Schattenblick →INFOPOOL →POLITIK → REDAKTION

ASIEN/744: Taliban setzen der NATO in Afghanistan immer mehr zu (SB)


Taliban setzen der NATO in Afghanistan immer mehr zu

Afghanistan-Besatzung wird zum militärischen Fiasko


Die Warnung von General a. D. Douglas McArthur 1961 an den damals frischgebackenen US-Präsidenten John F. Kennedy, wonach jeder, der einen Bodenkrieg auf der asiatischen Landmasse wage, "eine Schraube locker" habe, hat fünfzig Jahre später nichts an Gültigkeit verloren. Hätten die Verantwortlichen in Washington die Ermahnungen des einstigen alliierten Oberbefehlshabers beim Koreakrieg ernstgenommen, wäre den USA die Schmach der Niederlage im Vietnamkrieg erspart geblieben und hätten Millionen von Menschenleben in Südostasien gerettet werden können. Es dürfte als eine der größten Ironien der Geschichte angesehen werden, daß die USA, nachdem sie durch die Förderung islamischer Kräfte in Afghanistan der Sowjetunion ihren "Vietnamkrieg" beschert hatten, nun selbst im berühmten "Friedhof der Imperien" am Hindukusch ihr eigenes Waterloo erleiden.

Neun Jahre und elf Monate nach dem Einmarsch der Streitkräfte der USA und ihrer Verbündeten in Afghanistan sieht die Lage für die westlichen Besatzungstruppen alles andere als gut aus. August 2011 war mit 66 Gefallenen für die US-Streitkräfte der blutigste Monat seit Beginn des Krieges. Der Anstieg ging nicht zuletzt auch darauf zurück, daß die Taliban am 8. August in der ostafghanischen Provinz Wardak einen Transporthubschrauber abgeschossen und damit 30 US-Militärs und acht Angehörige der neuen Afghanischen Nationalarmee getötet hatten. Auch wenn die Behauptung der Taliban nicht stimmen sollte, sie hätten den Abschuß des zweirotorigen Chinooks nicht mit einer herkömmlichen Panzerfaust, sondern einer neuartigen Boden-Luft-Rakete erzielt, zeigen die NATO-Gegner in Afghanistan durch immer spektakulärere Aktionen, daß sie auf dem Vormarsch sind und die Eskalationsstrategie von US-General David Petraeus, der Präsident Barack Obama 2009 zu einer Aufstockung der amerikanischen Soldaten im Lande von 30.000 auf 100.000 überredet hatte, vollkommen gescheitert ist.

Am 10. September, ebenfalls in Wardak, hat ein Selbstmordattentäter vor dem Tor des Combat Outpost Sayed Abad eine neun Tonnen schwere Lastwagenbombe zur Explosion gebracht. Durch die gigantische Detonation, die laut Taliban als symbolische Vergeltung dafür gedacht war, daß die Amerikaner die Flugzeuganschläge vom 11. September 2001 als Vorwand benutzt hätten, um Afghanistan militärisch zu besetzen, wurden 89 US-Militärs auf dem Stützpunkt verletzt und einen halben Kilometer entfernt ein Mädchen durch herabfallende Trümmerteile getötet. Die Durchführung des Angriffs, der die höchste Anzahl an NATO-Verlusten seit Beginn des Krieges gefordert hatte, bezeichnete das Pentagon hilflos als "völlig inakzeptables Verhalten".

Am 13. September starteten zehn Taliban-Kämpfer in Kabul eine spektakuläre Angriffsoperation, welche die afghanischen und ausländischen Streitkräfte erst nach 20 Stunden beenden konnten. Während Selbstmordattentäter vier Polizeiwachen angriffen, verschanzten sich die anderen sechs Aufständischen in einem im Bau befindlichen, mehrstöckigen Bürogebäude im Diplomatenviertel der afghanischen Hauptstadt, von wo aus sie die amerikanischen und britischen Botschaften sowie das Hauptquartier der internationalen Schutztruppe ISAF mit Raketen beschossen und den Sicherheitskräften ein stundenlanges Feuergefecht lieferten. Bei der Aktion, bei der alle zehn Angreifer und neun weitere Menschen getötet wurden, handelte es sich um den längsten und umfassendsten Angriff der Taliban seit Beginn des Krieges. Die Tatsache, daß die Aufständischen so tief in das politische Zentrum Kabuls gelangen konnten, läßt darauf schließen, daß sie Sympathisanten bei den afghanischen Sicherheitsbehörden hatten.

Die öffentlichen Stellungnahmen der Vertreter Washingtons zu dem Vorfall fielen wenig überzeugend aus. Ungeachtet des Umstands, daß die zehn Rebellen ihr Leben geopfert hatten, sprach am selben Tag US-Außenministerin Hillary Clinton von einem "feigen Angriff". Der US-Botschafter in Kabul, Ryan Crocker, behauptete am 14. September, die Operation am Vortag sei "keine besonders große Sache" gewesen und "ein Beweis" für die "Schwäche" der Taliban und ihrer Verbündeten. In diesem Zusammenhang machte er, wie das Pentagon nach dem Lastwagenbombenangriff auf den Militärstützpunkt in Wardak drei Tage zuvor, das Hakkani-Netzwerk dafür verantwortlich, um sich gleich im Anschluß darüber zu beschweren, daß dessen Kämpfer das Nachbarland Pakistan als Rückzugsgebiet benutzten. Drei Tage zuvor hatte US-Vizepräsident Joseph Biden der Regierung Pakistans schwere Vorhaltungen gemacht, sie tue zu wenig, um die Aktivitäten der Taliban und deren Verbündeten im Grenzgebiet zu Afghanistan zu unterbinden.

Ursprünglich war die Eskalationsstrategie des inzwischen zum CIA-Chef beförderten Petraeus dazu gedacht gewesen, die Taliban "an den Verhandlungstisch zu bombardieren", das heißt ihren Vormarsch zu stoppen und sie dazu zu zwingen, die wichtigsten Kriegsziele der Amerikaner, nämlich die Einrichtung mehrerer dauerhafter US-Militärstützpunkte, endlich zu akzeptieren. Zweieinhalb Jahre später gehen die Kämpfe mit unverminderter Härte weiter, während die Aufstockung der NATO-Streitkräfte, die nächtlichen Razzien der Spezialstreitkräfte und die per Drohne durchgeführten Raketenangriffe auf Ziele in Pakistan immer mehr Menschen beiderseits der Durand-Linie gegen die ausländischen Eindringlinge und deren Vorstellungen von "Frieden" und "Stabilität" aufbringen. Statt die vermeintliche Notwendigkeit einer US-Militärpräsenz in Afghanistan einzusehen, beharren die Taliban nach wie vor auf einen vollständigen Abzug aller ausländischen Streitkräfte, wie die jüngste Botschaft Mullah Mohammed Omars an seine Anhänger zum Ende des Ramadans Anfang September beweist.

Noch im Sommer gab es Hinweise auf vorsichtige Annäherungsversuche zwischen Taliban und Obama-Regierung, die eventuell zur Aufnahme von Friedensverhandlungen hätten führen können. Darüber hatten am 29. Juli Gareth Porter für die Nachrichtenagentur Inter Press Service unter der Überschrift "Ex-PM Says Taliban Offer Talks For Pullout Date" und am 4. August Alissa J. Rubin in der New York Times unter dem Titel "Taliban Hint at Interest in Negotiated Settlement" berichtet. Die Lage hat sich mittlerweile jedoch dermaßen zuungunsten der Amerikaner entwickelt, daß sie nicht mehr, wie geplant, aus der Position der Stärke verhandeln können. Ginge Obama jetzt auf Verhandlungen mit den Taliban ein, liefen diese eventuell auf einen kompletten Truppenabzug hinaus, was für die tonangebenden neokonservativen Kräfte in Medien und Politik der USA absolut inakzeptabel wäre. Obama müßte befürchten, zum Kriegsverlierer abgestempelt zu werden und deshalb im November 2012 mit seiner Kandidatur um eine zweite Amtszeit als Präsident zu scheitern.

Vor diesem Hintergrund ist in den kommenden Wochen und Monaten seitens der NATO und der Regierung in Washington zum Thema Afghanistan vor allem mit Durchhalteparolen zu rechnen, die wenig mit der strategischen Wirklichheit vor Ort zu tun haben. Für die USA steht zu befürchten, daß sie die jüngste Feststellung von Prinz Turki Al Faisal, des ehemaligen Geheimdienstchefs Saudi-Arabiens, Washington hätte die Liquidierung Osama Bin Ladens im pakistanischen Abbottabad am 2. Mai nutzen sollen, um den Sieg im Krieg gegen Al Kaida zu verkünden und mit den Taliban eine Beendigung der Kämpfe in Afghanistan auszuhandeln, irgendwann demnächst als richtig erkennen und folglich zutiefst bereuen werden, dies nicht getan zu haben.

14. September 2011