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ASIEN/763: NATO erwartet Eskalation des Afghanistankrieges (SB)


NATO erwartet Eskalation des Afghanistankrieges

Der Abzug aus Afghanistan entpuppt sich zunehmend als Fata Morgana



Seit dem NATO-Gipfel im portugiesischen Lissabon Ende 2011 gilt 2014 allgemein als Termin für das Ende der ISAF-Mission in Afghanistan und den Abzug ausländischer Streitkräfte. Bis dahin sollen die neue Armee und Polizei Afghanistans die "Verantwortung" für die "Sicherheit" im ganzen Land übernehmen. Doch tatsächlich ist auf der Führungsebene der nordatlantischen "Wertegemeinschaft" von einem vollständigen Abzug aller NATO-Truppen aus Afghanistan niemals die Rede gewesen, was vielleicht erklärt, warum bis heute alle Bemühungen um Friedensgespräche mit den Taliban kläglich gescheitert sind. Dementsprechend handeln seit einigen Monaten die Regierungen Afghanistans und der USA ein Abkommen aus, das langfristig die "strategische Partnerschaft" beider Länder besiegeln und beim kommenden NATO-Gipfel im Mai in Chicago von den Präsidenten beider Staaten, Hamid Karsai und Barack Obama, feierlich unterzeichnet werden soll.

Presseberichten zufolge verlaufen die Verhandlungen zwischen Kabul und Washington aber schleppend. Der Grund soll ein Streit über die nächtlichen Razzien sein, bei denen US-Spezialstreitkräfte Jagd auf mutmaßliche Anhänger oder Sympathisanten des Aufstands gegen die ausländischen Besatzungstruppen machen. Derlei Aktionen, in deren Verlauf Zivilisten häufig zu Schaden bzw. ums Leben kommen, sind bei der einfachen Bevölkerung höchst umstritten und tragen nicht unwesentlich zur Verlust der Akzeptanz der NATO-Präsenz in Afghanistan bei. Zudem soll bei den Verhandlungen eine Reihe von Vorfällen - die Veröffentlichung einer Videoaufnahme, auf der eine Gruppe lachender US-Marineinfanteristen auf die Leichen mehrerer gerade getöteter Taliban-Kämpfer uriniert, die Bekanntgabe der Verbrennung einer unbekannten Anzahl von Kopien des Korans auf dem NATO-Luftwaffenstützpunkt Bagram bei Kabul und die Ermordung von 17 Dorfbewohnern der Provinz Kandahar durch einen oder mehrere amerikanische Soldaten - die afghanische Seite in ihrer Forderung nach größerer Kontrolle der eigenen Sicherheitskräfte bei der Durchführung der nächtlichen Razzien bestärkt haben.

Trotz aller Unstimmigkeiten stehen beide Seiten angeblich kurz vor dem Durchbruch. Washington soll zugestimmt haben, daß die nächtlichen Razzien unter afghanischer Führung erfolgen und die Verhafteten nach kurzer Vernehmung durch amerikanische Offiziere in der Obhut der einheimischen Behörden landen. Dafür soll das US-Militär auf Jahrzehnte hinaus mehrere größere Militärbasen pachten. Begründet wurde dies von Außenministerin Hillary Clinton bei einer Rede am 3. April im Heimathafen der US-Atlantikflotte in Norfolk, Virginia: "Wir gehen davon aus, daß auf Einladung der afghanischen Regierung eine kleine Anzahl von Streitkräften [der USA - Anm. d. SB-Red.] zum ausschließlichen Zweck der Ausbildung, der Beratung und der Unterstützung der afghanischen Streitkräfte sowie der Fortsetzung von Antiterroroperationen bleiben wird". Gleichzeitig behauptete die ehemalige First Lady, Washington strebe nicht nach "dauerhaften Militärbasen in Afghanistan oder einer Präsenz dort, die von den Nachbarn als Bedrohung angesehen" werde. Bedenkt man die Tatsache, daß auf besagten Basen mehrere zehntausend US-Militärangehörigen und jede Menge Kriegsgerät, darunter auch hochmoderne Kampfjets, Bomben- und Aufklärungsflugzeuge auf Jahrzehnte hinaus stationiert werden könnten, ist nicht so ganz klar, warum China, der Iran, Rußland und Pakistan darin keine Dauerbedrohung sehen sollten.

Derzeit verringern die USA die Anzahl ihrer Soldaten in Afghanistan von 90.000 auf rund 68.000. Auf diese Weise soll Obama, der im November zu einer zweiten Amtszeit als Präsident gewählt werden will, öffentlich sagen können, er hole Amerikas Jungs nach Hause. Doch mit weiteren Reduzierungen ist so schnell nicht zu rechnen. Die US-Generalität hält bekanntlich ohnehin 70.000 für etwa die Untergrenze dessen, was momentan erforderlich wäre, um die Taliban in Schach zu halten. Bei einem Interview am 4. April erklärte dazu der ISAF-Oberbefehlshaber, General John Allen: "Während ich die Anzahl der US-Streitkräfte reduziere ... werde ich im Osten erhebliche Kampfkraft einsetzen, da ich davon ausgehe, daß wir dieses Jahr dort schwere Kämpfe haben werden." Interessanterweise hat am selben Tag Micah Zenko, der früher dem Office of Policy Planning im US-Außenministerium angehörte und heute für das einflußreiche New Yorker Council on Foreign Relations (CFR) arbeitet, über Twitter gemeldet, er habe gerade mit jemanden bei der Obama-Regierung gesprochen, der ihm gesteckt hätte, daß die USA bis 2014 aus Afghanistan "nicht ausziehen" und daß man statt dessen bereits ein "Jahrzehnt des Übergangs bis 2024" plane. Auf ein solches Szenario dürfte man in Islamabad, Moskau, Teheran und Peking nicht gerade erpicht sein.

7.‍ ‍April 2012