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ASIEN/801: USA und Taliban nehmen Friedensverhandlungen auf (SB)


USA und Taliban nehmen Friedensverhandlungen auf

Kabul und Washington bereiten faulen Kompromiß am Hindukusch vor



Als bedeutendes Datum für Afghanistan dürfte der 18. Juni 2013 in die Geschichtsbücher eingehen. An diesem Tag haben die 350.000 Mann starke afghanische Armee und Polizei von der NATO-angeführten ISAF-Truppe die Verantwortung für die Sicherheit in allen Provinzen Afghanistans übernommen. An der feierlichen Zeremonie nahmen in Kabul Afghanistans Präsident Hamid Karsai und der NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen teil. Am selben Tag gaben die USA und die Taliban die Aufnahme direkter Friedensverhandlungen bekannt. Eine entsprechende Erklärung wurde bei der offiziellen Eröffnung eines Verbindungsbüros der Taliban in Katar veröffentlicht. Über den Durchbruch bei den Annäherungsgesprächen mit den Männern um Mullah Mohammed Omar hat US-Präsident Barack Obama die anderen Regierungschefs beim G8-Gipfel im nordwestirischen Enniskillen praktisch zeitgleich in Kenntnis gesetzt.

Vor dem Hintergrund des geplanten Abzugs aller westlichen Kampftruppen aus Afghanistan bis Ende 2014 führen die USA und die Taliban seit zwei Jahren sporadisch indirekte Vorverhandlungen. Zu diesem Zweck hatten sich mehrere Taliban-Vertreter mit Einverständnis des Emirs von Katar in Doha niedergelassen. Der Durchbruch gelang jedoch erst, als beide Seiten ihre Vorbedingungen aufgeweicht hatten. Dies berichtete am 19. Juni der Londoner Guardian. Demnach rücken die Taliban von ihrer Kernforderung nach Abzug aller Streitkräfte aus Afghanistan zwar nicht ab, sind jedoch offenbar bereit, darüber zu verhandeln. Das kommt den USA mehr als gelegen, hoffen diese doch, mit Karsai über die Stationierung von rund 10.000 Soldaten - hauptsächlich Spezialstreitkräfte für den "Antiterrorkampf" sowie Militärberater und Techniker, welche ihre afghanischen Kameraden ausbilden bzw. ihnen den Umgang mit den neuen amerikanischen Waffensystemen beibringen sollen - auf insgesamt neun Stützpunkten für die Zeit ab Januar 2015 einig zu werden.

Im Gegenzug soll sich die Obama-Regierung vorerst damit abgefunden haben, daß die Taliban in ihrer jüngsten Erklärung den "internationalen Terrorismus" lediglich verurteilt haben. Die formelle Aufkündigung jeder Zusammenarbeit mit Al Kaida soll laut Guardian später erfolgen. Die Nachsicht Washingtons gerade in diesem Punkt stimmt mehr als bedenklich, denn angeblich bestand das Ziel darin, Al Kaida zu vernichten und der Hintermänner der Flugzeuganschläge vom 11. September 2001 habhaft zu werden, als die Streitkräfte der USA und ihrer NATO-Verbündeten im Oktober desselben Jahres überhaupt in Afghanistan einmarschiert sind. Hängt das Herunterspielen des Themas Al Kaida in Afghanistan eventuell damit zusammen, daß die USA, Frankreich und Großbritannien seit zwei Jahren mit Hilfe der sunnitisch-salafistischen "Terroristen" versuchen, die Regierung Baschar Al Assads in Syrien zu stürzen?

Eine wichtige Vorbedingung der USA für die Teilnahme der Taliban am politischen Leben in Afghanistan war deren Anerkennung der neuen Verfassung des Landes. Mit dieser Forderung sollten unter anderem die Rechte der Frauen, welche die NATO von Anfang an in den Vordergrund ihres zivil-militärischen Engagements gestellt haben, geschützt werden. Doch auch hier hat die "Wertegemeinschaft" NATO aus opportunistischen Gründen der Verständigung mit den patriarchal denkenden Stammesführern von Nordallianz und Taliban den Vorrang vor der Gleichberechtigung von Frauen und Mädchen eingeräumt. Wie die in Abu Dhabi erscheinende Zeitung The National am 18. Juni unter Verweis auf die Nachrichtenagentur Reuters berichtete, wird dieser Tage im Parlament in Kabul auf Drängen der konservativen männlichen Mehrheit still und heimlich jenes Gesetz, das erst seit einigen Jahren eine Frauenquote in der politischen Vertretung auf nationaler und provinzieller Ebene von 25 Prozent vorschreibt, abgeschafft. Im National-Bericht wird die Parlamentsabgeordnete Farkhunda Naderi mit den Worten zitiert: "Es handelt sich um eine politische Strategie; um [den Taliban] bei den Friedensverhandlungen entgegenzukommen, sind sie bereit, die Frauenrechte zu opfern."

Der Weg hin zu einem dauerhaften Frieden in Afghanistan ist jedoch mit Hindernissen gepflastert. Dies zeigt ein sonderbarer Vorfall, der sich am 17. Juni im Norden Afghanistans ereignete. Bei einem Besuch von General Abdul Raschid Dostum, dem usbekischen Kriegsherrn der früheren Nordallianz, der formell das Amt des Oberbefehlshabers der afghanischen Streitkräfte bekleidet, bei Mohammad Aleem Sayee, dem Gouverneur der Provinz Jowzjan, soll es zu einem Streit gekommen sein, der in eine Schießerei ausartete. Der Schußwechsel endete erst mit dem Abzug von Dostum und seiner Leibgarde von rund 50 Mann. Laut Sayee, der zu dem Zwischenfall am 18. Juni in der New York Times zitiert wurde, wollte Dostum ihn, den Stellvertretenden Vorsitzenden seiner eigenen Junbish-i-Milli-Partei, töten, weil er sich geweigert hatte, bei einer Neuauflage der Nordallianz für den Fall des erneuten Ausbruchs eines Bürgerkrieges gegen die paschtunisch-dominierten Taliban mitzumachen.

Zum Glück ist bei der etwas lebhaft gewordenen Diskussion (Dostum) bzw. dem versuchten Überfall (Sayee) niemand ums Leben gekommen. Tragischerweise ging wenige Stunden nach der Eröffnung des Verbindungsbüros der Taliban in Doha dagegen ein Mörserangriff der Aufständischen auf den Militärflughafen Bagram bei Kabul zu Ende. Dort kamen vier US-Soldaten ums Leben, zwei weitere wurden verletzt. Zu dem Angriff bekannten sich die Taliban. Währenddessen hat Präsident Karsai, der sich durch die Annäherung zwischen Obama-Regierung und Taliban düpiert fühlt, die laufenden Verhandlungen Kabuls mit Washington über ein Sicherheitsabkommen zwischen Afghanistan und den USA, das dem Pentagon langfristige Nutzungs- und Zugangsrechte auf besagten neun größeren Stützpunkten am Hindukusch gewährleisten soll, noch am selben Abend bis auf weiteres ausgesetzt. Karsai beharrt darauf, daß die Taliban mit der gewählten Regierung in Kabul verhandeln, und lehnt Sondervereinbarungen zwischen den Vertretern des "Islamischen Emirats Afghanistan" und den Amerikanern ab. Die kommenden Wochen werden zeigen, ob sich Karsai mit seinem Standpunkt durchsetzen kann, oder ob die beiden wichtigsten Kriegsparteien in seinem Land ihn einfach vor vollendete Tatsachen stellen werden.

19. Juni 2013