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ASIEN/907: Afghanistan - Urfeind USA ... (SB)


Afghanistan - Urfeind USA ...


"Die Zeit für eine Beendigung dieses Kriegs im Afghanistan ist gekommen." Mit diesen Worten der Resignation verabschiedete sich am 2. September General John Nicholson, der nach 31 Monaten am längsten in Kabul stationierte Oberbefehlshaber der Streitkräfte der USA und ihrer NATO-Partner. Die wenig überraschende Erkenntnis des Vier-Sterne-Generals verliert durch den Verweis, daß unter dem Kommando Nicholsons die westliche Interventionsmächte die Zahl der afghanischen Spezialstreitkräfte verdoppeln und die Größe der afghanischen Luftwaffe verdreifachen konnten, nichts von ihrer Bitterkeit. Am Hindukusch steht die NATO, nach eigenen Angaben die großartigste Militärallianz der Menschheitsgeschichte, nach 17 Jahren Krieg gegen die Taliban am Rande einer schweren Niederlage.

Wie desolat die militärische Lage für die Supermacht USA, ihre NATO-Verbündeten und die afghanischen Streitkräfte aktuell ist, läßt sich anhand eines Artikels erkennen, der am 10. September unter der Überschrift "Across Afghanistan, Scores Are Killed in a Deadly Wave of Violence" bei der New York Times erschienen ist. Darin heißt es, als die Verlustrate der afghanischen Armee und Polizei im Herbst 2016 20 Mann am Tag erreichte, haben die amerikanischen und afghanischen Militärbehörden in Kabul entschieden, die laufende Veröffentlichung der Statistik nicht mehr fortzusetzen, um die Kampfmoral der eigenen Truppen zu schonen. Inzwischen fallen im Schnitt täglich 40 Mitglieder der afghanischen Sicherheitskräfte - also doppelt so viele wie vor zwei Jahren.

Es sieht alles danach aus, als hätten die Taliban mit der vorübergehenden Einnahme von Ghazni, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz, Mitte August einen ähnlich starken Propagandaerfolg errungen wie 1968 die Vietkong mit der Tet-Offensive. Nach jenem Großereignis galt der Vietnamkrieg aus Sicht der meisten Amerikaner als nicht mehr zu gewinnen. Auch wenn die US-Öffentlichkeit wenig von den Vorgängen in Afghanistan im Vergleich zu den damaligen in Indochina mitbekommt, so scheint nach dem Fall Ghaznis die Aussichtslosigkeit des Kampfes gegen die Taliban zu den einfachen afghanischen Soldaten und Polizisten endlich durchgedrungen zu sein. In der zweiten Septemberwoche haben die Taliban eine ganze Reihe von Militärstützpunkten und Außenposten überrannt, zahlreiche Verteidiger getötet und deren Kriegsgerät in nicht geringen Mengen erbeutet.

Berichte, wonach die Soldaten an einigen entlegenen Stützpunkten von der Zentralregierung nicht ausreichend mit Nachschub beliefert, sondern gegenüber dem Ansturm der Aufständischen eher allein gelassen wurden, führte an anderen Stellen zu massenhafter Fahnenflucht. Die Rekrutierung neuer Soldaten ist praktisch zum Erliegen gekommen, denn niemand will für eine verlorene Sache sterben. Wegen der alarmierenden Meldungen über anhaltende schwere Kämpfe in 18 der 34 Provinzen ist es am 23. September zu einer Krisensitzung des afghanischen Senats gekommen, in der Präsident Ashraf Ghani, Verteidigungsminister Tarik Bahrami, Innenminister Wais Barmak und Geheimdienstchef Masum Stanekzai allesamt als unfähig kritisiert wurden. Bei der Senatssitzung sowie im Unterhaus des Parlaments am darauffolgenden Tag wurde vielfach die Forderung nach einer Aufkündigung bzw. Revidierung der 2014 von Ghani unterzeichneten Truppenstationierungsabkommen mit den USA und der NATO erhoben. Nicht nur in Kabul macht man sich berechtigte Sorgen, ob angesichts der Instabilität im Lande die Parlamentswahlen im Oktober und die Präsidentenwahl im kommenden Frühjahr überhaupt durchgeführt werden können.

Bereits im Juni ist es in Katar auf Veranlassung von US-Präsident Donald Trump zu den ersten offiziellen Gesprächen zwischen Vertretern Washingtons und den Taliban seit ihrem Sturz Ende 2001 gekommen. Ein Thema soll die Wiedereingliederung der Taliban in den politischen Prozeß Afghanistans gewesen sein. Zu diesem Zweck sollen die Amerikaner die früheren Anhänger Mullah Omars gebeten haben, die bevorstehenden Parlamentswahlen nicht zu stören und Präsident Ghani seine reguläre Amtszeit bis zum Ende im April 2019 absolvieren zu lassen. Hier scheint es keinen Einwand gegeben zu haben. Gemeinsam wollen Taliban und Ghani-Regierung die Schirmherrschaft für die internationale Friedensgespräche übernehmen, die demnächst auf Betreiben Rußlands in Moskau stattfinden werden. Ob die Amerikaner der internationalen Großveranstaltung im Kreml wie geplant fernbleiben, muß sich noch zeigen.

Interessanterweise hat am 4. September US-Außenminister Mike Pompeo Zalmay Khalilzad zum Afghanistan-Sonderbeauftragten der Trump-Regierung ernannt. Khalilzad wurde 1951 in Masar-i-Scharif geboren, hat jedoch später in den USA studiert und unter den Präsidenten Ronald Reagan und George Bush sen. im State Department als Afghanistan- und Zentralasien-Experte gearbeitet. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat er mitgeholfen, die Zusammenarbeit der USA mit der afghanischen Mudschaheddin im Kampf gegen die Streitkräfte der Sowjetunion zu koordinieren. Nach dem Flugzeuganschlägen vom 11. September 2001 und dem Einmarsch der NATO ein Monat später in Afghanistan hat Khalilzad im Auftrag von George Bush jun. maßgeblich die Post-Taliban-Ordnung dort bestimmt, die neue Verfassung des Landes mitentworfen und Hamid Karsai als Präsidenten inthronisiert. Später folgten Posten als US-Botschafter in Bagdad sowie bei den Vereinten Nationen in New York.

Ob Khalilzad der richtige Mann ist, die USA wieder aus dem Kriegssumpf Afghanistan zu ziehen, darf bezweifelt werden. Ihm eilt der Ruf voraus, ein Kritiker der Afghanistan-Politik Pakistans und ein erbitterter Gegner der Einmischung Islamabads nördlich der Durand-Linie zu sein. Dennoch ist Khalilzad ein sunnitischer Paschtun wie Pakistans neuer Präsident Imran Khan und die allermeisten Taliban auch. Vielleicht läßt sich über die ethnisch-religiös-sprachliche Schiene doch noch eine Einigung über Wege zur Beilegung des militärischen Konflikts erzielen. Leicht wird es aber nicht sein.

In einem Artikel, der am 13. September bei der pakistanischen Zeitung The News International erschienen ist, hat ein Sprecher der Taliban die Bereitschaft seiner Organisation zur Teilnahme an einer Regierung der nationalen Einheit ähnlich der, die aus der im Dezember 2001 von Khalilzad organisierten Afghanistan-Konferenz hervorgegangen ist, erklärt, verlangte jedoch von den USA im Gegenzug nicht nur ein Bekenntnis zum Prinzip eines Abzugs aller ausländischen Truppen, sondern auch einen konkreten Zeitplan zur Umsetzung eines solchen Vorhabens. Das Thema sei für die Taliban "sehr wichtig", so der Sprecher. Die USA denken vermutlich nicht im Traum daran, diese Bedingung zu erfüllen. Schließlich war bei der Afghanistan-Invasion 2001 die Jagd nach Al-Kaida-Chef Osama Bin Laden nur vorgeschoben. Damals wie heute ging es Washington darum, Armeestützpunkte und Lufwaffenbasen in strategischer Nähe der potentiellen Kriegsgegner Pakistan, Iran, Rußland und China einzurichten. Inzwischen signalisiert man aus Washington, daß selbst nach einer Beendigung des Kriegs mit den Taliban eine US-Truppenpräsenz in Afghanistan erforderlich sein werde, um die "Terrormiliz" Islamischer Staat (IS) zu bekämpfen. Mit grausamen Bombenanschlägen vor allem gegen schiitischen Ziele arbeiten seit 2016 die Jünger des Kaliphen Abu Bakr Al Baghdadi fleißig daran, den USA den Vorwand zum Verbleib in Afghanistan zu liefern. Nicht umsonst halten Millionen von Menschen in der islamischen Welt den IS für Erfindung und Instrument der CIA.

26. September 2018


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