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DILJA/1277: Venezuela - Container mit verdorbenen Lebensmitteln bezeugen Wirtschaftskrieg (SB)


Tausende Container mit zurückgehaltenen Lebensmitteln aufgefunden

Venezuelas Präsident Hugo Chávez ruft Arbeiter und Arbeiterinnen zum "Krieg gegen die Wirtschaft" auf


Aus Sicht der venezolanischen Oligarchie, sprich der alten Elite, die in Gestalt des Unternehmerverbandes Fedecámaras und mit maßgeblicher Unterstützung aus dem Ausland im April 2002 versuchte, Präsident Hugo Chávez zu stürzen und die in seiner Regierungszeit begonnene "Bolivarische Revolution" null und nichtig zu machen, stellt der Tag des Amtsantrittes dieses ihr verhaßten Staats- und Regierungschefs den wohl schwärzesten in der Geschichte des Landes dar. Zehn Jahre später, am 2. Februar 2009, stellte Chávez bei den Feierlichkeiten zu diesem Jahrestag klar, was in dieser Dekade nicht nur in Venezuela, sondern in ganz Lateinamerika geschafft worden ist [1]:

Bis vor zehn Jahren lag Lateinamerika fast vollständig vor dem nordðamerikanischen Imperium auf den Knien. Heute hat sich die Situation radikal verändert. Lateinamerika ist nicht mehr der Hinterhof der USA, Lateinamerika wird befreit sein.

Mit Blick auf Venezuela hatte Präsident Chávez bei dieser Gelegenheit erklärt, ihm sei der Haß der Oligarchie gegen seine Person lieber als das Elend und die Unterdrückung des venezolanischen Volkes in der Zeit der bis 1998 herrschenden repräsentativen Demokratie. An dieser Konstellation hat sich in Venezuela bis heute nichts geändert. Die alte Elite, die sich vornehmlich aus alteingessenenen Großunternehmen sowie den führenden Medienkonzernen in Verbindung mit den ihnen zugeneigten etablierten Parteien zusammensetzt, hat die letzten Parlamentswahlen im Dezember 2005 boykottiert, um nicht Gefahr zu laufen, daß durch ein schlechtes Abschneiden offenkundig werden würde, wie gering ihr Rückhalt in der Bevölkerung ist. An den im September dieses Jahres bevorstehenden Wahlen zur Nationalversammlung wird sie allerdings teilnehmen.

Wer sich unter Begriffen wie "Regierung" und "Opposition" in Hinsicht auf Venezuela politische Auseinandersetzungen oder einen durchaus harten Wahlkampf, vergleichbar mit bundesdeutschen oder westeuropäischen Verhältnissen, vorstellt, könnte kaum krasser danebengreifen. In der Bundesrepublik Deutschland wie eigentlich in allen westlichen Staaten wird seitens der jeweiligen Regierungen eine Politik betrieben, die die Grundaxiomatik eines kapitalistischen Systems niemals in Frage stellt oder auch nur perforiert, sondern einzig und allein bestrebt ist, den sich daraus ergebenen Status Quo der Besitzstandswahrung und Bevölkerungskontrolle zu wahren. Zu diesem Zweck können mitunter soziale Reformen durchgeführt oder wohl eher vorgetäuscht werden, um die Akzeptanz eines politischen wie wirtschaftlichen Systems, das der Ernährung der herrschenden Klasse durch eine Umverteilung gesellschaftlicher Reichtümer von unten nach oben verpflichtet ist, auch unter jenen sicherzustellen, die zu den Verlierern dieser ungleichen Ordnung gehören.

Der in der westlichen Welt insbesondere gegen den venezolanischen Präsidenten häufig ins Feld geführte Vorwurf des Populismus, womit gemeint ist, durch Sozialprogramme und eine Subventionierung der Armen deren Zustimmung zu "erkaufen", könnte, wenn man so wollte, rückwirkend in Hinsicht auf die namentlich von der damaligen SPD sowie den mit ihr verbundenen Gewerkschaften in der Nachkriegsära betriebenen Politik sozialer Reformen gemacht werden, die inzwischen ersatzlos eingestampft und durch ein repressives System der Armutsverwaltung - Hartz IV - ersetzt wurde, das auf die sicherheitspolitische und administrativ-polizeiliche Kontrolle einer zunehmend verarmenden Bevölkerungsmehrheit ausgerichtet ist.

In Venezuela hingegen findet eine Auseinandersetzung statt, die mit dem Wahlsieg des heutigen Präsidenten und der dadurch eingeleiteten "Bolivarischen Revolution" überhaupt erst ins Leben gerufen bzw. auf eine qualitativ höhere Stufe gestellt wurde durch eine Regierung, die mit der Behauptung neoliberal ausgerichteter Staaten, durch eine an den Zielvorgaben der Unternehmen ausgerichtete Politik würden sich die Interessen aller Menschen bestmöglich durchsetzen lassen, radikal gebrochen hat. Binnen weniger Jahre waren die Erfolge der Regierung Chávez so unbezweifelbar geworden, daß nicht nur der Putschversuch von 2002 durch eine Intervention des Volkes zurückgeschlagen werden konnte, sondern auch alle Wahlen, von einem fehlgeschlagenen Referendum zu einer weiteren Verfassungsänderung einmal abgesehen, von der jetzigen Regierung und ihrem Präsidenten gewonnen werden konnten.

Welche Chancen kann sich die Oligarchie in ihrer nun wieder angenommenen Rolle als parlamentarische Opposition ausrechnen, um bei den bevorstehenden Wahlen dem Spuk ein Ende und - aus ihrer Sicht - endlich wieder zu den Verhältnissen zurückzukehren, die es ihr in all den Jahrzehnten vor 1998 ermöglicht hatten, das Land fest im Griff zu halten? Mit Wahlprogrammen und Wahlversprechen, die seitens einer Unternehmerschaft bzw. der ihr verbundenen Parteien ins Feld geführt werden, die längst bewiesen haben, daß sie von der Armut zehren, die sie zu bekämpfen vorgeben, können diese Chávez-Gegner keinen Blumentopf gewinnen. Sie müssen den Präsidenten und mit ihm den gesamten Prozeß der Bolivarischen Revolution dort schlagen, wo er eigentlich nicht zu schlagen ist, und so tobt seit geraumer Zeit mit zunehmender Tendenz eine Auseinandersetzung in Venezuela, die noch am ehesten als "Wirtschaftskrieg" zu bezeichnen wäre.

Die Regierung Chávez hatte bereits im Jahr 2003 Preisobergrenzen für Grundnahrungsmittel eingeführt, um angesichts einer galoppierenden Inflation die Versorgung der gesamten Bevölkerung mit erschwinglichen Lebensmitteln sicherzustellen. Das Problem der Geldentwertung läßt sich weder auf Venezuela noch die Regierungszeit von Präsident Chávez beschränken. Dessen politische Widersacher lassen jedoch gern die Tatsache außer acht, daß es in dem erdölexportierenden Land vor 1999 eine gegenüber den heutigen Inflationsraten - nach Berechnungen der venezolanischen Zentralbank wird diese im laufenden Jahr zwischen 25 und 30 Prozent betragen - noch weit extremere Inflation gegeben hat. In den 1990er Jahren, in den Regierungszeiten der Präsidenten Carlos Andres Pérez und Rafael Caldera, hatte sie bei durchschnittlich 104,5 bzw. 194,3 Prozent gelegen.

Die heutigen Gegner der Regierung Chávez und der von ihr vorangetriebenen "Bolivarischen Revolution" in den Unternehmerkreisen des Landes haben es darauf angelegt, die Inflation nach Kräften anzuheizen. So stellte Präsident Chávez in seiner am vergangenen Mittwoch im Fernsehen veröffentlichen Ansprache fest, daß die Konzerne immer dann Preiserhöhungen vornehmen würden, wenn seine Regierung Lohnerhöhungen beschlossen hat. Der eigentliche Anlaß für die geharnischte Präsidentenrede, in der dieser die "Arbeiter und Arbeiterinnen" des Landes zum "Krieg gegen die Wirtschaft" aufrief [2], bestand jedoch in der Beschlagnahme von 2795 Containern mit (inzwischen bereits verdorbenen) Lebensmitteln in den Hafenanlagen des venezolanischen Bundesstaates Carabobo.

Dieser Vorfall war am 1. Juni bekannt geworden. Für ihn wird der frühere Chef der staatlichen Lebensmittelkette PdVAL, bei der es sich um ein Tochterunternehmen des staatlichen Ölkonzerns PdVSA handelt und die eigens von der Regierung ins Leben gerufen worden war, um die Versorgung der Bevölkerung mit preisgünstigen Lebensmitteln sicherzustellen und für den Vertrieb der Produkte aus verstaatlichten Nahrungsmittelunternehmen zu sorgen, hauptsächlich verantwortlich gemacht. Präsident Chávez reagierte auf diesen handfesten Skandal umgehend mit der sofortigen Verstaatlichung der in diesen Fall, in dem Lebensmittel in erheblichem Ausmaß dem eigenen Markt entzogen und allem Anschein nach illegal exportiert werden sollten, tief verstrickten Hafengesellschaft.

Auch innerhalb der Lebensmittelkette PdVAL werden die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen, ohne daß dies den politischen Flurschaden aus der Welt schaffen könnte. Da Venezuela zu rund 70 Prozent von Lebensmittelimporten abhängig ist, hatte die Regierung Chávez schon frühzeitig die Lebensmittelsouveränität, also die Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion im eigenen Land zur Deckung der gesamten Versorgung, zu einem ihrer obersten Ziele erklärt. Auf gesetzlicher Grundlage wurden in den vergangenen Jahren mehr und mehr Verstaatlichungen von Unternehmen durchgeführt, die sich in der einen oder anderen Weise ihren gesetzlichen Verpflichtungen entzogen hatten.

In perfider Weise wird mit dem elementarsten Gut eines Landes, sprich der Ernährung der Bevölkerung, in Venezuela Politik gemacht oder vielmehr eine Konfrontation, um nicht zu sagen ein Krieg geführt. Jede Sabotierung der diesbezüglichen Bemühungen der Regierung ist nicht nur den durch die Preisbegrenzung geschmälerten Profitspannen der betroffenen Unternehmen der Lebensmittelbranche geschuldet, sondern zielt nicht minder auf eine allgemeine Diskreditierung der Regierung Chávez in der Hoffnung seiner politischen Gegner, auf diese Weise bei den bevorstehenden Parlamentswahlen zu einem abermaligen Umbruch zu kommen. Angesichts der aktuellen Krise wiegt der Umstand, daß die Zurückhaltung solch großer Mengen Nahrungsmittel von einer Institution (mit)zu verantworten ist, die eigens zu dem Zweck gegründet wurde, den Spekulationen und Preistreibereien im Lebensmittelbereich den Boden zu entziehen, besonders schwer.

Angesichts dieses Rückschlages gestand Präsident Chávez in seiner Fernsehansprache ein, daß einige verstaatlichte Unternehmen noch mit den "Erbkrankheiten des Kapitalismus" zu kämpfen hätten. Ungeachtet all dieser Probleme sowie der Destruktions- und Sabotagebemühungen, die seitens der sogenannten Opposition vor den Wahlen noch durchgeführt werden könnten, steht jedoch kaum zu erwarten, daß die Anhängerschaft des Präsidenten und damit eine Bevölkerungsmehrheit, die genau weiß, in welcher Armut sie zur Zeit seiner Vorgänger leben mußte, nicht genau wüßte, was sie von diesem Krieg zu halten hat.

Anmerkungen

[1] Nie mehr auf den Knien. Venezuela feiert den zehnten Jahrestag der bolivarischen Revolution, von André Scheer, junge Welt, 4.2.2009, S. 6

[2] Venezuelas Präsident unterstellt nationalen Unternehmerverbänden gezielte Destabilisierung und Spekulation. Weitere Verstaatlichungen möglich, von Jan Ullrich, amerika21.de, 5.6.2010

7. Juni 2010