zu erwarten, sondern geradezu ausgeschlossen.

So ist es auch nicht verwunderlich, daß die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) Deutschland in Sachen Bildungspolitik schlechte Noten erteilt hat. Aus einer am Weltalphabetisierungstag in Berlin vorgelegten Erhebung geht hervor, daß die Bildungsausgaben in Deutschland mit 4,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts vergleichsweise niedrig sind und innerhalb der OECD-Mitgliedsländer nur noch von der Türkei, der Slowakei, Spanien und Irland unterboten werden. Bildungsministerin Schavan stellte dem die Absichtserklärung gegenüber, bis 2015 die Bildungsausgaben auf sieben Prozent des BIP erhöhen zu wollen. Doch nicht nur in der Grundbildung schneidet die Bundesrepublik im internationalen Vergleich demnach schlecht ab, auch in der Hochschulförderung belegt sie einen der hinteren Plätze. So betrug der Anteil der Studienanfänger eines Altersjahrganges im Jahre 2007 in Deutschland mit 34 Prozent deutlich unter dem OECD-Durchschnitt von 56 Prozent. Die deutsche Kultusministerkonferenz hat sich das bescheidene Ziel gesetzt, diese Zahl bis 2015 auf 40 Prozent zu erhöhen.

Zum Vergleich: In Venezuela sind in den ersten acht Jahren der Regierungszeit von Präsident Chávez die Bildungsausgaben verdreifacht worden - von 3 auf 9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Vor zwei Jahren kündigte Präsident Chávez bereits an, das Bildungswesen weiter zu reformieren und private Schulen künftig stärker zu kontrollieren. Bis 2010 solle das vom Staat gelenkte "bolivarische Erziehungssystem" alle Bildungseinrichtungen Venezuelas erfassen, um den "eurozentrischen Kolonialismus" der alten Schulordnung endgültig zu überwinden. Nicht von ungefähr entzünden sich gerade auch an der Bildungsfrage die Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und ihren Anhängern und einer "Opposition", die angesichts ihrer langjährigen Mißerfolge bei Wahlen zu anderen Mitteln zu greifen in diesem Jahr abermals im Begriff steht, um die alte Privilegienordnung wiederherzustellen.

Schon im Dezember vergangenen Jahres war es in der Hauptstadt Caracas wie auch in einigen Bundesstaaten zu Ausschreitungen und Zusammenstößen gekommen, nachdem Oppositionspolitiker nach ihren Wahlerfolgen begonnen hatten, die sozialen Errungenschaften der Regierung Chávez, so die Einrichtungen kommunaler Räte, sozialer Missionen und eben auch des Bildungsprogramms "Misión Ribas" aufzulösen und einzuschränken. Zu Tausenden gingen die betroffenen Menschen auf die Straßen, um ihre nun gefährdeten Schulabschlüsse zu verteidigen. Das Recht auf Bildung für alle, wie es in der Verfassung der Bolivarischen Republik Venezuelas eigens verankert wurde, ist den Verfechtern der vorherigen, auf die Protegierung einer kleinen Oberschicht und ihr zugeneigten Mittelschicht abgestellten Gesellschafts- und Staatsordnung ganz offensichtlich ein Dorn im Auge.

"Bildung", wie sie im heutigen Venezuela verstanden, staatlicherseits gefördert und verwirklicht wird, kann keineswegs synonym gesetzt werden mit der Bereitstellung paßförmiger Menschen, die in einer aus Sicht des gesellschaftlichen Produktions- bzw. Verwertungsapparates optimal modifizierten Weise eben diesen Verwertungsinteressen entsprechen. Die sogenannte Bildungsmisere in Deutschland, die keineswegs monokausal mit den zu niedrigen Bildungsausgaben erklärt werden kann, korrespondiert in Zeiten nicht mehr kaschierbarer Massenarbeitslosigkeit mit der Tatsache, daß der Produktionsmoloch inklusive seines gesamten, auch administrativen Anhangs nur noch an einer gewissen Zahl verwertbarer und mit einem bestimmten Qualifikationsprofil ausgestatteter Menschen interessiert ist, weshalb die allgemeine Bildung und berufliche Qualifikation aller Bundesbürger kein sinnvolles und damit lohnendes Investitionsziel darstellt.

Die staatliche Bildungspolitik hierzulande ist, allen Absichtsbekundungen zum Trotz, solchen Zielvorgaben nachgeordnet. Wäre dem nicht so, ließen sich die offensichtlichen Mängel, bis hin zu einer auf vier Millionen geschätzten Zahl schreib- und leseunkundiger Menschen, nicht erklären. Wäre dem nicht so, hätten bundesdeutsche Bildungspolitiker längst am Beispiel Venezuelas Interesse bekunden und von den dort gemachten Erfahrungen profitieren können. Nichts jedoch läge den hiesigen Verantwortlichen ferner, als angesichts des Bildungsnotstandes in einem der führenden westlichen Staaten Anleihen am "roten" Venezuela zu nehmen, dessen "bolivarische Revolution" hier umso verhaßter sein dürfte, je unübersehbarer ihre Erfolge bei der Bewältigung von Problemen, die deutsche Regierungen seit langem unbewältigt vor sich herschieben, zu Tage treten.

Anmerkungen

[1] Für eine neue internationale Ordnung. Rede des Präsidenten der Bolivarischen Republik Venezuela, Hugo Chávez Frías, auf der 60. Vollversammlung der Organisation der Vereinten Nationen, New York, 15. September 2005, dokumentiert in der jungen Welt, 23.09.2005

[2] "Deswegen verteidigt die Bevölkerung auch ihre Revolution", Interview mit Dr. Blancanieve Portocarrero, Botschafterin der Bolivarischen Republik Venezuela in der Bundesrepublik Deutschland, Schattenblick -> INFOPOOL -> PANNWITZBLICK -> REPORT, INTERVIEW/001, 9. Dezember 2008,
http://schattenblick.net/infopool/pannwit/report/ppri0001.html

[3] "Wir folgen den Träumen unserer Befreier" Gespräch mit Dr. Alí Rodríguez Araque, Außenminister der Bolivarischen Republik Venezuela, von Gerd Schumann, junge Welt, 16.04.2005

[4] "Warum noch mehr Krieg?" Der venezolanische Präsident Hugo Chávez im Interview mit der US-Journalistin Barbara Walters, ABC News (Teil II), junge Welt, 30.07.2007, S. 10

[5] Ihr Kreuz ist die Schrift. Heute ist Weltalphabetisierungstag: Mindestens vier Millionen Menschen in Deutschland können nicht lesen und schreiben, von Christian Linde, junge Welt, 8.9.2009, S. 3

10. September 2009