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DILJA/1426: Aufstandsprävention ... (SB)



Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser - was schon dem Volksmund zugeschrieben wird, stellt, wie mit Gewißheit anzunehmen ist, für die Verantwortlichen in Staat und Politik, insbesondere, was den Bereich der sogenannten inneren Sicherheit betrifft, eine Selbstverständlichkeit dar. Wer in Verantwortung steht für die Aufrechterhaltung herrschender Produktions-, Distributions-, Eigentums- und Verfügungsverhältnisse wird, wie zu vermuten steht, von einem Worst-case-Szenario ausgehen und dies vorwegnehmen, um bereits im Vorwege die optimal effektivsten Aufstandsbekämpfungs- oder, besser noch, -verhütungsmaßnahmen zu ergreifen bzw. in Bereitschaft zu stellen. Die Frage des Vertrauens zwischen den Eliten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft einerseits und dem Gros einer Bevölkerung andererseits, deren Realität oftmals eine gänzlich andere ist als die der medial kolportierten Solidargemeinschaft, in der niemand über Bord geht, kann natürlich in beide Richtungen gestellt werden.

Regierungsverantwortliche, namentlich die sogenannten Sicherheitsexperten, müssen ein elementares Interesse daran haben, in Erfahrung zu bringen, wie es um die Akzeptanz des politischen wie ökonomischen Systems in der Bevölkerung tatsächlich bestellt ist und wie die Bereitschaft Unzufriedener, vom Protest zum Widerstand überzugehen, einzuschätzen sein mag. Das Geschäft der Herrschaftssicherung und -optimierung dürfte umso schwieriger zu bewältigen sein, je mehr ein demokratisch verfaßter Rechtsstaat wie die Bundesrepublik Deutschland die Identifikation mit und Teilhabe an dem politischen System bevorzugt gegenüber der bloßen Anwendung repressiver Gewalt, geht doch deren Funktionalität stets mit der Gefahr einher, daß die ihr unterworfenen Menschen früher oder später zu rebellieren beginnen könnten.


Wer will wissen, wie junge Menschen denken?

Umfangreiche Einschätzungen darüber, wie die jüngere Generation in Europa heutzutage "tickt", liefert die europaweit von der SINUS Markt- und Sozialforschung GmbH durchgeführte Studie "Generation what?". Koordiniert von der European Broadcoast Union (EBU), dem Verband öffentlich-rechtlicher Sender in Europa, wurde fast eine Million junger Menschen im Alter zwischen 18 und 34 Jahren in 35 europäischen Ländern befragt. In Deutschland, wo sich bis März 2017 rund 180.000 junge Menschen an der seit dem 11. April 2016 durchgeführten Online-Befragung beteiligten, wurde die Studie vom Bayerischen Rundfunk, dem Südwestfunk und dem ZDF geleitet.

Auf der Basis der bis zum 1.8.2016 ausgefüllten Fragebögen ist inzwischen ein (erster) Bericht erstellt und veröffentlicht worden. In diesem "Europabericht" wurden die Ergebnisse aus Belgien, Deutschland, Griechenland, Italien, Luxemburg, den Niederlanden, Österreich, der Schweiz, Spanien und Tschechien zusammengefaßt. Nach Ansicht ihrer Autoren ist diese Studie repräsentativ für die über 80 Millionen Menschen dieser Altersgruppe in Europa. [1]

In Politik, Medien und Gesellschaft fiel das Echo auf die in diesem Bericht veröffentlichten Ergebnisse bisher relativ verhalten aus. In einer vom Bayerischen Rundfunk am 5. April veröffentlichten Pressemitteilung wird die Befragung als "die größte europäische Jugendstudie, die es jemals gab", bezeichnet. Zu den Ergebnissen wird dort u.a. ausgeführt:

Das Ergebnis ist deutlich: 82 Prozent der jungen Menschen in Europa haben kein Vertrauen in die Politik (45 Prozent haben "überhaupt keines" und 37 Prozent haben "eher keines"). In Deutschland haben lediglich 23 Prozent überhaupt kein Vertrauen in die Politik. Das ist im Europavergleich der niedrigste Wert. Am stärksten unterscheiden sich die jungen Deutschen hier von den Griechen (67 Prozent), den Franzosen (62 Prozent) und den Italienern (60 Prozent). [2]

Als ein möglicher Grund für dieses Mißtrauen wird die von fast 90 Prozent der Befragten in allen Ländern wahrgenommene Zunahme der sozialen Ungleichheit angeführt. Festgestellt wurde aber auch ein nur gering ausgeprägtes Vertrauen in die Medien und in religiöse Institutionen, die insgesamt die schlechtesten Zustimmungswerte aufwiesen. Gleichwohl zeichnet der Bayerische Rundfunk ein insgesamt eher positives Bild, so zum Beispiel durch die Aussage, die junge Generation würde vorsichtig optimistisch in die Zukunft blicken. Dazu heißt es:

Die jungen Europäer wurden gefragt, ob sie sehr pessimistisch, eher pessimistisch, eher optimistisch oder sehr optimistisch an die Zukunft denken. Es zeigt sich, dass jeweils nur etwas weniger als zehn Prozent völlig optimistisch oder völlig pessimistisch sind. In der Tendenz ist ein etwas größerer Anteil optimistisch als pessimistisch (55 Prozent versus 43 Prozent). Vor dem Hintergrund der Sorgen um wachsende Ungleichheit und dem geringen Vertrauen in die Institutionen ist es überraschend, dass der Großteil der jungen Menschen positiv in die Zukunft blickt. Das SINUS-Institut erklärt dies mit einem "Bewältigungsoptimismus": "Das junge Europa ist mit zahlreichen Krisenerfahrungen aufgewachsen: dem 11. September 2001, dem Platzen der Internetblase, dem Crash der Finanzmärkte, der Klimaproblematik und zuletzt der Flüchtlingssituation. Die junge Generation hat gelernt, pragmatisch mit Ungewissheiten umzugehen." [2]

In einer vom Südwestrundfunk herausgegebenen Pressemitteilung wird auf Ergebnisse der Studie eingegangen, die sich auf die Bereitschaft jüngerer Menschen beziehen, sich in politischen Organisationen oder NGOs zu engagieren:

Doch wer die junge Generation nur als "Nörgler" einschätzt, täuscht sich. Es gibt durchaus die Bereitschaft, sich aktiv einzubringen. Zum Beispiel in einer politischen Institution: Neun Prozent aller jungen Europäer haben hier bereits positive Erfahrungen gemacht. Für 31 Prozent ist institutionalisiertes politisches Engagement zwar Neuland, aber durchaus eine Überlegung wert. Dabei gibt es jedoch große Unterschiede zwischen den verschiedenen Ländern. Die Bereitschaft, in politischen Organisationen aktiv zu werden, ist in Deutschland mit Abstand am stärksten (44 Prozent) und am niedrigsten in Griechenland (13 Prozent). Unter den deutschen Befragten ist auch der Anteil derer am niedrigsten, die politisches Engagement grundsätzlich für sich ausschließen (32 versus 52 Prozent europaweit). Für eine Aktivität in einer NGO ist am meisten Bereitschaft vorhanden (51 Prozent vs. 31 Prozent). Besonders in der jüngsten befragten Altersgruppe (18 bis 19 Jahre) kann man sich mit dem Gedanken, sich in einer Nichtregierungsorganisation zu engagieren, überdurchschnittlich häufig anfreunden (61 Prozent). [3]

Auch hier wird, wenn man so will, ein vorsichtig positives Bild einer jungen Generation gezeichnet, die zwar mehrheitlich kein Vertrauen in die politischen Institutionen hat, gleichwohl aber bereit zu sein scheint, sich in politischen Organisationen oder NGOs zu engagieren.

In kritischen Medien wurde dieselbe Studie bereits ganz anders gelesen. Im Onlinemagazin Telepolis beispielsweise wurden die Verfasser der Studie dahingehend zitiert, daß die niedrigen Vertrauenswerte gerade auch, was die Medien betrifft, alarmierend seien, weil deren Glaubwürdigkeit für einen demokratischen Staat essentiell sei. [4] Daß junge Europäer kaum Vertrauen in die Institutionen inklusive der Medien hätten, sei dem Medien-Portal Meedia zufolge ein "erschütterndes Ergebnis". [5]

Bei Telepolis werden auch Ergebnisse der insgesamt 149 zu allen Gesellschafts- und Lebensbereichen gestellten Fragen berücksichtigt, auf die weder der Bayerische Rundfunk noch der Südwestfunk als Auftraggeber des vom SINUS-Institut erstellten Europaberichts in ihren Pressemitteilungen eingegangen sind. Gefragt wurde nämlich auch nach, wie es hieß, Einflußfaktoren auf das Mißtrauen in die Politik, wohl um näher zu erfassen, wie diejenigen, die ihr Mißtrauen artikuliert haben, politisch denken oder auch handeln könnten. So sollen beispielsweise 71 Prozent von ihnen (und 63 Prozent aller Teilnehmenden) der Ansicht sein, daß es in ihrem eigenen Land zu viele Leistungserschleicher gibt, desweiteren sollen 68 Prozent derjenigen, die den Institutionen mißtrauisch gegenüber stehen (und 53 Prozent aller Teilnehmenden) ihre Bereitschaft bekundet haben, "sich in naher Zukunft bei einem großen Aufstand gegen die Macht" zu beteiligen. In der Studie selbst werde kein Versuch unternommen, dieses Ergebnis zu erklären. [4]


Junge Generation bereit zum Aufstand?

"Stimmt was nicht mit der Jugend? Oder stimmt was nicht mit den Institutionen?" Unter dieser Frage wurde in der Online-Ausgabe der "Zeit" über das anhand der Studie Generation what? festgestellte Mißtrauen der jungen Europäer berichtet. Auch hier blieb die hohe Aufstandsbereitschaft unberücksichtigt:

Die Resultate zeigen auch, dass Misstrauen und Politikverdrossenheit nicht gleich Gleichgültigkeit bedeuten. Knapp jeder Dritte könnte sich vorstellen, in einer politischen Organisation aktiv zu werden. Mit 44 Prozent ist die Bereitschaft in Deutschland mit Abstand am Höchsten. Mehr als die Hälfte der jungen Europäer kann sich außerdem vorstellen, sich in einer Nichtregierungsorganisation (NGO) zu engagieren. Bei den 18- bis 19-Jährigen sind es sogar 61 Prozent. [6]

Selten nur wurden bislang die Widersprüche, die sich aus den Ergebnissen der Studie herauslesen lassen, thematisiert. Wie paßt das festgestellte Mißtrauen in Politik, Medien und Institutionen, gepaart mit der Einschätzung, daß die soziale Ungleichheit in allen Ländern immer mehr zunimmt, damit zusammen, daß unter den Befragten eine insgesamt eher positive Grundhaltung und Zukunftserwartung vorzuherrschen scheint? Und besteht nicht auch ein Widerspruch, der dazu führen könnte, die gestellten Fragen bzw. die mit der Studie insgesamt verfolgten Zwecke näher zu hinterfragen, als dies bisher geschehen ist, zwischen der konstatierten Bereitschaft einer Mehrheit, sich beispielsweise in einer NGO zu engagieren, und dem eigentlich spektakulärsten Ergebnis, nämlich der Bereitschaft von 53 Prozent der Befragten, sich an einem in naher Zukunft bevorstehenden Aufstand zu beteiligen?

Auf einer linken Webseite (World Socialist Webside), die die Aufstandsfrage in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung über die Studie gerückt hat, wurde Thomas Grond, der Chef der Abteilung für junges Publikum bei der Europäischen Rundfunkunion, befragt. Die Zahlen zeigten, so Grond, einen katastrophalen Zusammenbruch des Vertrauens in soziale Institutionen. Auf die Frage, ob er davon überrascht sei, daß so viele Jugendliche ihre Bereitschaft zur Teilnahme an einem großen Aufstand erklärt hätten, bekannte er: "Nicht wirklich." Die Gesellschaft gäbe ihnen einfach keine Chance zu zeigen, wozu sie fähig sind, so sein Erklärungsversuch. [7]


Der Kampf um Vertrauen und Akzeptanz

Das insgesamt eher verhaltene Echo in Politik, Medien und Gesellschaft auf den großen Mangel an politischem Vertrauen jüngerer Menschen in ganz Europa sowie die mangelnde Bereitschaft vieler Medien, den besonders prekären Teil der Umfrageergebnisse, nämlich daß über die Hälfte der jungen Generation Europas ihre Aufstandsbereitschaft artikulierte, öffentlich zu machen oder zur Diskussion zu stellen, bedeutet keineswegs, daß nicht gerade diese Resultate in Maßnahmen zur Aufstandsbekämpfung bzw. -prävention umgesetzt werden.

So hat beispielsweise der SPD-Vorsitzende und -Kanzlerkandidat Martin Schulz, angeblich mit Blick auf den bevorstehenden Bundestagswahlkampf, vor wenigen Tagen erklärt, pauschale Verurteilungen von "denen da oben" und den Medien würden die Fundamente der Demokratie zum Erodieren bringen. Die Politik müsse sich um mehr Glaubwürdigkeit bemühen, weil fehlendes Vertrauen zu Mißtrauen, Mißtrauen zu Angst und die wiederum zu einem Haß führe, den Populisten instrumentalisieren könnten, so Schulz. Der führende deutsche Sozialdemokrat ließ es an dieser Stelle an warnenden, um nicht zu sagen drohenden Worten nicht fehlen: "Wer gegen unsere Demokratie vorgeht, gegen den müssen wir vorgehen." [8]

Die Weichenstellungen dafür sind längst erfolgt. Vor drei Jahren, im Juni 2014, wurde vom EU-Rat weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit die in Art. 222 der EU-Verträge definierte sogenannte Solidaritätsklausel angenommen. Damit ist die EU zum Beistand unter Einsatz aller ihrer Mittel, auch militärischer, verpflichtet, wenn einer ihrer Mitgliedstaaten angesichts einer Katastrophen- oder Krisensituation, die er nicht selbst bewältigen zu können behauptet und die recht schwammig definiert werden, danach verlangt.

Nach Ansicht des Bundestagsabgeordneten der Linkspartei, Andrej Hunko, wurde damit im Rahmen der EU eine Art innenpolitischer Bündnisfall vorbereitet, der gelten solle, wenn "schwerwiegende Auswirkungen auf Menschen, die Umwelt oder Vermögenswerte drohen", worunter auch politisch motivierte Blockaden in den Bereichen Energie, Transport und Verkehr oder Generalstreiks fallen könnten. [9] Angesichts dessen liegt die Frage, ob die aktuelle Studie, erklärtermaßen die größte Vergleichsstudie ihrer Art, einen Kollateralnutzen in Sachen Aufstandsprävention abwerfen könnte, mehr als nahe, gehört es doch zu den klassischen Aufgabenfeldern sozialwissenschaftlicher Feldforschung, den regierenden Eliten verläßliche Angaben zur Identifizierung, Erfassung, Einbindung oder auch Bekämpfung potential widerständiger Bevölkerungsteile zu liefern.


Fußnoten:

[1] Europäischer Abschlussbericht der Studie "Generation what?" als pdf herunterzuladen auf der Webseite des Bayerischen Rundfunks:
http://www.br.de/presse/inhalt/pressemitteilungen/generation-what-europaeischer-abschlussbericht-100.html

[2] http://www.br.de/presse/inhalt/pressemitteilungen/generation-what-europaeischer-abschlussbericht-100.html

[3] http://www.swr.de/unternehmen/kommunikation/5-europas-jugend-hat-nur-wenig-vertrauen-in-politik-und-institutionen/-/id=10563098/did=19317318/nid=10563098/z9ucjs/index.html

[4] http://www.heise.de/-3676106

[5] http://meedia.de/2017/04/05/groesste-europaeische-jugendstudie-generation-what-junge-leute-haben-kaum-vertrauen-in-medien-und-institutionen/

[6] http://www.zeit.de/politik/ausland/2017-04/jugendstudie-generation-what-jugendliche-politik-vertrauen

[7] http://www.wsws.org/en/

[8] https://www.welt.de/newsticker/dpa_nt/infoline_nt/brennpunkte_nt/article164946973/Schulz-verurteilt-Populismus-und-Trumps-Affront-in-Bruessel.html

[9] http://heise.de/-2242898

30. Mai 2017


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