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DILJA/1398: Ramush Haradinaj - Wirksame Protektion (SB)


Den Haager Gerichtshof spricht Kriegsrecht



Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag hat kaum zwei Wochen nach dem heftig umstrittenen Freispruch für den früheren General der kroatischen Armee, Ante Gotovina, seinem zweifelhaften Ruf erneut alle Ehre gemacht, und abermals wird auf der durch den Gerichtshof begünstigten Seite der ehemaligen Kriegsparteien gejubelt, während diejenigen, die diesen Richterspruch als Fortsetzung der Kriegführung mit juristischen Mitteln bewerten, mit Wut und Empörung reagieren. Ramush Haradinaj, ehemaliger Kommandeur der kosovo-albanischen Untergrundarmee UCK und später zwischenzeitlicher Ministerpräsident des durch den starken Einfluß seiner westlichen Verbündeten und Protektoren unabhängig gewordenen kosovarischen Staates, wurde in einer Wiederaufnahme des ersten Verfahrens, das bereits 2008 mit einem Freispruch geendet hatte, abermals aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Haradinaj und zwei Mitangeklagte wurden am gestrigen Mittwoch von den Den Haager Tribunalrichtern in allen Punkten der Anklage, die von Mord bis Folter reichten in der damals noch serbischen Provinz Kosovo zwischen März und September 1998, also noch vor dem Jugoslawien-Krieg der NATO, freigesprochen. Bereits 2005 und damit zu einer Zeit, in der der Kosovo unter UN-Verwaltung gestellt, der faktischen Kontrolle Serbiens infolge des NATO-Krieges längst entzogen und Haradinaj als "Regierungschef" eingesetzt worden war, hatte das Den Haager Tribunal, damals noch unter Federführung seiner später aus dem Amt beförderten Chefanklägerin Carla del Ponte, Anklage gegen ihn erhoben. Haradinaj trat daraufhin als Regierungschef zurück und stellte sich dem Gericht, das ihn ungeachtet der Schwere der Anklage alsbald wieder auf freien Fuß und in den Kosovo zurückkehren ließ, wo er sich vom Sommer 2005 bis Februar 2007 aufhalten konnte. Warum dies möglicherweise geschehen war, ist eine Frage, zu der anläßlich des jetzigen, im Wiederaufnahmeverfahren ergangenen Freispruchs für Haradinaj in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein plausibler Erklärungsversuch geliefert wurde, da die Rolle, die der ehemalige UCK-Kommandeur für die NATO- bzw. EU-Staaten in dieser Phase zu spielen hatte, mit der Tätigkeit des Den Haager Tribunals in Beziehung gesetzt wurde [1]:

Charakteristisch für den Haradinaj-Prozess sind jedoch nicht die einzelnen in der Anklageschrift aufgezählten Verbrechen, sondern die offenkundig systematische Einschüchterung von Zeugen der Anklage. Die Übergriffe und Drohungen gegen Aussagewillige werden allgemein im Zusammenhang mit der viel kritisierten Entscheidung des Gerichts vom Sommer 2005 gesehen, Haradinaj bis zum Beginn seines Prozesses wieder auf freien Fuß zu setzen und ihm eine Rückkehr in das Kosovo zu gestatten. Später wurde ihm sogar erlaubt, sich wieder politisch zu betätigen. Dies entsprach unter anderem den politischen Wünschen der Vereinigten Staaten sowie der UN-Verwaltung im Kosovo, die damals noch für die Verwaltung der Provinz verantwortlich war. Man wollte, dass Haradinaj im Westen des Kosovos, wo sein Ansehen bei den Albanern groß ist, in der entscheidenden Phase vor der Proklamation der Unabhängigkeit mit harter Hand für Ruhe und Stabilität sorgte.

Die Unstimmigkeiten, um es einmal sehr vage zu formulieren, in dem ersten Verfahren gegen Haradinaj waren offenbar so eklatant, daß die Berufungskammer des Internationalen Strafgerichtshofs am 19. Juli 2010 die Wiederaufnahme des Verfahrens anordnete. So sollte der Anklage mehr Zeit eingeräumt werden, Aussagen wichtiger Zeugen einzuholen. Tastächlich schien jedoch nicht ein Mangel an Zeit, sondern ein Mangel an Schutz, genauer gesagt an Zeugenschutz, der Kern des Problems gewesen zu sein. Wie die F.A.Z. weiter berichtete, hätten die damaligen Den Haager Richter bereits festgestellt, daß Zeugen eingeschüchtert wurden. Unter dem Stichwort "Angst vor einer Aussage" hieß es: [1]

Mehrere Chefs der UN-Übergangsverwaltung für das Kosovo, Unmik, arbeiteten eng mit Haradinaj zusammen, einer bezeichnete ihn gar öffentlich als "Freund". Das Vertrauen von im Kosovo lebenden Zeugen der Anklage gegen Haradinaj in ihre eigene Sicherheit wurde dadurch nicht größer. Erst im Februar 2007 musste Haradinaj wieder nach Den Haag zurückkehren, da sein Prozess begann. Der endete zwar mit einem Freispruch, doch blieb in Erinnerung, dass die Richter schon in ihrer Einleitung zur Urteilsbegründung feststellten, das Verfahren sei von schweren Einschüchterungsversuchen gegen Zeugen begleitet gewesen. Es habe "bezeichnende Schwierigkeiten" gegeben, die Aussagen einer großen Zahl von Zeugen sicherzustellen. Viele gaben an, Angst vor einer Aussage gegen Haradinaj zu haben. "Die Kammer erhielt den starken Eindruck, dass der Prozess in einer Atmosphäre abgehalten wurde, in der sich Zeugen unsicher fühlten", stellten die Richter fest.

In jedem anderen politischen bzw. juristischen Zusammenhang wären Feststellungen dieser Art, die einem Offenbarungseid gleichkommen für jeden ernsthaften Anspruch, ein nach demokratischen und rechtstaatlichen Kriterien glaubwürdiges Strafverfahren durchzuführen, wohl nicht so folgenlos geblieben wie in diesem. Es gab keinen Aufschrei internationaler Medien und keine Proteste seitens der EU- oder NATO-Verantwortlichen. Am Ende des Wiederaufnahmeverfahrens stand abermals ein Freispruch, der allerdings ebensowenig geeignet sein dürfte, die Zweifel an bzw. Proteste gegen die Urteils- und Verfahrenspraxis des Den Haager Tribunals zu beschwichtigen. So berichtete der österreichische "Standard" anläßlich des gestrigen Urteils, was in diesem Fall unter unzureichendem Zeugenschutz zu verstehen ist [2]:

Unterschiedlichen Quellen zufolge soll der Schutz für neun bis zwölf Zeugen nicht ausreichend gewesen sein, sie starben unter angeblich mysteriösen Umständen. Serbische und russische Medien berichteten von tödlichen Kneipenschlägereien, Autounfällen und professionell organisierten Attentaten, denen die betreffenden Zeugen zum Opfer gefallen sein sollen. Ausgelöst wurde dies alles durch den serbischen Sonderstaatsanwalt Vladimir Vukcevic, dessen Büro eine Liste von Zeugen veröffentlichte, die zwischen 2001 und 2007 verstarben. Vukcevic erneuerte vor wenigen Tagen seine Vorwürfe und sprach nun von 19 potenziellen Zeugen, die im Fall Haradinaj ums Leben gekommen seien. Er warf dem UNO-Kriegsverbrechertribunal "unprofessionellen Zeugenschutz" vor. Vukcevic zufolge soll etwa ein Belastungszeuge seine Aussage verweigert haben, da er um das eigene Leben und das seiner Verwandten bange. Da gehe er lieber wegen Aussageverweigerung ins Gefängnis, berichtete Vukcevic. Fernab serbischer und russischer Medien wird zumindest von einem Hauptzeugen berichtet, der unter mysteriösen Umständen ums Leben kam. Der 32-jährige Kujtim Berisha sei im Februar 2007 in der montenegrinischen Hauptstadt Podgorica von einem Mercedes überfahren und tödlich verletzt worden. Kurz zuvor traf er mit Vertretern aus Den Haag zusammen.

Der Balkan-Experte der F.A.Z., Michael Martens, stellte in einem aktuellen Interview den erneuten Freispruch in einen gänzlich anderen Kontext. Er machte im wesentlichen geltend, daß sich Carla del Ponte, inzwischen pensionierte Schweizer Botschafterin im fernen Argentinien, mit der Anklageformulierung etwas übernommen hätte [3]:

Es ist ja nicht so, dass die Richter in ihrer Urteilsbegründung für den abermaligen Freispruch nicht sagen, diese Verbrechen hat es nicht gegeben - die hat es sehr wohl gegeben, und das sehen die Richter in den meisten Fällen auch als erwiesen an -, aber dieses gemeinsame kriminelle Unternehmen, das Frau del Ponte in ihre Anklageschrift reingeschrieben hat, laut der Haradinaj und seine beiden Mitangeklagten also flächendeckend versucht haben, Serben und Roma aus den von ihnen kontrollierten Gebieten zu entfernen, zu vertreiben, das hat sich eben so, wie in der Anklageschrift definiert und beschrieben, nicht beweisen lassen. Hätte man die Anklage ein wenig einfacher formuliert, wäre das vielleicht ganz anders gelaufen.

Was aber haben Fragestellungen dieser Art, die, wie Martens meint, die Art der Anklageformulierung betreffen, mit der bislang von niemandem bestrittenen Tatsache zu tun, daß Zeugen der Anklage gegen Haradinaj massiv eingeschüchtert und bedroht wurden? Wie läßt sich das Zeugensterben gerade in diesem Verfahren erklären? Daß dieser erneute Freispruch gerade auch in Serbien Wut und Empörung ausgelöst hat, kann niemanden verwundern. Daß Haradinaj und seine Mitangeklagten freigesprochen wurden, bedeutet keineswegs, daß das Den Haager Tribunal die an Serben und anderen Oppositionellen seinerzeit im Kosovo begangenen Verbrechen in Zweifel ziehen würde. Allein, es habe an einem "kriminellen Plan" gefehlt [4]:

Das Gericht stellte jedoch fest, dass die UCK Serben und andere Oppositionelle misshandelt hatte. Es gebe jedoch keinen Beweis, dass Haradinaj daran beteiligt war und dass es einen "kriminellen Plan" für die Verfolgung von Serben gegeben habe. (...)
Der Belgrader Fernsehsender B92 sprach dagegen von einer "neuen Ohrfeige" für Serbien. Vor knapp zwei Wochen hatte das Tribunal zwei hohe kroatische Offiziere für Kriegsverbrechen an Serben freigesprochen. Hunderte Bürger klagten in Mails an den Sender: "Das ist doch nur Heuchelei" und "Das Urteil bedeutet frei übersetzt: Du kannst morden, töten, foltern und Serben vertreiben, aber du wirst nicht verurteilt."
(dpa)

Unterdessen werden auch Stimmen laut, die das Tribunal selbst bzw. deren engste Verbündete bei dem internationalen Zusammenwirken zur Zerschlagung Jugoslawiens, die sogenannte internationale "Schutztruppe" im Kosovo, KFOR, sowie die Rechtsstaatsmission der Europäischen Union, EULEX, mit dem mangelnden Zeugenschutz in Verbindung bringen. So berichtete die Deutsche Welle [5]:

Behxhet Shala, Vorsitzender der Nichtregierungsorganisaton "Rat für Menschenrechte" in Kosovo, ist überzeugt, dass die Zeugen nur deshalb bekannt werden konnten, weil sie von Seiten des Tribunals nicht ausreichend geschützt wurden. Ähnlich sieht das Bodo Weber, Balkanexperte des "Democratization Policy Council". Er erklärt: "Das Haager Tribunal hat sich damals unzufrieden gezeigt, von KFOR und EULEX wenig Unterstützung beim Zeugenschutz bekommen zu haben."

Ramush Haradinaj hingegen verfügt offenbar über eine Protektion, die so wirksam ist, daß die Bemühungen Den Haager Ankläger - und sei es, um den ramponierten Ruf des Tribunals ein klein wenig aufzubessern - auch Menschenrechtsverletzungen zu verfolgen, die von Kroaten (wie im Fall Gotovina) oder Kosovo-Albanern (wie im Fall Haradinaj) an Serben begangen wurden, ins Leere laufen. Am 25. Juni 2012, am Ende des zweiten Verfahrens gegen den ehemaligen UCK-Kommandeur, hatten die Ankläger gegen Haradinaj eine Mindeststrafe von 20 Jahren Haft gefordert. Nun können er und seine Getreuen in ihre Heimat zurückkehren, Haradinaj steht der Weg zu einer weiteren politischen Karriere weit offen.

Die noch in der Anklageschrift des seit August 2011 in Den Haag geführten Wiederaufnahmeverfahrens erhobenen Vorwürfe konnten nicht bewiesen werden. Darin war ihm die systematische Folterung von Serben und Roma, aber auch Albanern, die der Kollaboration mit dem serbischen Staat bezichtigt wurden, zur Last gelegt worden. Auch der Vorwurf systematischer Vertreibungen von Serben und Roma aus dem Kosovo war erhoben worden, in improvisierten Gefangenenlagern der UCK kam es zu schweren Verbrechen, an deren Folgen mehrere Insassen starben. Möglicherweise könnte auch die Tatsache, daß das Den Haager Tribunal offizielle serbische Befunde, die noch aus der Zeit des nach Den Haag verschleppten, dort angeklagten und unter nie vollständig geklärten Umständen verstorbenen früheren jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milosevic stammten, für ausreichend belastbar hielt und in der Anklage berücksichtigte, zu dem erneuten Freispruch Haradinajs beigetragen haben.

Anmerkungen:

[1] Kosovo - Die Angst der Zeugen. Von Michael Martens, Istanbul. Online-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 28.11.2012,
http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/kosovo-die-angst-der-zeugen-11975222.html

[2] Kronzeugen leben gefährlich. Belastungszeugen des UNO-Kriegsverbrechertribunals wollten oder konnten nicht mehr ausagen. Der Standard, Online-Ausgabe vom 29.11.2012
http://derstandard.at/1353207727236/Kronzeugen-leben-gefaehrlich

[3] Die Anklageschrift war "etwas sehr ambitioniert". Balkan-Experte über den Freispruch des früheren UÇK-Führers Ramush Haradinaj vor dem UN-Tribunal. Der Balkan-Experte der F.A.Z., Michael Martens, im Gespräch mit Britta Bürger. Deutschlandradio, 28.11.2012, 14.10 Uhr
http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/thema/1935950/

[4] UN - Jubel und Wut nach Freispruch für Ex-Premier des Kosovos. Augsburger Allgemeine, 29.11.2012
http://www.augsburger-allgemeine.de/politik/Jubel-und-Wut-nach-Freispruch-fuer-Ex-Premier-des-Kosovos-id22939626.html

[5] Kosovo - Ex-Regierungschef des Kosovo freigesprochen. Auron Dodi, Deutsche Welle, 29.11.2012
http://www.dw.de/ex-regierungschef-des-kosovo-freigesprochen/a-16415828?maca=de-aa-top-856-rdf


29. November 2012