Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → MEINUNGEN

DILJA/1368: Keiner will es hören - Schwere Vorwürfe gegen die neue Führung Libyens (SB)


Exekutionen, Mißhandlungen, Plünderungen und Brandschatzungen im "neuen" Libyen


Es liegt in der Natur, Zweckbestimmung und politischen Positionierung des zivilgesellschaftlichen Engagements gegen Folter und durch staatliche oder halbstaatliche Organe verübte Mißhandlungen und Hinrichtungen zutiefst begründet, einen Status des "Gutmenschen" für sich zu reklamieren, von dessen vermeintlicher moralischer Höhe aus das finstere Treiben angeprangert und jegliche Gewaltmaßnahmen zu seiner Unterbindung eingefordert und gerechtfertigt werden. Wer sich auf eigenen Pfaden oder in Anlehnung oder direkter Mitgliedschaft bei einer der zahlreichen Menschenrechtsorganisationen dafür einsetzt, Folterungen und dem staatlich legitimierten Morden Einhalt zu gebieten, wird nicht umhinkommen, sich mit dem Problem zu konfrontieren, daß eben dieses Engagement längst von den Agenturen westlicher Hegemonialbestrebungen, ihren militärischen Verbänden sowie internationalen Organisationen in Anspruch genommen, vereinnahmt und instrumentalisiert wurde.

Gerade weil der Kampf um die Durchsetzung der Menschenrechte so universell gültig und über jeden politischen und mehr noch moralischen Einwand weit erhaben ist, liefert er die Rechtfertigungssubstanz selbsternannter Weltführungskräfte, die geradezu danach lechzen, ihr oftmals höchst gewalttätiges Tun auf diese Weise bis zur völligen Unkenntlichkeit zu veredeln. Die NATO und damit das Militärbündnis, das mit dem Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien bereits im Jahre 1999 in aller Offenheit das Primat der Vereinten Nationen, Kriegseinsätze zu legitimieren, verletzte, weil es angeblich galt, die Kosovo-Albaner vor den Menschenrechtsverletzungen durch serbische bzw. jugoslawische Sicherheitskräfte zu beschützen, stellt sich in dieser Lesart nicht nur als die größte und schlagkräftigste Friedensbewegung der Welt dar, sondern nimmt nicht minder folgenschwer für die Opfer ihrer Kriegführungspolitik für sich in Anspruch, mit dem Schwert in der Hand die Menschenrechte zu verteidigen.

So geschehen zuletzt im Frühjahr dieses Jahres, als ein westliches Kriegsbündnis beschloß, das Libyen des inzwischen gestürzten und getöteten Revolutionsführers Muammar al Ghaddafi militärisch anzugreifen und bis zum Sturz dieser im Westen ungeliebten Regierung zu bombardieren. Es ist müßig, weil oft genug getan, daran zu erinnern, daß all dies dem Zweck geschuldet gewesen sein sollte, die libysche Bevölkerung vor den Übergriffen und Luftangriffen des "alten" Regimes zu beschützen. Die Menschenrechtsbewegung wurde damit einmal mehr aufs schwerste diskreditiert, müßte sie doch nun, allein um ihrer eigenen Glaubwürdigkeit willen, nicht minder schwere Vorwürfe gegen all jene "Gutmenschen" erheben, die, mit dem Wort "Menschenrechtsschutz" im Munde, Tod und Verderben über andere Menschen bringen.

Diesem Dilemma sah sich allem Anschein nach nach dem Sturz und der Ermordung Ghaddafis unter anderem auch die US-amerikanische Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch ausgesetzt. Sie berichtete in New York, daß in einem leerstehenden Hotel in der zuletzt von der NATO bzw. den mit ihr alliierten sogenannten Rebellen eroberten Hafenstadt Sirte, der Geburtsstadt Ghaddafis, 53 Leichname von Menschen gefunden wurden, von denen mehrere, wie an ihren auf dem Rücken gefesselten Händen zu erkennen sei, offensichtlich hingerichtet wurden. Einem AFP-Reporter zufolge, der die Leichen gesehen hat, wurde vielen der Toten in den Kopf geschossen. Laut Human Rights Watch seien dort, wo Ghaddafi gefangengenommen wurde, die Leichname von weiteren 95 Menschen gefunden worden, die allem Anschein nach zu diesem Zeitpunkt ums Leben gebracht worden waren. Selbstverständlich fordert die Menschenrechtsorganisation den Übergangsrat in Tripolis auf, all diese Todesfälle - inklusive des Todes Ghaddafis - aufzuklären.

Täte sie dies nicht, liefe sie Gefahr, ihrer Glaubwürdigkeit verlustig zu gehen, weil der Vorwurf der Parteinahme kaum zu vermeiden wäre, wenn Menschenrechtsverletzungen in manchen Fällen angezeigt und angeprangert werden und in anderen nicht. Einem Bericht des Fernsehsenders Al-Arabija zufolge wurden in der zuletzt umkämpften Stadt Sirte sowie in der Hauptstadt Tripolis Massengräber gefunden, in denen man Leichname von bis zu 900 Menschen verscharrt hatte, die Opfer von Hinrichtungen geworden waren und bei denen es sich um libysche Soldaten gehandelt haben soll, die loyal zu Ghaddafi standen. Desweiteren sollen sich, wie die Washington Post am 23. Oktober berichtete [1], etwa 7000 Kriegsgefangene in den überfüllten Lagern des Übergangsrates befinden, wo sie Folterungen ausgesetzt sind.

Diese Vorwürfe zu erheben, dient wiederum der Glaubwürdigkeit der westlichen Welt, da ihre Menschenrechtsorganisationen oder auch das eine oder andere Leitmedium den Vorwürfen nachgehen und diese auch veröffentlichen. Allein, es wird aus naheliegenden Gründen bei diesen Vorwürfen und gelegentlichen Veröffentlichungen bleiben, da der Sturz des sogenannten Übergangsrates, den die NATO eigens an die Macht gebombt hat, nicht auf der Agenda des westlichen Bündnisses steht. Strenggenommen müßte die NATO die Kriegsresolution, durch die Militäroperationen zum Schutz der libyschen Bevölkerung vor Luftangriffen legitimiert werden, nun gegen sich selbst kehren. Obwohl der libysche Übergangsrat bereits am vergangenen Wochenende in einer feierlichen Zeremonie die vollständige "Befreiung" des Landes erklärt hat, soll die NATO nach seinem Willen die Bombardierungen fortsetzen (!).

Diese Forderung erhob Mustafa Abdel Dschalil, der Chef der faktischen Übergangsregierung, an diesem Mittwoch. Um das (Glaubwürdigkeits-) Problem, wie eine solche Fortsetzung des Krieges zu begründen und zu rechtfertigen sei, wenn doch Ghaddafi getötet und sein "Regime" gestürzt werden konnte, machte Dschalil sich offenbar nicht allzu viele Gedanken, erklärte er doch frank und frei, nun müsse es darum gehen, die Flucht von Ghaddafi-Getreuen ins Ausland zu verhindern [1]. Die NATO schob daraufhin das bereits angekündigte Ende der Kampfhandlungen bis zu einer endgültigen Entscheidung am heutigen Freitag auf. Sie hat, im Unterschied zu den ehemaligen libyschen "Rebellen" und jetzigen Machthabern ein durchaus größeres, wenn auch nicht unüberwindliches Glaubwürdigkeitsproblem.

So wird sie sich ein wenig schwer damit tun, diesen unverhüllt vorgetragenen Wunsch, die etwaige Flucht des (angeblich) geschlagenen Gegners mit Waffengewalt zu verhindern, in aller Offenheit zu erfüllen. Ganz sicher ist allerdings, daß sie sich das erreichte Kriegsziel weder durch die Einflüsterungen besorgter Menschenrechtsorganisationen noch durch die immer offenkundigere Mißachtung der UN-Kriegsresolution wieder nehmen lassen wird. Denkbar ist allerdings auch, daß die erwünschte Fortsetzung der Waffenbrüderschaft keineswegs dem Zweck dienen soll, gegnerische Kräfte am Entkommen zu hindern, da diese womöglich keineswegs vollständig geschlagen wurden und längst im Begriff stehen, sich in Kooperation mit weiteren, nun oppositionellen Gruppierungen und Bevölkerungsteilen zu einer Widerstandsfront zu formieren, um die neuen Machthaber und ihre ausländischen Verbündeten - wie zuvor schon im Irak und in Afghanistan geschehen - in einen Guerillakrieg zu zwingen.

Anmerkungen

[1] Bitte weiterbomben! Von André Scheer, junge Welt, 27.10.2011, S. 1


28. Oktober 2011