Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

ASIEN/650: Schießwütige NATO-Truppe blamiert sich in Afghanistan (SB)


Schießwütige NATO-Truppe blamiert sich in Afghanistan

Zahl der getöteten Zivilisten am Hindukusch steigt unaufhörlich


Im Afghanistan stehen die Dinge für die NATO nicht zum besten. Seit Anfang des Jahres klettert die Zahl der getöteten Soldaten, Aufständischen und Zivilisten in die Höhe, was nicht zuletzt mit der drastischen Zunahme der Menge der am Hindukusch stationierten, ausländischen Militärs im Rahmen der Eskalationsstrategie von US-Präsident Barack Obama auf inzwischen mehr als 120.000 zusammenhängt. Afghanistans Präsident Hamid Karsai, der Korruptionsvorwürfe, die er aus dem Westen ständig zu hören bekommt, überdrüssig, teilt seinerseits seit einigen Wochen energisch aus. Er hat die USA und die NATO offen bezichtigt, von Afghanistan aus ganz Zentralasien kontrollieren zu wollen, sich auf unzulässige Weise in die Präsidentenwahl im letzten Sommer eingemischt zu haben und selbst für einen Gutteil der Korruption im Lande verantwortlich zu sein. Während man sich in Washington, Berlin, Paris und London über die jüngsten, angeblich undankbaren Töne aus Kabul lautstark empört, führen unvoreingenommene Beobachter Karsais aufgeflammten Nationalismus und seine Kritik an die Adresse der USA und der NATO auf die wachsende Unzufriedenheit bei der afghanischen Bevölkerung mit den ausländischen Streitkräften zurück. Schließlich beklagt Karsai seit über einem Jahr, und das bisher vergeblich, die kontinuierlich steigende Anzahl der zivilen Opfer des Krieges.

Zu der Unzufriedenheit der Afghanen mit den ungebetenen ausländischen Gästen trägt auch die Bundeswehr erheblich bei. Nach dem skandalösen, im letzten September von deutschen Offizieren angeordneten und von US-Kampfjets durchgeführten Bombenangriff auf einen stehengebliebenen, gestohlenen Tanklastwagen - ein bis heute nicht gänzlich aufgeklärter Vorfall, der mehr als 120 Zivilisten das Leben kostete und somit das größte Einzelmassaker des seit Oktober 2001 andauernden Krieges darstellt - machte sich die Bundeswehr am 2. April an ihrem Stationierungsort Kundus weiter unbeliebt. Nach einem Überfall auf eine Patrouille, bei dem die Taliban drei Bundeswehrsoldaten töteten, erschossen ihrerseits deutsche Soldaten sechs Kameraden von der afghanischen Armee, die wie sie per Fahrzeug auf dem Weg zum Ort des Überfalls waren. Das Fahrzeug der afghanischen Soldaten soll sich dem gepanzerten der Deutschen zu sehr genähert haben, weshalb letztere dachten, sie würden von den Taliban bedroht werden, und mit der Bordkanone das Feuer eröffneten. Inwieweit der Geländewagen der afghanischen Soldaten militärische Markierungen trug, ist derzeit Gegenstand von Ermittlungen.

Was die von NATO-Soldaten auf den Straßen Afghanistans ausgehende Bedrohung für alle anderen Verkehrsteilnehmer betrifft, so berichtete die New York Times am 27. März: "Laut Militärs in Kabul haben US- und NATO-Soldaten, die aus fahrenden Konvois oder von Kontrollpunkten aus Schüsse abgeben, seit dem letzten Sommer mehr als 30 Zivilisten getötet und weitere 80 verletzt, doch in keinem Fall stellte sich heraus, daß die Opfer eine Gefahr für die Soldaten dargestellt hätten." Der Autor des Artikels "Tighter Rules Fail to Stem Deaths of Innocent Afghans at Checkpoints", Richard A. Goppel jun., zitierte den ISAF-Oberkommandierenden US-General Stanley McChrystal mit den bemerkenswerten Worten: "Wir haben eine erstaunliche Zahl von Menschen erschossen, doch meines Wissens konnte nicht nachgewiesen werden, daß überhaupt jemand von ihnen eine Bedrohung dargestellt hätte." In dem Artikel stellt Goppel fest, daß die Zahl der zivilen Opfer von Straßenschießereien, in die westliche Soldaten verwickelt werden, niedriger als diejenige infolge von NATO-Luftangriffen oder Operationen westlicher Spezialstreitkräfte liegt. Um solche Todesfälle, welche dem erklärten strategischen Ziel der NATO, die Sympathie und das Vertrauen der afghanischen Bevölkerung zu gewinnen, zuwiderlaufen, zu vermeiden, hat McChrystal strengere Gefechtsregeln eingeführt, denen zufolge erst geschossen oder bombardiert werden darf, wenn sicher ist, daß sich keine Zivilisten am Ziel oder in dessen Nähe befinden.

Bisher zeigen die neuen Gefechtsregeln wenig Erfolg. Dieser Tage sorgt in Afghanistan ein besonders perfider Vorfall, der sich in der Nacht vom 11. auf den 12. Februar in dem Dorf Khataba nahe der Stadt Gardes in der ostafghanischen Provinz Paktia ereignete, für Empörung. In jener Nacht führten US-Spezialstreitkräfte und Mitglieder der neuen afghanischen Armee eine Razzia durch und verwechselten eine Dorffeier anläßlich der Geburt eines Kindes mit einem konspirativen Treffen der Taliban. Als der Polizeikommandeur Daud die Feier verließ und mit einem Gewehr in der Hand auf den Hof ging, um zu sehen, wer dort herumschlich, wurde er gleich von US-Scharfschützen, die sich auf einem Dach postiert hatten, erschossen. Als sein Bruder, der Anwalt Saranwal Zahir, Daud zu Hilfe eilte, wurden er und drei Frauen, die ihn an der Tür am Verlassen des Haus hindern wollten, ebenfalls von den US-Elitesoldaten niedergestreckt.

Nach der traurigen Feststellung, daß man unschuldige Zivilisten und keine "bad guys" umgebracht hatte, schaltete die ISAF auf Schadensbegrenzung. Öffentlich wurde der Vorfall als Kampfhandlung gemeldet, und Daud und Zahir wurden kurzerhand zu Aufständischen erklärt. Der Tod der drei Frauen - zwei schwangere Mütter und eine Jugendliche - wurde zum "Ehrenmord" deklariert. In den ersten offiziellen Verlautbarungen hieß es, die Soldaten hätten nach der erfolgreich bestandenen Auseinandersetzung mit den beiden männlichen Widersachern die Leichen der Frauen geknebelt und gebunden im Hause vorgefunden. Es wurde der Schluß nahegelegt, daß die Frauen schon Stunden vor dem Eintreffen der US-Spezialstreitkräfte von ihren männlichen Verwandten umgebracht worden waren.

Nur durch die sorgfältige Recherche des Sunday-Times-Reporters Jerome Starkey, der das Dorf aufsuchte und mit örtlichen Beamten und Angehörigen der Opfer sprach, konnte im März diese verleumderische, auf anti-islamische Klischees anspielende Version der Ereignisse widerlegt werden. Am 4. April sah sich die ISAF schließlich gezwungen zuzugeben, daß alle fünf Personen von US-Soldaten versehentlich erschossen wurden. Gegen die an der Operation beteiligten US-Militärs wird seitens der afghanischen Polizei ermittelt, denn es gibt Zeugenaussagen, wonach diese mit Messern ihre Kugeln aus den Leichen der getöteten Frauen herausholten und die Eintrittswunden mit Alkohol säuberten, offenbar um die Spuren zu verwischen und der hastig gebastelten Legende vom "Ehrenmord" eine gewisse Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Währenddessen geht das Töten von afghanischen Zivilisten aus der Luft unvermindert weiter. Nachdem am 5. April von einem Anwesen im Bezirk Nahri Sarraj in der Provinz Helmand aus auf NATO-Soldaten sowie Mitglieder der afghanischen Armee und Polizei geschossen worden war, forderte man Luftunterstützung an. Kurz danach wurde das Anwesen von NATO-Flugzeugen bombardiert. Beim anschließenden Betreten des Anwesens stieß man auf die Leichen von mindestens vier getöteten Zivilisten - ein Greis, zwei Frauen und ein Kind. Man fand auch die Leichen von vier Männern, wobei seitens der afghanischen Polizei noch festgestellt werden muß, ob es sich bei diesen um Aufständische oder Zivilisten handelte. Jedenfalls erweckt dieser neuerlicher Vorfall nicht den Eindruck, als würden McChrystals Gefechtsregeln entscheidend zur Verringerung der Tötung von Zivilisten in Afghanistan beitragen.

7. April 2010