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LATEINAMERIKA/2160: Imperium erklärt Hungerleidern den Krieg (SB)


"Antiterrorkrieg" zur Strategie gegen die Hungerrevolte ausgeweitet


Während der Amtszeit George W. Bushs war das Verhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und den Ländern Lateinamerikas von wenigen Ausnahmen abgesehen so schlecht wie seit Menschengedenken nicht mehr. Daß unter der Regie Barack Obamas die Beziehungen Washingtons zu den Regierungen des Südens nur besser werden können, bleibt jedoch eine Schlußfolgerung, der man nicht ungeprüft den Zuschlag geben sollte. Die langfristige Strategie der Herrschaftssicherung eines imperialen Machtkomplexes steht und fällt nicht mit der Besetzung des höchsten Regierungsamts. Wer im Weißen Haus residiert, bestimmen noch immer die Eliten des Landes, ohne deren Zustimmung und Millionen Volkes angebliche Stimme Schall und Rauch wäre. Barack Obama soll die Weichen anders stellen als sein vielgeschmähter Vorgänger, was noch lange nicht heißt, daß der Zug plötzlich umkehren würde.

Als die US-Geheimdienste jüngst die Terrorgefahr für zweitrangig erklärten, da die weltweite Wirtschaftskrise die größte Gefahr für die nationale Sicherheit der USA darstelle, war das ein deutliches Signal, gegen wen die Supermacht samt ihren Verbündeten fortan Krieg zu führen beabsichtigt. Hauptfeind ist künftig die Hungerrevolte der verelendeten Massen im eigenen Land wie auch in aller Welt. Was folgt daraus für die Länder Lateinamerikas? Präsident Obama kann und wird es sich leisten, die schroffen Töne aus den Tagen angeblicher Achsen des Bösen und anderer Terrorbezichtigungen zu mildern, ohne freilich auf diese Schiene grundsätzlich zu verzichten. Viele werden allein das als Erleichterung und Verbesserung empfinden, die es geboten erscheinen läßt, die aufgestauten Ressentiments über Bord zu werfen und der US-Regierung wieder die Hand zu reichen. Barack Obama wird diese Hand ergreifen und den Regierungen anbieten, ihr absehbar größtes Problem in einer gemeinsamen Anstrengung zu lösen, nämlich den Aufruhr der hungernden Völker unter Kontrolle zu bringen.

Bush hatte Lateinamerika vorgegaukelt, er habe es ins Herz geschlossen, um sich den Rücken für seine unvermeidlichen imperialen Kriegszüge in anderen Weltregionen so lange wie möglich freizuhalten. Das mußte früher oder später schiefgehen, da sich im Laufe der Zeit immer deutlicher abzeichnete, daß er für die Nationen südlich des Rio Grande nichts übrig hatte als warme Worte und die Forderung, sich der "Koalition der Willigen" anzuschließen. Da dies nur in Bogotá auf fruchtbaren Boden fiel, wo man die Guerilla zu "Terroristen" erklärte und die Existenz eines Bürgerkriegs leugnete, bezichtigte Washington die Regierung Venezuelas, sie unterstütze den "internationalen Terrorismus" in Gestalt der FARC-Rebellen im Nachbarland, und versuchte im übrigen, die Länder Lateinamerikas zu spalten und die Wankelmütigen auf seine Seite zu ziehen.

Unter der Präsidentschaft Obamas - diese Prognose sei gewagt - wird der Terrorbegriff nicht etwa aufgegeben oder eingeschränkt, sondern auf die Hungerrevolte erweitert werden. Somit bringt die neue Führerfigur im Weißen Haus nicht die langersehnte Abkehr von den Grausamkeiten der Vorgängerregierung, sondern die Beschwichtigung des Widerstands und die Fortsetzung desselben strategischen Entwurfs einer neuen Weltordnung zu Lasten der "Verdammten dieser Erde" hervor, die nicht mehr nur ausgegrenzt und alleingelassen, sondern in ihrem Aufbegehren als Feinde jener Zivilisation, die sich die schwindenden Sourcen des Überlebens gesichert hat, bezichtigt und bekriegt werden.

Man wird nicht nur in Havanna oder Caracas durchaus ahnen, wen man in Barack Obama vor sich hat. Ihm und der neuen US-Administration dennoch einen gewissen Kredit einzuräumen, bis den wohlklingenden Worten Taten der einen oder andern Art gefolgt sind, gebietet das politische Kalkül, die Tür nicht vor dem neuen Präsidenten zuzuschlagen und sich damit in den Augen der Leichtgläubigen oder in ihrer Verzweiflung Hoffenden ins Unrecht zu setzen.

So hat Präsident Hugo Chávez durchaus angedeutet, daß Barack Obama derselbe Schwefelgeruch anhafte wie seinem Vorgänger im Weißen Haus. Andererseits unterstrich der venezolanische Staatschef wiederholt die Bereitschaft, jederzeit in direkte Gespräche mit seinem Amtskollegen in Washington einzutreten und die gestörten Beziehungen zu verbessern. Wie Chávez präzisierte, könne er sich gut vorstellen, noch vor dem Gipfel der Staaten Amerikas im April mit Obama zusammenzutreffen.

Chávez hatte sich nach dem Wahlsieg Obamas optimistisch gezeigt und eine Annäherung an die USA nicht ausgeschlossen. Als der US-Präsident jedoch im Januar Besorgnis über Berichte venezolanischer Unterstützung für die kolumbianische Guerilla geäußert und damit die alte Schiene der Bezichtigung aufgegriffen hatte, reagierte man in Caracas merklich kühler auf die Vorgänge in Washington. Dort scheint sich die neue Administration vorerst Zurückhaltung aufzuerlegen, die immerhin so weit ging, vor dem Referendum in Venezuela jede offene Parteinahme für die Opposition zu unterlassen und zur allgemeinen Überraschung zu erklären, es handle sich um innere Angelegenheiten des südamerikanischen Landes. Diese Haltung konsternierte nicht nur die Regierungsgegner in Venezuela, die sich neben finanzieller und politischer Unterstützung durch US-amerikanische Denkfabriken und Stiftungen eine Breitseite von höchster Stelle in Washington erhofft hatten, sondern auch spezielle Chávez-Kritiker in der israelischen Botschaft und der diplomatischen Mission des Vatikans, die in der Volksabstimmung ihre große Chance sahen, den bolivarischen Entwurf entscheidend zu bremsen.

Ähnlich konziliant wie Präsident Chávez agierten auch der kubanische Staats- und Regierungschef Raúl Castro und Rußlands Präsident Dimitri Medwedjew beim Besuch der hochrangigen kubanischen Delegation in Moskau. So verzichtete man auf jede öffentliche Erörterung militärischer Fragen, und Außenminister Lawrow wies wiederholt darauf hin, daß sich die Zusammenarbeit nicht gegen dritte Länder richte und völlig transparent sei. Auch dies wurde als deutliches Signal der Zurückhaltung interpretiert, die sich die Regierungen in Moskau und Havanna auferlegen, bis US-Präsident Barack Obama klarer Profil zu zeigen gedenkt.

Zuvor hatte Kuba mit vorsichtigem Optimismus auf den Amtsantritt des neuen US-Präsidenten reagiert und die Einlösung seiner Wahlversprechen angemahnt. "Von heute an ist der Moment gekommen, die Hoffnungen auf einen Wandel zu verwirklichen, die im Zentrum der Botschaft und in den Wahlversprechen des siegreichen Kandidaten gestanden haben", schrieb die Granma in einem Kommentar. Präsident Raúl Castro hatte schon Anfang des Jahres direkte Gespräche mit Obama in Aussicht gestellt. Er bediente sich im Ausblick auf die künftige Entwicklung der Möglichkeitsform, als er in einem Fernsehinterview darlegte, Obama könne als amerikanischer Präsident "viele positive Schritte" machen. Auf kubanischer Seite sei man durchaus zu einem Dialog bereit, wann immer das auch für die USA gelte, doch gehe er nicht von einem radikalen Umschwung in der Politik gegenüber Kuba aus.

Damit dämpfte die kubanische Regierung allzu hohe Erwartungen, da mit einer baldigen und vollständigen Aufhebung der Blockade kaum zu rechnen sei. So sagte der Präsident der kubanischen Nationalversammlung, Ricardo Alarcón, die Rede Obamas sei "sehr interessant" gewesen. Der neue US-Präsident sei ein großer Redner, doch müsse sich erst noch zeigen, ob er die in ihn gesetzten Erwartungen erfüllen könne.

Ähnlich äußerte sich auch der argentinische Außenminister Jorge Taiana anläßlich eines Besuchs der argentinischen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner in Havanna, indem er der Hoffnung Ausdruck verlieh, der Amtsantritt Obamas könne einen Wandel herbeiführen, die Abkehr der USA von der unilateralen Ordnung einleiten und einen offenen Dialog mit den lateinamerikanischen Ländern möglich machen.

Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva bekundete sein starkes Interesse, sowohl mit Havanna als auch mit Washington ins Geschäft zu kommen. Wie es hieß, wolle er eine Annäherung zwischen Kuba und der neuen US-Regierung unter Präsident Barack Obama vermitteln. Sollten die USA das Embargo lockern oder aufheben, könnte Kuba für die brasilianische Ethanolproduktion ein Einfallstor in die Karibik und nach Nordamerika werden.

Aufs falsche Pferd gesetzt hatte Kolumbiens Präsident Alvaro Uribe, der engste Verbündete der Vereinigten Staaten in Lateinamerika und Lieblingsstaatschef George W. Bushs südlich des Rio Grande. Uribe sprach im US-Wahlkampf dem republikanischen Kandidaten John McCain offen seine Unterstützung aus und empfing ihn sogar als Gast in Bogotá. Zugleich übte er heftige Kritik an Barack Obama, der dem angestrebten Freihandelsabkommen zwischen den USA und Kolumbien, das derzeit im US-Kongreß auf unabsehbare Zeit auf Eis liegt, unter Verweis auf die verheerende Menschenrechtslage in dem südamerikanischen Land seine Unterstützung verweigerte.

Dem 44. Präsidenten der USA war es jedenfalls gelungen, inmitten der Krise des Kapitalismus und endloser Kriegszüge in aller Welt, inmitten um sich greifenden Elends im reichsten Land der Erde, ungeheure Erwartungen zu schüren und überwältigenden Optimismus zu wecken. Umfragen zufolge glauben zumindest zwei Drittel der US-Bürger, daß Obama sein pauschales Wahlversprechen, wonach alles anders wird, wahrmachen kann.

Mit Blick auf die künftige Lateinamerikapolitik der neuen Administration empfahl ein Expertengremium der Brookings Institution, diese in einigen wesentlichen Elementen zu korrigieren. Unter dem gemeinsamen Vorsitz von Thomas R. Pickering, der unter anderem Botschafter in El Salvador und stellvertretender Außenminister war, und dem früheren mexikanischen Präsidenten Ernesto Zedillo wurden Vorschläge ausgearbeitet, wie der Karren gestörter Beziehungen und abgewirtschafteten Vertrauens aus dem Dreck zu ziehen sei. An Barack Obama erging damit die Forderung, für die nötige Aufbruchstimmung zu sorgen, damit die lateinamerikanischen Länder in die Arme Washingtons zurückgetrieben werden können.

19. Februar 2009