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DILJA/1228: Deutschland im Krieg - Beschwichtigungsmanöver Untersuchungsausschuß (SB)


Kundus-Massaker vom 4. September mit parlamentarischem Nachspiel

Afghanistankrieg - Strategiewechsel betrifft nicht militärische, sondern propagandistische Aspekte


In der Nacht vom 3. auf den 4. September 2009 starben in der Nähe der deutschen Bundeswehrgarnison im afghanischen Kundus nach Angaben des deutsch-afghanischen Anwalts Karim Popal, der sich für die Hinterbliebenen und überlebenden Opfer einsetzt, 137 Menschen durch einen von einem deutschen Offizier befohlenen Luftangriff. Bei den insgesamt 179 verletzten oder getöteten Opfern dieser Bombardierung hat es sich Popal zufolge um Zivilisten gehandelt, während sich unter den Toten fünf als Taliban-Kämpfer bezeichnete Männer befunden haben sollen sowie 36 Kinder im Alter zwischen fünf und 16 Jahren. In einem Krieg, an dem die deutsche Bundeswehr seit acht Jahren beteiligt ist und der in einem schwer auslotbaren Ausmaß unter den Bedingungen der Geheimhaltung geführt wurde und wird, so die Bundeswehr-Elitesoldaten des Kommandos Spezialkräfte (KSK) involviert sind, hat dieses Massaker allem Anschein nach die Nebelwand öffentlicher Ignoranz und medialer Beschwichtigungsstrategien durchbrochen.

Der Luftangriff strafte sämtliche Behauptungen, mit denen dieser Krieg seitens der ihn dominierenden Staaten eingeleitet und bislang ohne nennenswerte innenpolitische Widerstände geführt werden konnte, so offenkundig Lügen, daß sich der US-amerikanische Oberkommandierende der NATO-Besatzungstruppen in Afghanistan, General Stanley McChrystal, alles andere als erfreut zeigte. In einer Regierungserklärung hingegen wurde von deutscher Seite vier Tage nach dem folgenschweren Angriff die Behauptung aufgestellt, dieser sei "in dringendem Interesse der Sicherheit unserer Landes" gewesen. Die inzwischen wiedergewählte Kanzlerin Angela Merkel griff zu den Kernbehauptungen eines Kriegsrechtfertigungsgerüsts zurück, das mit der langen Dauer seines Fortbestehens keineswegs glaubwürdiger wird, indem sie erklärte, Afghanistan sei eine Brutstätte des internationalen Terrorismus gewesen. "Deshalb sollte niemand die Ursachen verwechseln. Der Afghanistan-Einsatz ist unsere Reaktion auf den Terror, er ist von dort gekommen und nicht umgekehrt", bemühte sich Merkel, den vom deutschen Oberst Georg Klein veranlaßten mörderischen Bombardierungsbefehl in ein ihrer Meinung nach rechtes Licht zu rücken.

Bereits im September ging die deutsche Regierungschefin höchst offensiv mit den Komplikationen, die sich nach diesem Massaker sowohl im eigenen Land wie auch im internationalen Rahmen deutlich abzuzeichnen begannen, um. Nachdem das Auswärtige Amt bei mehreren Regierungen verbündeter Staaten interveniert hatte, zogen diese etwaige kritische Äußerungen zurück, so etwa der luxemburgische Außenminister, der seine Kritik an den Massaker am 10. September widerrief, oder auch dessen französischer Amtskollege Bernard Kouchner, der über seinen ersten Kommentar, dies sei ein "großer Fehler" gewesen, später sein Bedauern zum Ausdruck bringen sollte. Bundeskanzlerin Merkel verbat sich mit Erfolg "Vorverurteilungen", wie sie es nannte, vermochte jedoch nicht maßgeblichen Einfluß auf einen internen und offiziell "geheimen" Untersuchungsbericht der NATO zu nehmen.

Der SPD-Militärpolitiker Rainer Arnold ließ gegenüber dem Kölner Stadt-Anzeiger am 1. Oktober durchblicken, daß dieser Bericht "sehr kritisch" ausfallen würde, weil "gravierende Fehler" gemacht worden seien. Die Zeitung schrieb weiter, daß Oberst Klein vermutlich vor Gericht gestellt werden würde und daß führende Bundeswehrverantwortliche mit seiner Verurteilung rechneten, wobei der Tatvorwurf den der fahrlässigen Tötung sogar noch übertreffen könne. Der Spiegel wiederum wußte Anfang November zu berichten, daß die deutsche Bundesregierung bei der NATO auf eine zurückhaltende Beurteilung dieses Luftangriffs gedrängt und sich ungeachtet der Fehler Oberst Kleins gegen eine deutliche Verurteilung gewandt habe; gleichwohl soll in dem Bericht festgehalten worden sein, daß der deutsche Offizier sich nicht an das Einsatzverfahren gehalten habe.

Am 27. November trat der damalige Bundesverteidigungsminister Franz Josef Jung (CDU) zurück, was seinen Amtsnachfolger, den jetzigen Minister Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU), veranlaßte, "die Zulässigkeit des Luftangriffs vom 4. September" zu prüfen (!). Seine erste Stellungnahme hatte gelautet, der Angriff sei "angemessen" gewesen, was in der deutschen Öffentlichkeit einen denkbar schlechten Eindruck machte, zumal, wie der Kölner Stadtanzeiger desweiteren berichtete, das zuständige Referat im Bundeskanzleramt bereits am 27. September - und damit noch vor der Bundestagswahl - den Angriff als militärisch unangemessen eingestuft hatte, was die Bundesregierung allerdings umgehend zu dementieren versuchte. Laut NATO-Abschlußbericht hatte der deutsche Feuerleitoffizier gleich fünfmal die an ihn von den Bomberpiloten gerichteten Anfragen, ob die um die beiden entführten und in einem Flußbett gestrandeten und somit bewegungsunfähigen Tanklaster stehende Menschenmenge nicht durch vorherige Tiefflüge gewarnt werden sollte, abgelehnt und den unmittelbaren Angriff durchgesetzt.

Am 3. Dezember stellte sich auch der neue Verteidigungsminister zu Guttenberg hinter den Oberst und behauptete vor dem Bundestag, er habe für dessen Entscheidung "volles Verständnis", habe dieser doch "zweifellos nach bestem Wissen und Gewissen" gehandelt. Gerichtet an die im Parlament anwesenden Bundeswehrangehörigen beeilte sich der Minister zu erklären, daß er seine Beurteilung nicht in Hinsicht auf sein Verständnis für Oberst Klein korrigiere, auch wenn der Angriff "objektiv" gesehen nicht angemessen gewesen sei. Dabei war die Behauptung, der Angriff sei unter dem Eindruck einer unmittelbaren Bedrohung und in großer Eile erfolgt, längst widerlegt, da sich herausgestellt hatte, daß überhaupt keine Bundeswehrsoldaten vor Ort unterwegs gewesen waren, die durch die später getöteten Menschen hätten gefährdet werden können. Im deutschen Feldlager war man von den mit Nachtsichttechnik ausgerüsteten Schwenkflügel-Bombern der US-Luftwaffe bestens mit Daten- und Bildmaterial ausgestattet worden, um die Situation vor Ort einschätzen zu können. Auf diesen Bildern war die anwachsende Menschenmenge zu erkennen, zudem soll ein afghanischer Informant per Telefon die Information durchgegeben haben, daß die herbeiströmenden Menschen sich Benzin abfüllen wollen würden.

Um den Bombenangriff gleichwohl durchzusetzen, war von deutscher Seite den US-Piloten der F-15-Jagdbomber gleich zweimal die falsche Auskunft gegeben worden, daß Feindkontakt und eine unmittelbare Bedrohung bestünden, weshalb im ISAF-Bericht, wie mittlerweile durchgesickert ist, schwere Vorwürfe gegen Oberst Klein erhoben wurden. Am 10. Dezember kam die von der Bildzeitung lancierte Meldung, Oberst Klein habe in jener Nacht als amtierender Kommandeur einer geheimen Einheit Task Force 47 (TF 47) des Kommandos Spezialkräfte (KSK) agiert und sei bei seiner Entscheidung von mindestens fünf Offizieren und Unteroffizieren beraten worden, zu dem medialen Desaster noch hinzu. Ein geheimes Einsatzprotokoll über diese Nacht sei den NATO-Ermittlern demnach aus Geheimhaltungsgründen vorenthalten worden.

Angesichts einer solchen, in Hinsicht auf die propagandistische Begleitung des auch von Deutschland schon seit so vielen Jahren geführten Krieges, katastrophalen Lage erklärte zu Guttenberg am Tag darauf bei einem Blitzbesuch in Kundus, daß es "berechtigten Aufklärungsbedarf" gebe. Er wolle "Klarheit schaffen" über den Luftangriff vom 4. September, so der Minister, der zugleich dem zu diesem Zweck eingerichteten Untersuchungsausschuß des Bundestags schon einmal ins Stammbuch schrieb, daß er auf keinen Fall "zur Diskreditierung der Soldaten beitragen" dürfe. Zur "Klarheit" könnte der Bericht beitragen, den Oberst Klein selbst am 5. September an den inzwischen von Verteidigungsminister zu Guttenberg entlassenen Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneiderhan, sandte und in dem er darlegte, daß er am 4. September um 1.51 Uhr nachts beschlossen hatte, möglichst viele afghanische INS (NATO-Jargon für Insurgents, also Aufständische) "durch den Einsatz von Luftstreitkräften zu vernichten" [1]. Kleins Bericht zufolge habe der Luftangriff nach vorliegenden Informationen "mit höchster Wahrscheinlichkeit nur Feinde des Wiederaufbaus" treffen können.

Aufschlußreich, um nicht zu sagen entlarvend sind diese Äußerungen vor allem deshalb, weil aus ihnen nicht der geringste Anhaltspunkt für die später nachgeschobenen Rechtfertigungsversuche hervorgeht, denen zufolge die Bombardierung irgendwie ein Akt der Selbstverteidigung der Bundeswehrsoldaten gewesen wäre. Der ISAF-Bericht soll dazu angemerkt haben, daß Klein es darauf angelegt habe, möglichst viele Menschen zu töten. Deutliche Worte benutzte auch der Gouverneur der Provinz Kundus, Mohammad Omar, als er bezugnehmend auf das Massaker erklärte: "Die Dorfbewohner haben den Preis dafür bezahlt, daß sie den Aufständischen helfen und ihnen Unterschlupf gewähren." Unterdessen beeilen sich deutsche Juristen, darauf hinzuweisen, daß es im Interesse der kriegführenden Bundesregierung ist, rechtsverbindlich zu erklären, daß sich die Bundeswehr in Afghanistan in einem Krieg befindet, weil anderenfalls bei gezielten Tötungen, wie sie seit der in diesem Frühjahr verschärften Einsatzstrategie beabsichtigt sind und durchgeführt werden, juristische Probleme entstehen könnten. Im Krieg hingegen, so ließ sich der frühere Verteidigungsminister Rupert Scholz vernehmen, seien "offensive, gezielte Tötungen" legitim.

Derweil konstituierte sich am Mittwoch in Berlin ein sogenannter Parlamentarischer Untersuchungsausschuß aus dem Verteidigungsausschuß des Bundestages. Er wird, ohne öffentlich zu tagen, das Massaker von Kundus "aufklären", etwaige Ergebnisse zunächst geheimhalten und seine Arbeit frühestens nach einem Jahr abschließen. Von ihm ist weder eine wirksame parlamentarische Kontrolle noch die versprochene Aufklärung der Öffentlichkeit zu erwarten. Allem Anschein nach droht das Massaker vom 4. September sogar noch genutzt und instrumentalisiert zu werden, um eine massive Truppenaufstockung im Afghanistankrieg auch seitens der deutschen Bundeswehr durchzusetzen. So forderte Karl-Heinz Lather, deutscher NATO-General und Stabschef im militärischen Hauptquartier in Mons, bereits die Bereitstellung zusätzlicher Manövereinheiten für Nordafghanistan mit bis zu 3000 Soldaten. Die Frage, ob seiner Meinung nach Oberst Klein über zu wenig Soldaten verfügte, als er die Bombardierung der beiden gestrandeten Tanklastzüge anforderte, bejahte Lather und fügte hinzu, dies sei "ein militärisch legitimes Ziel" gewesen in den "kriegsähnlichen Zuständen", in den "wir" uns befänden.

Somit stellt der neu eingerichtete Untersuchungsausschuß nicht nur ein durchsichtiges Beschwichtigungsmanöver dar, sondern ist eingebunden in eine Eskalationsstrategie, bei der auch an der Propagandafront Abschied genommen wird von dem "bewaffneten Aufbauhelfer", als welcher die in diesen Krieg geschickten Bundeswehrsoldaten hierzulande zunächst wahrgenommen werden sollten. Über die Greuel dieses Massakers zu berichten ganz so, als wäre nicht der gesamte Krieg ein einziges Verbrechen am afghanischen Volk, bedeutet, die Mär von einem sauberen und menschenrechtskompatiblen Krieg aufrechtzuerhalten, und so sind parlamentarische Untersuchungsausschüsse dieser Art nicht nur wirkungslos, sondern kontraproduktiv in Hinsicht auf die Entfaltung einer Antikriegsbewegung, die nicht darauf zu verzichten bereit ist, die propagandistischen Winkelzüge der kriegführenden Kräfte uneingeschränkt und vollständig offenzulegen.

Anmerkung

[1] Blutige Lektion. Berichte zu Kundus veröffentlichen, von Knut Mellenthin, junge Welt, 14.12.2009, S. 8

17. Dezember 2009