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DILJA/1373: Neue Eskalation im unerklärten Krieg - Türkische Luftwaffe tötet 35 Kurden (SB)


Kurdische Befreiungsbewegung proklamiert neue Aufstände


Der Tod kam aus der Luft. Er schlug erbarmungslos zu und ließ seinen Opfern kaum eine Chance. Eine Gruppe von etwa 50 zumeist jungen Menschen, unter ihnen sollen sogar Kinder gewesen sein, befand sich auf beschwerlichem Weg durch unwegsames Gelände im Grenzgebiet zwischen dem Irak und der Türkei. Die Kurden türkischer Staatsangehörigkeit waren auf dem Rückweg aus dem Irak in ihr Heimatdorf. Sie führten auf Eseln und Pferden Diesel mit sich, das sie in der Türkei verkaufen wollten. Was dann in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag gegen 23 Uhr Ortszeit geschah, schilderte einer der Überlebenden, Servet Encu, nach Angaben des Hamburger Abendblatts gegenüber der pro-kurdischen Nachrichtenagentur Firat so: "Wir waren auf unserem Weg zurück, als die Jets anfingen, uns zu bombardieren. Fünf oder sechs haben sich hinter Felsen versteckt, aber die Flugzeuge haben auch sie bombardiert. Sie sind alle hinter den Felsen gestorben." [1]

Getötet wurden in dieser Nacht und bei diesem Luftangriff der türkischen Luftwaffe insgesamt 35 Menschen. Luftangriffe dieser Art kommen in dieser Region immer und immer wieder vor. Gerade in diesem Jahr und speziell auch in diesem Winter hat das türkische Militär seine Anstrengungen, die kurdischen Kämpfer der PKK, deren Rückzugsgebiet im Nordirak vermutet wird, zu töten, noch intensiviert. Die bislang übliche Winterpause in diesem unerklärten Krieg wurde in diesem Jahr seitens der Armee ausgesetzt. Allem Anschein nach ist sie mehr denn je gewillt bzw. beauftragt, den Krieg gegen die verbotene Kurdische Arbeiterpartei (PKK) bis zu deren physischer Vernichtung zu führen, nachdem sämtliche Versuche der Öcalan-Partei, auf dem Wege einseitiger Waffenstillstandserklärungen und diverser Verhandlungsofferten eine politische Lösung dieses jahrzehntewährenden Konflikts einzuleiten, an der ablehnenden Haltung der türkischen Regierung gescheitert waren.

Nachdem Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan von der AKP zunächst den Eindruck erweckt hatte, entgegen der vorherigen harten Linie der kemalistischen Eliten sowie der Militärführung gegenüber der in ihrer Existenz als Kurden negierten kurdischen Bevölkerung in der laut Verfassung ausschließlich von "Türken" bewohnten Türkei eine moderatere Haltung einzunehmen, haben sich diesbezügliche Hoffnungen inzwischen zerschlagen. Als in diesem Frühjahr die Repression der türkischen Sicherheitskräfte gegenüber der kurdischen Zivilbevölkerung ebenso zunahm wie gegenüber ihren irgendwo in den Bergen ausharrenden Kämpfern, sah sich die "Volksbefreiungsarmee" (HPG) der PKK veranlaßt, ab dem 1. Juni ihren zuvor einseitig erklärten Waffenstillstand wieder aufzukündigen. Die militärische Offensive der türkischen Armee gegen Stellungen der PKK im Norden des vornehmlich von Kurden bewohnten Irak wuchs sich nun, da die bewaffneten kurdischen Kräfte ihrerseits Angriffe durchführten, zu einem wenn auch niederschwelligen Krieg aus.

Bereits im Juni 2010, als bei einem Angriff der kurdischen Guerilla auf einen Militärposten in Semdinli im Grenzgebiet zum Iran elf türkische Soldaten getötet worden waren, hatte Ministerpräsident Erdogan der PKK blutige Rache geschworen und ihr die völlige Auslöschung angekündigt. In diesem Jahr führte die türkische Armee immer wieder Luftangriffe auf Stellungen der Kurdenorganisation sowohl auf türkischem wie auch nordirakischem Gebiet durch, auch Bodentruppen sollen in diesem von der Weltöffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommenen Krieg nach Militärangaben zum Einsatz gebracht worden sein. Zu einer ersten Großoffensive kam es Mitte Oktober, als die türkischen Streitkräfte mit 10.000 Soldaten gegen mutmaßlich 2.000 kurdische Milizionäre vorgingen, wobei sie sich die Unterstützung der kurdischen Autonomieregierung im Nordirak unter Massud Barsani durch die gegen Bagdad gerichtete Androhung, andernfalls Sanktionen zu verhängen, sicherte.

Doch nicht nur auf militärischer, auch auf "politischer" Ebene gingen die türkischen Behörden gegen die kurdische Befreiungsbewegung vor. So wurden am 22. November in Istanbul, Izmir, Bursa und Diyarbakir von der Polizei Razzien durchgeführt, in deren Verlauf insgesamt 65 Menschen festgenommen wurden mit der Begründung, sie hätten in Verbindung mit der verbotenen PKK gestanden. Wie der Fernsehsender NTV meldete, seien daunter rund 50 Anwälte gewesen, unter ihnen auch die Verteidiger des auf der Gefängnisinsel Imrali inhaftierten PKK-Gründers Abdullah Öcalan. Da dieser in all den Jahren seiner Inhaftierung immer wieder Angebote für politische Verhandlungen offeriert und verschiedene Friedensinitiativen angeregt hatte, bevor er sich im Frühjahr dieses Jahres veranlaßt sah, wegen mangelnder Reaktionen seine Vermittlungsbemühungen einzustellen, kann das Vorgehen der türkischen Behörden gegen seine Anwälte als ein weiteres Zeichen für die harte Haltung der Erdogan-Regierung gedeutet werden.

Dabei weiß sie sich im Einklang mit ihren wichtigsten NATO-Partnern, die in diesem Konflikt als potentielle Vermittler nicht in Frage kommen können, da sie sich selbst durch die von den USA wie auch der EU getroffene Entscheidung, die PKK als "terroristische Organisation" einzustufen, an eine Festlegung gebunden haben, die es der Kurdenorganisation unmöglich macht, über ihr Anliegen, die Unabhängigkeit oder im Minimum eine größere Autonomie in ihren in der Türkei liegenden Gebieten, mit der türkischen Regierung oder einem kompetenten Dritten in ernsthafte Verhandlungen zu treten. Es scheint in Ankara, genauer gesagt zwischen der AKP-Regierung und der Militärführung, zu einem Einverständnis darüber gekommen zu sein, das "Kurdenproblem" durch die militärische und repressive Vernichtung der PKK sowie weiterer kurdischer Organisationen, die als mutmaßliche Nachfolger der PKK ebenfalls verfolgt werden, "lösen" zu wollen.

Wenn es im Zuge dieser Kampfhandlungen, die gemeinhin nicht einmal in den Randnotizen des internationalen Mediengeschehens auftauchen, wie vor wenigen Tagen geschehen, zu einem "Versehen" kommt, wie die AKP-Regierung inzwischen einräumt, bleibt die Grundlage dieses für 35 Menschen tödlichen Zwischenfalls, nämlich die auf die physische Vernichtung der verbliebenen Kämpfer ausgerichtete Anti-PKK-Strategie, weiterhin ausgeklammert. In hiesigen Medien heißt es unisono, der Luftangriff habe PKK-Anhängern gegolten, aber dann "die Falschen" [1] getroffen. Noch am Tag des Massakers hatte ein Sprecher der AKP-Regierung, Huseyin Celik, bestätigt, daß die türkischen Einsatzkräfte die Zielpersonen fälschlicherweise für kurdische Rebellen gehalten hätten. Er äußerte sein Bedauern und deutete die Möglichkeit einer Entschädigung an. Die Regierung Erdogan will den Vorfall als eine Verwechslung verstanden wissen.

Nazmi Gür, ein kurdischer Parlamentsabgeordneter, erklärte hingegen, die Opfer seien Jugendliche gewesen, die mit Eseln und Pferden billigen irakischen Diesel über die Grenze gebracht hätten, um ihn in der Türkei zu verkaufen, was für viele Bewohner dieser Region die einzige Möglichkeit sei, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. Ein PKK-Sprecher soll erklärt haben, daß jene, "die getötet wurden, keine Verbindung zur PKK [hatten]" [1]. Bahoz Erdal, Kommandeur des bewaffneten Arms der PKK, soll am Freitag erklärt haben: "Wir rufen das Volk von Kurdistan auf, auf dieses Massaker zu reagieren", was durch Aufstände geschehen müsse [2]. Nach Angaben des Militärs, wie seiner Internetseite zu entnehmen sei, hätte die Armee im Norden des Irak PKK-Rebellen beschossen. Diese Darstellung wird von kurdischen Politikern, so dem Lokalpolitiker Ertan Eris von der BDP, stark in Zweifel gezogen. Seinen Angaben zufolge habe der tödliche Luftangriff auf der türkischen Seite der Grenze im Dorf Ortasu stattgefunden. Selahattin Demirtas, Chef der Kurdenpartei BDP, warf der Armee vor, ein "Massaker" verübt zu haben [2].

In Istanbul kam es bereits zu Protesten wütender Kurden, die gegen die Regierung demonstrierten. Eine Kundgebung mit rund 2000 Teilnehmern wurde von der Polizei mit Wasserwerfern und Tränengas aufgelöst, wobei es zu heftigen Auseinandersetzungen kam. Nach Angaben des Militärs gäbe es im Norden des Irak keine Zivilbevölkerung, sondern nur "Stützpunkte der Terrororganisation" PKK. Demzufolge hätten Drohnen in der Nacht eine Bewegung in Richtung türkischer Grenze angezeigt, woraufhin der Luftangriff angeordnet worden sei [2]. Wenn nachrichtendienstliche Informationen, die auf von Wärmebildkameras einer Drohne gemachten Aufnahmen beruhen, zu einem solchen Luftangriff führen können, liegt auf der Hand, daß die Deutung des Militärs, alle im fraglichen Gebiet der eigenen Definition gemäß als feindliche Kämpfer zu identifizieren, hier Pate gestanden hat; schließlich können Wärmebildkameras Menschen anzeigen, jedoch nicht spezifizieren, ob es sich bei ihnen um PKK-Angehörige handelt oder nicht.

"Wir hätten nicht wissen können, ob diese Leute PKK-Mitglieder oder Schmuggler waren", soll eine türkische Zeitung einen namentlich nicht genannten türkischen Sicherheitsoffizier zitiert haben [3]. Träfe dies zu, würde eine solche Stellungnahme die von kurdischer Seite erhobenen Vorwürfe, es sei an Dorfbewohnern ein Massaker verübt worden, in gewisser Weise bestätigen. Wenn die türkische Armee einen Luftangriff ausführt, ohne wissen zu können, ob es sich bei den Zielpersonen tatsächlich um Mitglieder der verbotenen Arbeiterpartei handelt oder nicht, exekutiert sie ein wenn man so will inoffizielles Todesurteil, das sich in der Region gegen Kurden richtet. Wenn die Armee ihren "Fehler" nicht einmal einräumt, sondern im Gegensatz zur AKP-Regierung, die ihr Bedauern über das vermeintliche "Versehen" zum Ausdruck brachte und eine Untersuchung ankündigte, deutlich machte, ihr militärisches Vorgehen fortzusetzen, steht zu befürchten, daß es zu weiteren Massakern auch an Zivilisten in diesem Kriegsgebiet kommen wird, zumal dann, wenn sich die türkischen Streitkräfte mit ihrer Strategie, die von ihr getöteten Menschen als PKK-Kämpfer zu bezeichnen, weil diese Etikettierung ihre Tötung legalisiere, durchsetzen kann.

Anmerkungen

[1] Misslungene Attacke im Anti-PKK-Kampf. Türkischer Luftangriff trifft die Falschen - 35 tote Zivilisten. Hamburger Abendblatt, 30.12.2011,
http://www.abendblatt.de/politik/article2142692/Tuerkischer-Luftangriff-trifft-die-Falschen-35-tote-Zivilisten.html

[2] Luftangriff der Türkei. PKK ruft nach tödlichem Angriff zum "Aufstand" auf. Frankfurter Rundschau, 30.12.2011,
http://www.fr-online.de/politik/luftangriff-der-tuerkei-pkk-ruft-nach-toedlichem-angriff-zum--aufstand--auf,1472596,11369904.html

[3] Schmuggler statt PKK-Kämpfer getötet. n-tv, 29.12.2011,
http://www.n-tv.de/politik/35-Tote-bei-Luftangriff-in-Tuerkei-article5098441.html


31. Dezember 2011