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ASIEN/703: Friedensgespräche in Afghanistan - Mehr Schein als Sein? (SB)



Friedensgespräche in Afghanistan - Mehr Schein als Sein?

Kriegsziele der Taliban und der USA derzeit noch unvereinbar

Seit Mitte Oktober sind die ersten offiziellen Friedensverhandlungen zwischen der Regierung Hamid Karsais und Vertretern der Taliban über eine Beendigung des Afghanistankriegs ein großes Thema der Medien und der internationalen Diplomatie. Einstige Gegner von Verhandlungen mit der Führung der Aufständischen wie der ISAF-Oberkommandeur General David Petraeus und die US-Außenministerin Hillary Clinton verblüfften mit dem freimütigen Geständnis, die NATO habe "ranghohen" Vertretern der Taliban freies Geleit nach Kabul gewährt, damit sie dort Gespräche mit Mitgliedern des von Karsai eingesetzten Friedensrats führen könnten. Diese Angaben haben die Taliban selbst stets bestritten. Vor wenigen Tagen hat die Talibanführung eine Presseerklärung herausgegeben, in der sie der NATO, "ihren afghanischen Marionetten und den westlichen Medien" vorwarf, mit "organisierter Propaganda" den Eindruck erwecken zu wollen, daß "die Mudschaheddin des Islamischen Emirats [Afghanistan] zu Verhandlungen bereit" wären und daß man "Fortschritt in diese Richtung gemacht" hätte. Davon könne überhaupt nicht die Rede sein, so die Taliban. Eine Teilbestätigung für diese Interpretation der Dinge lieferte am 25. Oktober der Londoner Guardian mit einem Artikel, in dem es unter Verweis auf Diplomaten und Beobachter hieß, bei den afghanischen Friedensverhandlungen handele es sich in erster Linie um "Schaumschlägerei"; die Kontakte der Karsai-Regierung zu irgendwelchen Aufstandskommandeuren würden "übertrieben dargestellt werden, um den Eindruck zu verstärken, die Streitkräfte der NATO und Afghanistans" erzielten "strategische Gewinne".

Untersucht man den ganzen Wust an Berichterstattung über die Friedensverhandlungen auf verläßliche Angaben hin, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß es sich hier hauptsächlich um eine Fortsetzung jener Teile-und-Herrsche-Strategie geht, mit der letztes Jahr Petraeus und der im Sommer wegen Respektlosigkeit gegenüber der politischen Führung in Washington entlassene General Stanley McChrystal angetreten sind, nämlich einerseits mittels verstärkter Drohnenangriffe und einer beeindruckenden Truppenaufstockung militärische Entschlossenheit zu demonstrieren, während man andererseits mit finanziellen und anderen Anreizen die Gruppen um Gulbuddin Hekmatjar und das Vater-und-Sohn-Gespann Jalaluddin und Saraj Hakkani sowie Aufständische der unteren und mittleren Ebene bei den Taliban zur Kampfaufgabe zu überreden versucht, um die Männer um Mullah Mohammed Omar zu isolieren - und eventuell auszuschalten.

Für diese Interpretation sprechen die jüngsten Äußerungen von Richard Holbrooke, Barack Obamas Sondergesandtem für die Region Afghanistan-Pakistan. Bei einem Auftritt am 24. Oktober bei der CNN-Sendung "Fareed Zakaria GPS" behauptete der ehemalige Sondergesandte Bill Clintons für Bosnien-Herzegowina und Kosovo, die Gespräche zwischen der Karsai-Regierung und "immer mehr ranghohen Mitgliedern der Taliban" seien der Beweis dafür, daß der von Petraeus in den letzten Wochen im Raum Kandahar erzeugte, militärische "Druck" seine Wirkung zeige. Während sich Holbrooke einerseits für eine Wiedereingliederung der Taliban in die politischen Strukturen Afghanistans aussprach, warnte er vor allzu vielen Hoffnungen in den Gesprächen, weil die NATO auf der Gegenseite angeblich keinen Partner, "keinen Ho Chi Minh, keinen Slobodan Milosevic und keine Palästinensische Autonomiebehörde" habe, mit dem man zu verläßlichen Ergebnissen kommen könnte. Laut Holbrooke befinden sich die USA und ihre NATO-Verbündeten in Afghanistan mit einer "weitgestreuten Gruppe, die wir in etwa den Feind nennen" im Krieg. Bei den Taliban handele sich um eine "lose Gruppierung mit einer sehr undurchsichtigen Organisationsstruktur", so Holbrooke.

Dies stimmt natürlich nicht. Nach wie vor gilt unter den Taliban die Führung Mullah Omars als unangefochten. In einem Artikel, der am 24. Oktober in der Online-Version der Washington Post erschienen ist, wurde über die Frustration in den höchsten pakistanischen Geheimdienst-und Militärkreisen über den Versuch der Regierungen Karsai und Obama berichtet, am der Quetta Shura, der Talibanführung um Mullah Omar, vorbei zu einem Deal mit anderen hochrangigen Aufständischen zu kommen. Im Bericht der Washington Post wurde ein namentlich nicht genannter Brigadegeneral des pakistanischen Geheimdienstes Inter-Services Intelligence Directorate (ISI) mit den Worten zitiert, die Treffen in Kabul mit einzelnen Taliban-Kommandeuren "ohne die Genehmigung von Mullah Omar" wären "ein tödlicher Fehler". Omar habe "in den Reihen der Taliban immer noch die Macht"; "niemand" könne "sich ihm widersetzen", so der ISI-Vertreter.

Der Grund, warum die Amerikaner an der Talibanführung vorbei eine Lösung suchen, ist einfach. Mullah Omar und die Quetta Shura beharren im Rahmen einer Nachkriegsordnung für Afghanistan auf ihrer Forderung nach einem Abzug aller ausländischen Streitkräfte. Washington dagegen strebt eine langfristige Militärpräsenz der USA und der NATO in Afghanistan an. Nichts verdeutlicht dieses Streben mehr als der ununterbrochene Ausbau einiger gigantischer US-Militärstützunkte am Hindukusch. Über das von den Medien viel zu wenig beachtete Phänomen berichtete am 22. Oktober ausführlich bei TomDispatch.com Nick Turse. In dem Artikel mit der Überschrift "How Permanent Are America's Afghan Bases?" schätzte Turse, die Zahl der in Afghanistan stationierten US-Soldaten würde frühestens 2016 unter 36.000, jener Mannstärke, die es dort beim Antritt Obamas als Präsident im Januar 2009 gab, fallen. Angesichts solcher Fakten am Boden scheint es nichts zu geben, worüber die Taliban mit den Vertretern der USA groß zu diskutieren hätten.

25. Oktober 2010