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JUSTIZ/706: Wikileaks - Politjustiz ... (SB)


Wikileaks - Politjustiz ...


Skandalöse Vorgänge im Londoner Westminster Magistrates Court bei der jüngsten Vorverhandlung im Falle Julian Assange am 21. Oktober haben das Publikum, das weitgehend aus mehreren Dutzend Unterstützern und Freunden des Wikileaks-Gründers bestand, schwer erschüttert. Assange war von der monatelangen Isolationshaft im Hochsicherheitstrakt Belmarsh, wo er seit der Verschleppung aus der ecuadorianischen Botschaft im vergangenen April gefangen gehalten wird, schwer gezeichnet. Er sah nicht nur krank und gebrechlich aus, der achtundvierzigjährige Australier hatte sogar Schwierigkeiten, sich an seinen Namen und sein Geburtsdatum zu erinnern und sie auszusprechen, als er zum Prozeßauftakt aufgefordert wurde, sich zu identifizieren.

Der Menschenrechtler und Medienkommentator Craig Murray, der einst Ihrer Majestät Königin Elizabeth II als britischer Botschafter in Usbekistan gedient hat, bis er 2004 von der Regierung Tony Blairs wegen Protesten gegen die Folter mutmaßlicher "islamistischer Terroristen" gefeuert wurde, war im Gerichtssaal als Beobachter dabei und hat am 22. Oktober einen umfassende und hochempfehlenswerte Schilderung der Verhandlung auf seinem Blog veröffentlicht. Murray schreibt, bis zu diesem Tag hatte er die Behauptung des US-Sonderberichterstatters Nils Melzer, Assange werde in Belmarsh gefoltert, und die Warnungen der Anwälte des Ex-Wikileaks-Chefs, dieser werde derart medikamentös zugrunde gerichtet, daß er noch vor der Auslieferung in die USA sterben könnte, nicht glauben wollen. Inzwischen denkt der frühere Diplomat anders darüber. Für Murray deutet die desaströse physische und psychische Verfassung Assanges auf eine akute Lebensgefahr hin.

Aus Angst vor einer Auslieferung in die USA, wo ihm 175 Jahre Freiheitsstrafe wegen der Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen drohen, war Assange 2012 in die Botschaft Ecuadors im Herzen Londons geflüchtet und hatte dort von der Regierung in Quito Asyl erhalten. Inzwischen stellt sich heraus, daß die spanische Sicherheitsfirma Undercover Global, welche für den Schutz der Botschaft zuständig war, jahrelang im Auftrag der CIA Assange mittels versteckten Kameras und Mikrofonen ausgespäht hat. Die UC-Global-Spitzel haben es nicht einmal dabei belassen, Assanges Gespräche mit seinen Anwälten zu belauschen, weswegen derzeit der Oberste Gerichtshof in Madrid gegen das Unternehmen ermittelt, sondern auch noch DNA-Material seiner Kinder aus deren Windeln entnommen. Als Wikileaks eine Pressekonferenz im April vorbereitete, um den perfiden Spionageangriff öffentlichkeitswirksam anzuprangern, haben die Regierungen Ecuadors, Großbritanniens und der USA die Aufhebung von Assanges Asylstatus und seine Festnahme beschlossen und durchgeführt. Im Anschluß an die spektakuläre Aktion haben die Ecuadorianer sämtlichen Besitz von Assange - Computer, Telefone, Bücher, Schreibunterlagen - einfach den Amerikanern übergeben.

Als Assange vor sieben Jahren in die Botschaft Ecuadors geflüchtet war, befand er sich auf Kaution wegen Ermittlungen in Schweden gegen seine Person in Verbindung mit dem Vorwurf der sexuellen Nötigung. Vor einem Monat hat Assange die Freiheitsstrafe wegen des früheren Verstoßes gegen die Kautionsbedingungen in Großbritannien abgesessen. Trotzdem hat Bezirksrichterin Vanessa Baraitse seinen Antrag auf Freilassung wegen vermeintlicher Fluchtgefahr abgelehnt. Ihre Negativhaltung Assange und seinen Anwälten gegenüber behielt Baraitse bei der Sitzung am 21. Oktober bei. Zur Zufriedenheit der Staatsanwaltschaft, die sich immer wieder mit den anwesenden Vertretern der US-Botschaft beriet, hat Baraitse alle Anträge der Verteidigung - weniger trotz als vielmehr wegen ihrer Bedeutung - abgeschmettert.

Die Verteidiger hatten eine Erörterung der Frage beantragt, ob Assanges Übergabe an die US-Justizbehörden durch das entsprechende Abkommen mit Großbritannien aus dem Jahr 2003, das die Auslieferung wegen politisch motivierter Straftaten strikt verbietet, überhaupt zulässig sei; Baraitse lehnte den Vorstoß als Zeitverschwendung ab. Die Anwälte wiesen auf das Verfahren in Madrid gegen UC Global hin und baten darum, die Erkenntnisse der spanischen Justiz hinsichtlich der Verstöße gegen Assanges Recht auf Privatsphäre sowie auf anwaltlichen Beistand in den Prozeß in London miteinfließen zu lassen - was ebenfalls bei der Richterin auf kein Verständnis stieß.

Zuletzt versuchte die Verteidigung die ungeheure Menge an Material sowie den Umstand, daß Assanges Kommunikations- und Recherchemöglichkeiten seit Monaten drastisch eingeschränkt sind, als Argumente geltend zu machen, warum sie mehr Vorbereitungszeit brauche und der geplante Prozeßtermin am 25. Februar um mindestens einen Monat verschoben werden sollte. Als die Staatsanwaltschaft ihre Ablehnung signalisierte, wies Baraitse den Antrag ab. Es steht der begründete Verdacht im Raum, daß die Amerikaner auf die Tube drücken, weil in Großbritannien Parlamentswahlen anstehen, und sie deshalb befürchten müssen, daß die Sozialdemokraten gewinnen könnten und deren Chef Jeremy Corbyn als neuer Premierminister die Freilassung Assanges anordnen könnte. In der Vergangenheit hat Corbyn mehrmals die strafrechtliche Verfolgung des Wikileaks-Gründers als völlig überzogen und drakonisch kritisiert.

Am Ende der Verhandlung fragte die Richterin Assange, ob er alles verstanden hätte. Tränen nah und etwas verwirrt antwortete dieser: "Nicht wirklich. Ich kann nicht klar denken. Ich verstehe nicht, wie dies hier gerecht sein soll. Diese Supermacht hat zehn Jahre für die Vorbereitung dieses Falls gehabt, und mir wird der Zugang zu meinen Notizen vorenthalten. Wo ich bin, ist es sehr schwer, irgend etwas zu machen, aber diese Leute verfügen über Ressourcen ohne Ende. Sie behaupten, daß Journalisten und Whistleblower die Feinde des Volkes sind. Sie haben unfaire Vorteile im Umgang mit den Dokumenten. Sie kennen mein Innenleben mit meinem Psychologen. Sie stehlen das DNA meiner Kinder. Was hier geschieht, ist nicht gerecht." Baraitse reagierte auf die Klage Assanges gelangweilt und sagte ihm brüsk, seine Anwälte würden ihn darüber aufklären, was vor Gericht alles besprochen und entschieden worden sei.

23. Oktober 2019


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