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ASIEN/724: Atomdeal USA-Indien wegen Wikileaks in Mißkredit (SB)


Atomdeal USA-Indien wegen Wikileaks in Mißkredit

Indiens Kongreßpartei unter massivem Korruptionsverdacht


In Indien haben Depeschen des US-Außenministeriums, die vom Enthüllungsportal Wikileaks ergattert und am 17. März von der in Chennai ansässigen Zeitung The Hindu veröffentlicht wurden, die von Premierminister Manmohan Singh von der Kongreßpartei angeführte Bundesregierung in Neu-Delhi in große Erklärungsnot gebracht. Die Depeschen liefern dokumentarische Bestätigung für den Verdacht, daß die Singh-Regierung vor drei Jahren das hochumstrittene Atomabkommen mit den USA nur mittels Bestechung im großen Stil durchs Parlament gebracht hat. Angesichts der Tatsache, daß die Regierung Singh schon seit Monaten wegen einer Korruptionsaffäre im Verbindung mit der Vergaben von Mobiltelefonlizensen am Pranger steht, wodurch dem indischen Staat Einnahmen in Höhe von bis zu 40 Milliarden Dollar entgangen sein sollen, könnte man - wie regierungsfreundliche Teile der indischen Presse es versuchen - die Enthüllungen um die Vorgänge um die damalige parlamentarische Abstimmung als überholt und von minderer Bedeutung abtun. Damit würde man aber einer geschichtlichen Verkennung unterliegen. Beim indischen Telekomskandal geht es lediglich um einen üblichen, wenn auch großen Fall der illegalen Bereicherung, beim Abschluß des Atomdeals zwischen Indien und den USA dagegen um ein geopolitisches Großereignis, und zwar nicht nur wegen des Schulterschlusses zwischen Neu-Delhi und Washington - gegen Peking in erster Linie - sondern wegen der negativen, langfristigen Auswirkungen auf die internationalen Bemühungen zur Eindämmung der Proliferation von Kernwaffen und zur Verbannung der Gefahr eines Atomkrieges.

Im Juli 2005 hatte Singh zusammen mit George W. Bush das Atomabkommen paraphiert und damit zahlreiche Abgeordnete seiner seit 2004 regierenden großen linken Parteienkoalition namens Vereinigte Progressive Allianz (VPA) gegen sich aufgebracht. Das Abkommen sah den Ausbau der zivilen Kernkraft in Indien mit Hilfe der US-Atomindustrie vor - was für beide Seiten ein lukratives Geschäft zu werden versprach. Darüber hinaus sollte es Neu-Delhi und Washington zu strategischen Partnern und Indien zum Großkunden amerikanischer Waffen machen. Auch international war das Abkommen hoch umstritten, weil dadurch die USA gegen ihre Verpflichtungen als Unterzeichnerstaat des Atomwaffensperrvertrags verstoßen würden. Der Vertrag, den zu unterzeichnen Indien niemals bereit gewesen ist, verbietet ausdrücklich die Weitergabe von Nukleartechnologie an Nicht-Unterzeichnerstaaten.

Peking sah in dem Abkommen die Einbindung Indiens in eine gegen die Volksrepublik China gerichtete Containment-Strategie der USA, während sich Islamabad durch die Sonderbehandlung, die Pakistans ärgstem Feind durch Washington zuteil wurde, schwer benachteiligt fühlte. In allen anderen Hauptstädten wurde der Vorstoß Washingtons als eine kurzsichtige Torpedierung jahrzehnterlanger Abrüstungsbemühungen und als weiterer Beleg für den eigentümlichen Umgang der USA mit multilateralen Verträgen zur Kenntnis genommen. Während George Bush jun. keine Probleme haben durfte, den Kongreß für das Abkommen zu gewinnen, sollte ihm die Einwilligung der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) und der 35 Staaten zählenden Nuclear Suppliers Group (NSG) eine Menge diplomatische Arbeit kosten.

In Indien sah sich Singh mit dem Problem konfrontiert, daß nicht nur weite Teil der Bevölkerung und die oppositionelle, hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP), sondern auch noch viele Abgeordnete der eigenen VPA-Regierungskoalition das Abkommen ablehnten, weil sie gegen die strategische Partnerschaft mit den USA einschließlich der Neuausrichtung gegen China und Neu-Delhis Verzicht auf seine langjährige Rolle als Führungsmacht der blockfreien Bewegung waren. Der Streit zwischen den Abkommensbefürwortern, die sich davon den Aufstieg Indiens zur Weltmacht versprachen, und -gegnern, die an der traditionellen Neutralitätspolitik Neu-Delhis hingen, spitzte sich über zwei Jahre zu, bis aus Protest gegen den Kurs Singhs am 9. Juli 2008 59 Abgeordnete vierer kommunistischer Parteien der Koalition den Rücken kehrten. 13 Tage später kam es zum Mißtrauensvotum gegen die Singh-Regierung, an dem der Premierminister die Frage gekoppelt hatte, ob Neu-Delhi der IAEA und der NSG das Atomabkommen mit den USA zur Absegnung vorlegen dürfe oder nicht.

Bei der Abstimmung kam es zu einem im indischen Unterhaus noch niemals dagewesenen Tumult. Mehrere kranke Abgeordnete, die für die Regierung stimmen sollten, wurden extra auf Tragen in das Parlament gebracht. Vier inhaftierte Politiker, darunter ein verurteilter Mörder, erhielten aufgrund ihrer Immunität als Abgeordneter einen befristeten Ausgang, um an der Abstimmung teilnehmen zu können. Gegen 18 Uhr kam es zum Eklat, als BJP-Vertreter vor laufenden Kameras Geldbündel hochhielten und die Singh-Regierung bezichtigten, Stimmen oppositioneller Abgeordneter gekauft zu haben. Daraufhin gerieten die Parlamentarier sich dermaßen in die Haare, daß sich der staatliche indische Rundfunk gezwungen sah, die Live-Übertragung aus dem Sitzungssaal zu unterbrechen. Statt dessen bekamen die Politikinteressierten Indiens zwecks Erholung und allgemeiner Erbauung herzergreifende Bilder aus dem Leben und Wirken der 1997 verstorbenen, 2003 vom Vatikan seliggesprochenen Nonne Mutter Theresa von Kalkutta zu sehen.

Um das Mißtrauensvotum zu überstehen und den Atomdeal mit der Supermacht USA zu besiegeln, brauchten Singh und seine Getreuen 272 Stimmen der 543sitzigen Kammer. Am Ende bekam sie 275, während nur 256 Abgeordnete - bei elf Enthaltungen - für einen Rücktritt der Regierung votierten. Anschließend verkündete der Premierminister voller Pathos, das historische Votum beweise, daß Indien bereit sei, "seinen rechtmäßigen Platz im Bund der Nationen" einzunehmen. Die Opposition bewertete den Vorgang anders. Mayawati Kumari, Regierungschefin des Bundesstaats Uttar Pradesh und prominenteste Vertreterin der Kaste der "Unberührbaren", warf Singh und der Kongreßpartei vor, das Ergebnis der Abstimmung gekauft und Indiens "Demokratie ermordet" zu haben.

Auch auf die Politik Barack Obamas sollte das Abkommen seine Auswirkungen haben. Hatte der smarte junge Senator aus Illinois bei seiner Bewerbung um das Amt des US-Präsidenten anfänglich angeregt, die Inder und Pakistaner an einen Tisch zu setzen, um den gefährlichen Zankapfel Kaschmir ein für allemal aus der Welt zu schaffen, so ließ er nach der Besiegelung des Atomabkommens diesen Vorschlag einfach unter den Tisch fallen. Als Präsident trat er zu keinem Zeitpunkt als unparteiischer Vermittler zwischen Indien und Pakistan auf, sondern behandelte ersteres stets als Verbündeten, letzteres als unzuverlässigen "Schurkenstaat" in spe. Nicht zufällig wurde im November 2009 Singh der erste ausländische Regierungschef, der von Obama mit einem Staatsbankett im Weißen Haus geehrt wurde.

Stimmen die Angaben, welche die dank Wikileaks nun von The Hindu veröffentlichten Dokumente enthalten, dann lagen die Gegner des Atomabkommens mit ihren Betrugsvorwurfen an die Adresse der Singh-Administration richtig. In einer Depesche des State Department vom 17. Juli 2008 - fünf Tage vor der fraglichen Abstimmung - berichtet Stephen White, damals Chargé d'Affaires an der US-Botschaft in Neu-Delhi von der Prahlerei des Abgeordneten Satish Sharma, der als enger Vetrauter von Sonia Gandhi, Chefin der Kongreßpartei, gilt, der gegenüber einem anderen amerikanischen Diplomaten damit angegeben haben soll, selbst das entsprechende Votum vierer Mitglieder einer kleinen Splitterpartei mit jeweils 2,5 Millionen Dollar gekauft zu haben. Laut Sharma würden er, Singh und andere von der Kongreßpartei alles tun, damit der Mißtrauensantrag scheitere und das Atomabkommen gerettet werde.

Auf die Enthüllung von The Hindu hat die Singh-Regierung, die 2009 wiedergewählt worden war, mit Entrüstung reagiert und alles kategorisch bestritten. Eine Untersuchung durch das Parlament habe die Vorwürfe entkräftet, die Informationen von Wikileaks ließen sich nicht bestätigen und seien damit nicht gerichtsrelevant, so ihr Argument. Wenn man bedenkt, welcher ungeheure Einsatz nötig war, um in Indien das Atomabkommen mit den USA unter Dach und Fach zu bringen, kann man davon ausgehen, daß die daran interessierten Kräfte die erneute Diskussion einfach aussitzen und sich an sich abprallen lassen werden. Mit der Umsetzung des Atomdeals sind drei Jahre danach die Amerikaner jedoch wenig glücklich. Zwar sind einige große bilaterale Rüstungsgeschäfte angelaufen, doch das US-Unternehmen General Electric, das zahlreiche Kernkraftwerke in Indien bauen wollte, um in den kommenden Jahrzehnten die Menge an Atomstrom dort zu verhundertfachen, weigert sich, sich auf dem Subkontinent zu engagieren, bis Neu-Delhi für eine gesetzliche Änderung des indischen Gesetzes über Schadensersatz sorgt. Die zögerliche Haltung von GE ist leicht nachzuvollziehen, stammen doch von ihm die Kraftswerksmodelle, die in Japan seit dem Erdbeben und dem Tsunami vom 11. März außer Kontrolle sind und große Mengen Radioaktivität in die Umwelt freisetzen.

21. März 2011