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ASIEN/742: Hubschrauber-Abschuß in Afghanistan - NATO in Not (SB)


Hubschrauber-Abschuß in Afghanistan - NATO in Not

Verhandeln aus der Position der Stärke wird für Obama zur Illusion


Mit dem Abschuß eines zweirotorigen Chinook-Hubschraubers der US-Streitkräfte in der zentralafghanischen Provinz Wardak in den frühen Morgenstunden des 7. August, wodurch alle 38 Insassen - 30 Militärs aus den USA, sieben afghanische Kameraden und ein Dolmetscher - ums Leben kamen, haben die Taliban der NATO einen bedeutenden militärischen Schlag versetzt. Allein durch diese Aktion haben die Kämpfer der Exilregierung des Islamischen Emirats Afghanistan die Behauptungen der US-Militärführung, durch die Truppenaufstockung 2009 und 2010 auf mehr als 140.000 Mann hätte man die Aufständischen in Afghanistan in die Defensive gedrängt und am Boden die entscheidende militärische Wende erzielt, als auf Wunschdenken beruhende Propaganda entlarvt. Da wirkte die einheitliche Reaktion aus den NATO-Hauptstädten, man dürfe sich durch den Chinook-Abschuß nicht beirren lassen, sondern müsse nun erst recht den Taliban zeigen, wer den größeren Durchhaltewillen besitze, klischeehaft, hilflos und wenig überzeugend.

Der spektakuläre Vorfall von Wardak ist in mehrerer Hinsicht von Relevanz. Es handelt sich hier um die für die US-Streitkräfte und NATO-Truppen verlustreichste Einzelaktion seit Beginn des Krieges in Afghanistan vor fast zehn Jahren und deutet darauf hin, daß die Aufständischen schlagkräftiger werden und mitnichten auf dem Rückzug sind. Darüber hinaus starben bei dem Hubschrauber-Abschuß 22 Mitglieder der Navy SEALs, die zusammen mit den anderen US-Spezialstreitkräften in den beiden letzten Jahren unter General David Petraeus verstärkt zum Einsatz gekommen sind und deren besondere Spezialität - Nacht- und Nebelaktionen gegen feindliche Verstecke samt Liquidierung der Gegner wie die angebliche Liquidierung Osama Bin Ladens am 1. Mai im pakistanischen Abbotabad - für die NATO den militärischen Sieg herbeiführen sollte. Auf einmal wird deutlich, daß auch diejenigen, die bei der NATO-Führung für eine kleinere Truppenpräsenz in Afghanistan plädieren und die zunehmende Verwendung von Drohnenangriffen und Spezialstreitkräften als Lösung aller Probleme anbieten, nur nach dem Prinzip Hoffnung verfahren.

In den letzten Jahren sind die Verlustzahlen auf allen Seiten - bei Zivilisten, ausländischen Soldaten, der einheimischen Armee und Polizei sowie den Aufständischen - drastisch gestiegen. In einem herzzerreißenden Artikel, der am 2. August bei antiwar.com erschienen ist, hat Kelley Beaucar Vlahos das Schicksal der US-Soldaten geschildert, die immer häufiger durch im Boden versteckte Bomben und Minen der Taliban zu Schaden kommen. Nach Angaben von Vlahos ist die Anzahl der US-Soldaten in Afghanistan, bei denen die Militärärzte nach der Explosion eines solchen Sprengsatzes ein oder mehrere Gliedmaßen amputieren müssen, zwischen 2009 und 2010 um 120 Prozent angestiegen. Die Eskalationsstrategie, zu der 2009 das Militär in den USA, allen voran Petraeus, Verteidigungsminister Robert Gates und der Vorsitzende der Vereinigten Stabschefs Admiral Michael, den neuen Präsidenten Barack Obama dringend geraten hatte, hat nicht gefruchtet, sondern die Lage nur verschlimmert und den Krieg zusätzlich nach Pakistan, wo sich die Taliban-Führung versteckt haben soll, hineingetragen. Der von Obama damals auf Juli 2011 terminierte Beginn des Abzugs der US-Streitkräfte, die bis dahin die Taliban in die Knie gezwungen haben sollten, fällt vom Ausmaß her deswegen recht bescheiden aus, während Gates im Pentagon von Leon Panetta als Verteidigungsminister und der bisherige CIA-Chef selbst von Petraeus ersetzt wurden.

In den letzten Monaten hat es Hinweise gegeben, daß Washington und die Männer um Mullah Mohammed Omar einen Ausweg aus der verfahrenen Situation suchen. Im Februar hat Obamas Außenministerin Hillary Clinton bei einer Rede vor der Asia Foundation erklärt, ein Niederlegen der Waffen seitens der Taliban sei keine Bedingung für Friedensgespräche, sondern lediglich ein "notwendiges Ergebnis" derselben. Seit Januar hat das Islamische Emirat Afghanistan im Internet eine Reihe von Stellungnahmen veröffentlicht - die jüngste erschien am 28. Juli -, in denen man sich zu Verhandlungen mit der NATO über eine Beilegung des Konfliktes bereiterklärte, sofern die USA und ihre Verbündeten den Willen zum Abzug aller ihrer Soldaten aus Afghanistan bekunden. Darüber hinaus haben die Taliban Garantien, daß Afghanistan künftig niemals wieder als terroristische Basis benutzt wird, in Aussicht gestellt.

Natürlich dürfte in Verhandlungen zwischen NATO und Taliban der schwierigste Streitpunkt die Frage dauerhafter US-Basen in Afghanistan sein, an denen die USA allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz festhalten, die aber Mullah Omar und Co. kategorisch ablehnen. Doch ob es die Obama-Regierung jemals schafft, mit den Taliban hierüber in konkrete Verhandlungen zu treten, ist zu bezweifeln. Der peinliche Streit der letzten Wochen zwischen dem Weißen Haus und dem republikanisch dominierten Repräsentantenhaus um die Erhöhung der Staatsschuldengrenze hat das Ansehen Obamas nachhaltig geschädigt. Den Republikanern ist es gelungen, Obama als Schwächling hinzustellen, der das Land in die wirtschaftliche Misere führe und den staatlichen Konkurs riskiere. Der Erfolg ihrer Strategie läßt sich anhand der zahlreichen Kommentatoren ermessen, die Obama eine Niederlage bei der Präsidentenwahl im kommenden Jahr prognostizieren und in ihm bereits einen "one-term president" à la Jimmy Carter sehen.

Vor diesem Hintergrund ist für Obama in der Nacht vom 6. auf den 7. August politisch der Super-GAU eingetreten. Denn wie der Zufall so will, ist es innerhalb weniger Stunden nicht nur zu den schwersten Verlusten seitens der US-Streitkräfte in Afghanistan, sondern zur erstmaligen Herabstufung der Bonität von US-Staatsanleihen durch die Rating-Agentur Standard & Poors gekommen. Der historische Verlust an wirtschaftlicher Glaubwürdigkeit wird durch einen Zwischenfall in Afghanistan verstärkt, der an den größten Mißerfolg der Carter-Ära erinnert, nämlich das Scheitern von "Operation Eagle Claw", als am 24. April 1980 in einer Wüste in Iran ein Hubschrauber und ein Auftankflugzeug der US-Streitkräfte kollidierten und der Versuch, die in Teheran als Geiseln genommenen Mitarbeiter der amerikanischen Botschaft zu befreien, frühzeitig abgebrochen werden mußte. Damals kamen acht US-Militärangehörige ums Leben, deren Leichen von der iranischen Regierung der Presse vorgestellt wurden. Diese Schmach haben die Militaristen in den USA den Mullahs in Teheran bis heute nicht verziehen. Ohne eine Aussicht auf irgendeinen Erfolg in Afghanistan, der die USA das Gesicht wahren läßt, wird Obama es daher politisch schwer bis unmöglich haben, ein Ende des Krieges dort herbeizuführen. Und kommt er aus dieser Zwickmühle nicht heraus, kann er sich die Wiederwahl im November 2012 abschreiben.

8. August 2011