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DILJA/1227: Die heimlichen Herrscher der Türkei lassen Kurdenpartei verbieten (SB)


Kurdische Intifada - Massenproteste nach Verbot der Kurdenpartei DTP

Türkische Generalität unterbindet Regierungsinitiative zur politischen Lösung des Kurdenkonflikts


Am Freitag, dem 11. Dezember 2009, verhängte das türkische Verfassungsgericht ein Verbotsurteil gegen die einzige, seit 2007 im türkischen Parlament vertretene Kurdenpartei, die "Partei für eine demokratische Gesellschaft" DTP. Damit sind auf einen Schlag sämtliche politischen Bestrebungen von Regierungs- wie auch kurdischer Seite, auf dem Reform- und Verhandlungswege eine Deeskalation und Lösung des sogenannten Kurdenproblems in der Türkei herbeizuführen, zunichtegemacht worden. Da sowohl Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan von der regierenden konservativen und gemäßigt islamischen "Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung" (AKP) als auch der DTP-Vorsitzende Ahmet Türk mit diesen politischen Lösungsbemühungen persönlich identifiziert werden können - beide waren im August zu diesbezüglichen Gesprächen zusammengekommen -, liegt die Schlußfolgerung nahe, daß in der Türkei staatliche Organe interveniert haben, die nicht wie die regierende AKP und ihr Ministerpräsident Erdogan direkt demokratisch legitimiert sind.

In der Türkei ist es nicht etwa ein offenes, sondern gar kein Geheimnis, daß das Militär bzw. die Generalität in dem von ihr gebildeten Nationalen Sicherheitsrat als der eigentliche Herrscher im Staate anzusehen ist, der, den formal demokratischen Strukturen und Institutionen quasi vorgelagert oder übergestülpt, aus dem Hintergrund die Fäden zieht und nur dann offen interveniert und in Erscheinung tritt, wenn die offiziellen Repräsentanten die ihnen nach Ansicht des Generalstabs obliegenden Aufgaben nicht zu dessen Zufriedenheit erfüllen. Da die elf Richter des Verfassungsgerichts, somit des höchsten Gerichts der Türkei, ihre Verbotsentscheidung gegen die DTP am Freitag einstimmig fällten, liegt die Vermutung nahe, daß in diesem Fall eine direkte Weisung des Militärs vorgelegen haben könnte.

Wie Hasim Kilic, Präsident des Verfassungsgerichts, zur Begründung des Verbotsurteils ausführte, könne einer Partei, die "mit dem Terrorismus zu tun hat", keine Organisationsfreiheit eingestanden werden. Dazu muß man wissen, daß in der Türkei, um die unter dem Druck der EU eingeräumte Stärkung der Bürgerrechte zu neutralisieren, im Juli 2006 ein neues sogenanntes Antiterrorgesetz erlassen wurde, das den polizeilichen Schußwaffengebrauch ebenso ausweitet wie das repressive Vorgehen gegen Presseorgane. Ebenso wurde der Anwendungsbereich des Begriffs "Terror" ausgedehnt auf das "Schüren von Angst und Panik" in den Medien sowie die "Entfremdung des Volks vom Militär". Letzteres ist in einem Staat, der aus taktischen und strategischen Gründen sehr großen Wert darauf legt und in Hinsicht auf seine europäischen und US-amerikanischen Verbündeten legen muß, als eine rechtsstaatliche Demokratie anerkannt zu werden, eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, und so gibt sich die Türkei als eine verkappte Militärdiktatur an dieser wie auch vielen anderen Stellen zu erkennen.

Für die in der Türkei lebenden Kurden, die mit rund 15 Millionen Menschen einen Anteil von rund 20 Prozent am Staatsvolk bilden und insofern kaum als eine Minderheit bezeichnet werden können, bedeutet dies die stetig wiederkehrende Erfahrung, daß politische Verhandlungsangebote und Zugeständnisse zunichtegemacht und mit repressiven Mitteln unterbunden werden, je moderater und kompatibler in Hinsicht auf die vorgeblichen Wertmaßstäbe der EU sie von kurdischen Repräsentaten gegenüber der türkischen Regierung vorgebracht werden. Der nun verbotenen DTP wurde zum Vorwurf gemacht, die seit langem illegalisierte Kurdische Arbeiterpartei (PKK) unterstützt zu haben bzw. als deren politischer Arm in Erscheinung getreten zu sein. Wie der DTP erging es seit den 1990er Jahren bereits vier weiteren kurdischen Parteien, deren "Verbrechen" aus türkischer Sicht keineswegs darin bestanden hatten, zum bewaffneten Kampf gegen die Türkei aufgerufen, sondern - wie die DTP - auf ein gleichberechtigtes Zusammenleben von Türken und Kurden in einer demokratischen Republik Türkei hingearbeitet zu haben.

"Wenn das Gericht die Partei auflöst, wird das schlicht eine Art von politischem Putsch sein, und es wird das Schließen der politischen Kanäle für die kurdische Bevölkerung bedeuten", hatte der DTP-Vorsitzende Türk kurz vor der am Freitag ergangenen Entscheidung vorhergesagt. Gegen ihn wie auch die Parlamentsabgeordnete Aysel Tugluk und die Oberbürgermeister der Großstädte Batman und Siirt wurde vom Verfassungsgericht zudem ein fünfjähriges politisches Betätigungsverbot verhängt, so daß Türk und die übrigen, insgesamt 37 Betroffenen (auch in einer anderen, womöglich neugegründeten) Partei weder als Gründer oder Mitglied noch in irgendeinem Parteiamt tätig werden können.

Schon vor ihrem offiziellen Verbot waren Büros der DTP vermehrt von ihren in der äußerten Rechten zu verortenden politischen Gegnern angegriffen worden. Zwei Tage, bevor das Verfassungsgericht am Mittwoch seine Beratungen aufgenommen hatte, war in der Provinzstadt Tokat ein Anschlag auf eine Militärpatrouille durchgeführt worden, durch den sieben wehrpflichtige Soldaten starben. Die PKK sei im Krieg zurück, titelten sofort türkische Zeitungen, und selbstverständlich wurde dieser Anschlag auch der DTP angelastet, obwohl diese sich durch ihren Vorsitzenden Türk umgehend distanzierte und erklärte, daß dieser Angriff dringend aufgeklärt werden müsse und daß es sich bei ihm um eine Provokation, hinter der der Kurdenpolitiker das rechtsextreme Ergenekon-Netzwerk vermutet, gehandelt habe.

Die 19 DTP-Abgeordneten im türkischen Parlament legten aus Protest gegen das Verbot am Samstag ihre Mandate geschlossen nieder. Für die "kurdische Initiative" vom Ministerpräsident Erdogan gibt es somit zur Zeit auf kurdischer Seite keinen Gesprächspartner, weshalb der womöglich auf Geheiß des Generalstabs erfolgte Schritt des Verfassungsgerichts auch eine gegen die AKP-Regierung gerichtete politische Komponente aufweist. Mit Erdogans Reformvorhaben, wie ernst auch immer der türkische Ministerpräsident es gemeint haben mag, hätten die demokratischen Rechte der Kurden gestärkt und die kurdische Sprache legalisiert werden sollen. Eine Amnestielösung für PKK-Kämpfer, die den bewaffneten Kampf eingestellt haben, gehörte ebenfalls zu dem Verhandlungspaket.

Doch allem Anschein nach hält der regierende Ministerpräsident die politischen Fäden nicht in der Hand, was keineswegs als etwaiges Versagen Erdogans, sondern als Ausdruck und Ergebnis der in der Türkei tatsächlich vorherrschenden Verhältnisse zu bewerten ist. Bezeichnenderweise sind in der Türkei nicht nur kurdische Parteien, sondern auch andere, die nach Auffassung der heimlichen Herrscher der laizistischen Staatsdoktrin zuwiderhandeln, von Verboten und Verbotsdrohungen betroffen. So erging es bereits 2001 der als islamisch geltenden "Tugendpartei" des damaligen Ministerpräsidenten Erbakan, und so wäre es - beinah - im vergangenen Jahr auch der regierenden AKP Erdogans ergangen. Gegen sie hatte mit Generalstaatsanwalt Abdurrahman Yalçinkaya derselbe Staatsanwalt, der im November 2007 das Verbotsverfahren gegen die DTP eingeleitet hatte, 2008 ebenfalls ein Parteiverbot angestrengt.

Die regierende AKP war dem nur knapp entronnen, da unter den elf Richtern des Verfassungsgerichts keine Mehrheit zustandekam. Erdogan, der den Kurden eine "demokratische Öffnung" in Aussicht gestellt hatte, sprach sich nun generell gegen Parteienverbote - also auch das der DTP - aus. Gegen die Massenproteste, die nach dem Urteil in den kurdischen Provinzen ausgebrochen sind, ging die Polizei mit äußerster Härte und sogar unter Einsatz von Schußwaffen vor. Hatten die Proteste und Demonstrationen wütender Kurden angesichts brutalster Repression schon zuvor an Militanz zugenommen, macht nun bereits das Wort von einer kurdischen Intifada die Runde. In vielen kurdischen Städten kam es am Wochenende zu Straßenschlachten zwischen der Polizei und der Gendarmerie und oftmals jugendlichen Demonstranten. "Wir haben den Frieden unterstützt, aber sie haben uns verboten", lautete die bittere Bilanz Ahmet Türks in einer letzten Pressekonferenz als DTP-Vorsitzender am Freitagabend.

Über die Möglichkeit einer Neugründung soll nun dem Vernehmen nach auf einer großen Versammlung in Diyarbakir beraten und entschieden werden. Würde dies geschehen, wäre unschwer vorauszusagen, daß das Propagieren kurdischer Minimalforderungen wie der nach Föderalismus und muttersprachlichem Unterricht abermals als Indiz für eine politische Nähe zur verbotenen PKK gedeutet werden würde. PKK-Gefangene sollen unterdessen die kurdische Bevölkerung zum Aufstand auf der Straße aufgerufen haben. Da mit Türk und vielen weiteren kurdischen Politikern, die als moderat gelten und einer Verhandlungslösung zuneigen, abermals der Teil der kurdischen Befreiungsbewegung illegalisiert wurde, mit dem eine Beilegung der Kampfhandlungen, um nicht zu sagen eine politische Dauerlösung erreicht werden könnte, liegt die Schlußfolgerung mehr als nahe, daß die einflußreichsten Kräfte im türkischen Staat eben daran nicht interessiert sind.

Die DTP bezeichnete die Entscheidung des Verfassungsgerichts als einen "politischen Putsch". Diesem Gericht haftet schon seit langem der Ruch an, als verlängerter Arm der Generalität bzw. des Nationalen Sicherheitsrates zu fungieren. Im August 2007 hatte es eine offene Putschandrohung des Militärs gegeben, weil die Regierungspartei AKP "ihren" Kandidaten, den Erdogan-Vertrauten Abdullah Gül, in das Amt des Staatspräsidenten bringen wollte, was ihr letztlich auch gelang. Deniz Baykal, Vorsitzender der kemalistischen CHP, die in einem offenen Bündnis mit dem Militär gegen die ihrer Meinung nach staatsgefährdende AKP Front macht, hatte ohne jede Bodenhaftung behauptet, die Regierung Erdogan würde an der Auflösung der weltlichen Staatsordnung arbeiten, während Generalstabschef Büyükanit die Bereitschaft der Streitkräfte unterstrich, sich derlei finsteren Plänen und bösen Mächten zu widersetzen.

All dies geschah unter beredtem Schweigen der europäischen Staaten wie auch der USA, die im aktuellen Fall des DTP-Verbots kritische Worte zum Ausdruck bringen, die unweigerlich Erinnerungen wachrufen an die Haltung derselben Staaten gegenüber dem Putschregime von Honduras, das solange formal kritisiert wurde, bis die westlichen Führungsstaaten ohne nennenswerten Gesichtsverlust zur Tagesordnung übergehen zu können glaubten. So ließ die EU-Ratspräsidentschaft am Tag nach dem DTP-Verbotsurteil wissen, daß die Auflösung einer politischen Partei eine ungewöhnliche Maßnahme sei, auf die man nur mit äußerster Zurückhaltung zurückkommen sollte. Die weitere Erklärung, Europa werde die weitere Entwicklung in der Türkei aufmerksam verfolgen, kommt der faktischen Anerkennung des Verbots der einzigen Kurdenpartei nicht nur gleich, sondern wird in Ankara auch so verstanden werden.

Die USA stellten sich noch etwas geschickter an und ermahnten die Türkei, die politischen Freiheiten im Lande zu stärken, während das Außenministerium verlautbarte, das Parteiverbot sei eine innere Angelegenheit der Türkei. Nichtsdestotrotz wurden Meldungen verbreitet, denenzufolge sowohl die EU als auch die USA das Verbot der größten Kurdenpartei durch das Verfassungsgericht verurteilen und die Türkei zu demokratischen Reformen auffordern würden. Die Signale aus Washington sowie den Hauptstädten der EU-Staaten sind nur vordergründig widersprüchlich; bezogen auf die jeweiligen Addressaten offenbaren sie ihren taktischen Sinn. Gegenüber der sogenannten demokratischen Öffentlichkeit in den eigenen Ländern, aber auch weltweit, bleibt den westlichen Führungsstaaten gar nichts anderes übrig, als eine offen undemokratische Maßnahme dieser Art zu kritisieren, wobei sie es selbstverständlich nicht verabsäumen, den Machthabern in der Türkei, zu denen Ministerpräsident Erdogan wohl nur nachrangig zu zählen ist, zu signalisieren, was von dieser "Kritik" tatsächlich zu halten ist.

14. Dezember 2009