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ASIEN/688: Londoner Denkfabrik stellt NATO-Einsatz in Afghanistan in Frage (SB)


Londoner Denkfabrik stellt NATO-Einsatz in Afghanistan in Frage

US-Expertengruppe äußert Zweifel an Petraeus' Kriegsstrategie


Rechtzeitig zum neunten Jahrestag der Flugzeuganschläge vom 11. September hat eine der angesehensten Denkfabriken Großbritanniens in einem neuen Bericht den Sinn der NATO-Mission in Afghanistan in Frage gestellt. Das ist auch gut so. Ursprünglich hieß es, die Streitkräfte der USA und ihrer NATO-Verbündeten müßten nach Afghanistan hinein, um Osama Bin Laden, den mutmaßlichen Anstifter der Angriffe auf das New Yorker World Trade Center, gefangenzunehmen. Daß man dabei auch noch die Taliban-Regierung um Bin Ladens Schwager, Mullah Muhammed Omar, stürzte, wurde der Welt als Chance zum Neuanfang und zum Wiederaufbau des kriegserschütterten Landes verkauft.

Inzwischen tobt der Krieg in Afghanistan so schlimm wie noch nie, die Verluste unter Soldaten, Aufständischen und der Zivilbevölkerung nehmen stetig zu (Von einer Verhaftung Bin Ladens ist seit Jahren nicht mehr die Rede). Auf Drängen des Pentagons hat US-Präsident Barack Obama in den letzten Monaten die Zahl der US-Soldaten in Afghanistan auf mehr als 100.000 erhöht. Mit rund 150.000 hat die Zahl der am Hindukusch stationierten NATO-Soldaten einen neuen Höhepunkt erreicht. Doch statt die Offensive der Taliban und deren Verbündeten bei dem Hakkani-Netzwerk und der Hisb-i-Islami um den ehemaligen Mudschaheddin-Kommandeur und Premierminister Gulbuddin Hekmatjar zu stoppen, treibt die Anwesenheit immer mehr ausländischer Soldaten offenbar immer mehr junge afghanische Männer in den Aufstand. Hatte bei der entscheidenden Strategiedebatte im Weißen Haus im Dezember 2009 der damalige CENTCOM-Chef David Petraeus Obama versprochen, mit 30.000 Mann mehr würden er und General Stanley McChrystal die Taliban in die Knie zwingen und mit dem vom Präsidenten geplanten Truppenabzug im Juli 2011 beginnen können, so sehen die Dinge jetzt anders aus. Petraeus, der im vergangenen Juli McChrystal als Afghanistan- Oberbefehlshaber abgelöst hat, will den Abzug von "Bedingungen vor Ort" abhängig machen und hat inzwischen die Entsendung von weiteren 2000 NATO-Soldaten beantragt.

750 von diesen zusätzlichen Militärangehörigen sollen beim Aufbau der afghanischen Armee und Polizei helfen, der zwar als Schlüssel zur Verwirklichung von Obamas Abzugsplänen gilt, bei dem man jedoch vor gewaltigen, eventuell nicht lösbaren Problemen steht. Bis zum 31. Oktober 2011 soll die Zahl der afghanischen Polizisten und Soldaten von derzeit 250.000 auf 300.000 erhöht werden, damit sie im Zuge des geplanten US-Truppenabzugs peu-à-peu die Verantwortung für die Sicherheit im Lande übernehmen können. Das Ziel ist jedoch vollkommen illusorisch. Wie die Nachrichtenagentur Associated Press am 7. September unter Berufung auf den Chef der NATO-Ausbildungsmission in Afghanistan, US-Generalleutnant Bill Caldwell, berichtete, sind die Raten für Fahnenflucht und Verluste bei den afghanischen Sicherheitskräften so hoch, daß man 141.000 junge Männer wird rekrutieren und ausbilden müssen, um bis Ende kommenden Jahres die Gesamtanzahl auf 50.000 und mehr erhöht zu haben.

Hinzu kommen Probleme der Korruption, der Unterwanderung durch Taliban-Sympathisanten, Drogenmißbrauch und der ethnisch-einseitigen Rekrutierung. Da die Taliban hauptsächlich ein paschtunisches Phänomen sind, melden sich in deren Siedlungsgebieten im Süden und Osten nur wenige Personen zum Dienst in der afghanischen Armee und bei der Polizei. Die neuen afghanischen Sicherheitsbehörden werden folglich übermäßig von Hasara, Tadschiken und Usbeken besetzt und gelten im Grunde genommen als Armee der früheren Nordallianz im neuen Gewand. Im Osten und Süden Afghanistans genießen sie deshalb wenig Legitimität, während im Gegenteil die Taliban im Norden und Westen zunehmend Anhänger und Unterstützer zu finden scheinen - jedenfalls nach der dort ansteigenden Häufigkeit von Überfällen und Bombenanschlägen zu urteilen.

Für den 18. September sind Parlamentswahlen in Afghanistan angesetzt. Die Taliban haben zum Boykott aufgerufen und verleihen ihrem Appell mit diversen Einschüchterungsmaßmahmen bis hin zur öffentlichen Hinrichtung Nachdruck. Darüber hinaus haben sie Präsident Hamid Karsais Vorschlag zur Einrichtung eines Friedensrats, der Verhandlungen zwischen der Regierung in Kabul und den Anführern des Aufstandes initiieren sollte, als sinnlos zurückgewiesen. Erst durch den Abzug aller ausländischen Streitkräfte aus Afghanistan entstünde die Chance zu einem dauerhaften Frieden zwischen den verfeindeten Volksgruppen, so der Talibansprecher Kari Mohammed Jousaf in einer Verlautbarung von deren Afghan Islamic Press (AIP).

Karsai plagt sich ohnehin mit Korruptionsvorwürfen herum, die gerade in den letzten Tagen durch den drohenden Kollaps der Kabul Bank und mit ihr des gesamten afghanischen Finanzsektors an Brisanz gewonnen haben. Ende August meldete die Kabul Bank Verluste von rund 300 Millionen Dollar, die hauptsächlich durch das Platzen der Immobilienblase in Dubai entstanden sein sollen. Da diese Summe die Einlagen der Bank bei weitem übertreffen, kam es zu einem Ansturm seitens Kontoinhabern und Kleinanlegern. Vermutlich wird die Karsai-Regierung - eventuell mit Hilfe der USA - finanziell eingreifen müssen, um die Kabul Bank vor dem Konkurs zu retten. Ein solcher Schritt wäre für Karsais ohnehin ramponiertes Ansehen nicht gerade vorteilhaft, gehören doch sein Bruder Mahmud, und Haseen Fahim, der Bruder seines Vizepräsidenten, der ehemalige Mudschaheddin- und Nordallianz-Kommandeur General Muhammed Kasim Fahim, zu den Anteilseignern der vom Untergang bedrohten Finanzinstitution.

All dessen ungeachtet tut der NATO-Oberbefehlshaber Petraeus so, als stünden ihm nun nach der Vollendung der Truppenaufstockung alle Mittel zur Verfügung, um die Taliban endlich in die Schranken weisen zu können. Trotz der Tatsache, daß die Operation zur Vertreibung der Aufständischen aus Mardschah in der südafghanischen Provinz Helmand fehlgeschlagen ist und sich die NATO-Truppen dort immer noch nicht haben durchsetzen können, läßt Petraeus die schon länger angekündigte Großoffensive um die Taliban-Hochburg Kandahar, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, anrollen und preist vor der Presse die nächtlichen Fange-oder-töte-Einsätze seiner Spezialstreitkräfte als großen Erfolg. Gegen diese Interpretation sprechen die Angaben der New York Times, die am 6. September berichtete, daß das Programm, mit dem man per Geldzahlungen und Aussicht auf Einstellung bei Armee und Polizei Taliban-Kämpfer der niederen und mittleren Ebenen zum Seitenwechsel bewegen wollte, vollkommen fehlgeschlagen ist. Von den versprochenen 250 Millionen Dollar hat die Friedens- und Versöhnungskommission der afghanischen Regierung von den internationalen Geldgebern für diesen Zweck nur einen Bruchteil erhalten. Wegen der geringen Resonanz hat man lediglich 200.000 Dollar ausgegeben, denn nur "wenige Hunderte" Taliban-Kämpfer sind auf das Angebot eingegangen, so die New York Times.

Vor diesem Hintergrund überrascht das pessimistische Fazit des jüngsten Afghanistan-Berichts des Londoner International Institute for Strategic Studies nicht, der am 7. September veröffentlicht wurde. Erfrischenderweise werfen die IISS-Experten die offizielle These, wie sie einst so rühmlich vom damaligen deutschen Verteidigungsminister Peter Struck formuliert wurde, nämlich durch den Einsatz am Hindukusch "verteidige" die NATO den nordatlantischen Raum, auf den Müllhaufen der Geschichte. Statt dessen bezeichnen sie ein Festhalten an der ihres Erachtens verfehlten Aufstandsbekämpfungstrategie von Petraeus und der NATO-Generalität, die Taliban müßten zurückgedrängt werden, weil man nur aus einer Position der Stärke heraus mit Mullah Omar in Verhandlungen treten dürfe, als die größte Bedrohung der nordatlantischen Allianz. Der für die NATO militärisch nicht zu gewinnende Krieg in Afghanistan entwickele sich zu einem "langen, endlosen Desaster", das Ressourcen, die an anderen Schauplätzen und für andere Aufgaben dringend benötigt würden, verschlinge, so die IISS-Analytiker. Sie schlagen einen drastischen Truppenabzug und eine Verständigung mit den Taliban darüber, daß diese Al Kaida keinen Unterschlupf mehr bieten, an. Der punktuelle Einsatz von Spezialstreitkräften dürfte, an welchem Schauplatz auch immer, genügen, um Al Kaida in Schach zu halten, heißt es in dem Bericht, zu dessen Autoren der IISS-Direktor Nigel Ingster, der ehemalige Stellvertretende Direktor des britischen Auslandsgeheimdienstes MI6, gehört.

Interessanterweise ist am 8. September in Washington ein ähnlicher Bericht erschienen, diesmal aus der Feder der sogenannten "Afghanistan Study Group" (ASG), die sich aus namhaften ehemaligen Geheimdienstlern wie dem Ex-CIA-Analytiker Paul Pillar und Patrick Lang, einst Spezialist für den Nahen Osten und Südasien bei der Defense Intelligence Agency (DIA), und Akademikern wie dem Afghanistan-Experten Selig Harrison vom Center for International Policy (CIP) und Stephen Walt, Politikwissenschaftler von der Universität Harvard, zusammensetzt. In dem Bericht "A New Way Forward" fordern die Mitglieder der Studiengruppe für Afghanistan offen eine "neue Strategie", die auf eine drastisch reduzierte NATO-Militärpräsenz am Hindukusch und ein Festhalten an dem von Obama aufgestellten Truppenabzugsplan hinausläuft. Es steht jedoch zu befürchten, daß sich die US-Generalität um Petraeus als unempfänglich für die Warnungen der IISS und der ASG zeigen wird.

9. September 2010