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LATEINAMERIKA/2161: Protest gegen Truppenpräsenz in Mexiko wächst (SB)


Organisierter Widerstand als verbrechensgesteuert diffamiert


Mit Riesenschritten läuft die mexikanische Regierung den Kolumbianern den Rang des führenden Sachwalters imperialer Interessen und engsten Verbündeten der Vereinigten Staaten in Lateinamerika ab. Hatten die US-Geheimdienste jüngst die Weltwirtschaftskrise zur größten Bedrohung der nationalen Sicherheit noch vor der "Terrorgefahr" erklärt und damit den Krieg gegen die Hungerrevolte auf die Tagesordnung gesetzt, so läßt nun die aktuelle Entwicklung im südlichen Nachbarland auf einen Gleichschritt in dieser zentralen strategischen Frage schließen. Der "Antiterrorkampf" ist mitnichten eine Sackgasse globaler Herrschaftssicherung, sondern vielmehr eine Zwischenetappe, die nicht etwa zurückgefahren, sondern im Gegenteil auf höherer Stufe entsprechend den prognostizierten Anforderungen erweitert und konsolidiert wird.

Der Hauptfeind von morgen ist der Hungerleider, dessen Zusammenschluß mit seinesgleichen es aus Sicht der Eliten um jeden Preis zu verhindern gilt, da andernfalls ein beispielloser Sturm auf die Metropolen droht. Fiele es der Mehrheit der Menschheit ein, die wenigen mit ins Verderben zu reißen, die sich in absehbarer Zeit noch sattessen können, wäre diese anbrandende Woge weder militärisch noch administrativ aufzuhalten. Daher werden längst Manöver in Angriff genommen und Strukturen ausgebaut, um diese bislang unter dem Begriff Migration subsumierte Wanderbewegung der von den Sourcen des Überlebens Ausgeschlossenen präventiv unter Kontrolle zu bringen.

In Mexiko hat die Regierung des konservativen Präsidenten Felipe Calderón den sogenannten "Antidrogenkampf" zu einem Pendant des "Antiterrorkriegs" hochstilisiert, zumal letzterer bekanntlich in Lateinamerika fast nirgendwo auf fruchtbaren Boden gefallen ist, wenn man einmal von Kolumbien absieht. Mit einer Todesrate, die jene Afghanistans zu übertreffen scheint, hat der Krieg der Kartelle alle anderen gesellschaftlichen Widersprüche und Konflikte an den Rand gedrängt und damit ein Szenario geschaffen, das innovativen Formen von Überwachung, Kontrolle und Repression Tür und Tor öffnet.

Präsident Calderón hat ohne nennenswerten Widerstand, ja sogar unter großem Zuspruch der mediengenerierten öffentlichen Meinung Zehntausende Soldaten und Bundespolizisten an die Brennpunkte der Auseinandersetzungen entsandt und damit nicht nur eine ungeheure Eskalation des Konflikts initiiert, sondern auch eine beispiellose Militarisierung der inneren Sicherheit Mexikos durchgesetzt. Wurde diese Entwicklung in der Bevölkerung zunächst weithin begrüßt und später trotz wachsender Bedenken geduldet, so formiert sich nun erstmals Protest wachsenden Ausmaßes, der auf der Straße in Erscheinung tritt.

In den letzten Tagen haben Demonstranten in mehreren Städten Nordmexikos gegen die Truppenpräsenz protestiert, die offenbar nicht mehr als Schutz, sondern im Gegenteil als Bedrohung wahrgenommen wird. So wurden unter anderem Grenzübergänge in Ciudad Juárez, Nuevo Laredo, Reynosa und Matamoros besetzt und Teile Monterreys lahmgelegt, weshalb man von einer regelrechten Woge um sich greifenden Widerstands sprechen kann.

Die Reaktion mexikanischer Behörden mutete erstaunlich an, behaupteten sie doch ohne Präsentation von Beweisen, die Drogenkartelle hätten dabei ihre Hand im Spiel und bezahlten die Bürger dafür, auf die Straße zu gehen und den Abzug der Armee zu fordern. Wenngleich natürlich nicht auszuschließen ist, daß die Drogenbanden entsprechende Versuche unternehmen, die Bevölkerung für ihre Interessen einzuspannen, sind doch erhebliche Zweifel an den generellen Mutmaßungen von offizieller Seite angebracht.

Immerhin nahmen nicht selten ganze Familien an diesen Märschen und Kundgebungen teil, die sich gegen die Stationierung der mehr als 40.000 Soldaten in zahlreichen Städten richteten. Und daß manche Demonstranten ihr Gesicht mit Tüchern verhüllten, um nicht erkannt zu werden, heißt nur soviel, daß die Gefahren solchen Protests in der Öffentlichkeit weithin bekannt sind. Schließlich gelten die mexikanischen Sicherheitskräfte als außerordentlich brutal im Umgang mit jeglicher Form des Widerstands.

General Edgar Luis Villegas Melndez, Kommandeur der Achten Militärischen Zone in Reynosa, war sich sicher, daß die Demonstranten vor seinem Hauptquartier von Kriminellen bezahlt worden waren (New York Times vom 19.02.09). Noch Genaueres wußte der Gouverneur des Bundesstaats Nuevo León zu berichten, der das Golfkartell und dessen Mörderbande in Gestalt der paramilitärischen Zetas als Hintermänner des Straßenprotests bezeichnete, wobei auch er nur nebulös andeuten konnte, daß man Grund zu dieser Annahme habe.

Längst häufen sich die Berichte über gravierende Verletzungen der Menschen- und Bürgerrechte durch die Armee, die sich in diversen Fällen veranlaßt sah, den Angehörigen von getöteten oder verletzten Zivilisten eine Entschädigung zu bezahlen. Inzwischen wagen es immer mehr Menschen, die willkürliche Festnahme und Inhaftierung von Familienmitgliedern anzuprangern, von deren Verbleib sie mitunter seit Monaten nichts mehr gehört haben. Unterdessen hält die Regierung noch immer eisern vor, der Einsatz der Streitkräfte sei unverzichtbar, werde weithin begrüßt und sei nur vorläufiger Natur, da man die Soldaten sobald wie möglich durch gut ausgebildete Polizeikräfte ersetzen wolle. Zwar solle die Armee eigentlich keine polizeilichen Aufgaben übernehmen, doch dauere es eben seine Zeit, bis sich die Sicherheitslage entscheidend verbessert habe und weitgehend korruptionsresistente Polizisten geschult seien.

Inzwischen hat jedoch die Auffassung, wonach sichere Lebensverhältnisse um so eher gewährleistet seien, je massiver der Staat mit Gewaltmitteln bis hin zur militärischen Intervention eingreift, beträchtliche Risse bekommen. Kein Kommentator, der unerwähnt läßt, daß seit Calderóns sicherheitspolitischer Initiative im Dezember 2006 die Eskalation unaufhaltsam ihren Lauf genommen hat. Noch herrschen Durchhalteparolen vor, man könne und dürfe jetzt nicht mehr zurück oder sehe sogar schon einen Silberstreif am Horizont. Andererseits künden die jüngsten Demonstrationen von einem Umdenken auf breiterer Front, das der Vorbote einer Trendwende sein könnte.

Diese zu verhindern scheint die politische Führung fest entschlossen, die den Widerstand gegen die Truppenpräsenz zu einem von Kriminellen gesteuerten Phänomen abqualifiziert. Etliche Zeitungen griffen diese Version auf und diffamierten die Demonstrationen und Aktionen als "Narco-Protest", womit die von offizieller Seite präsentierte Denkschablone ihre Verbreitung in den Medien und damit eine erste Verankerung im öffentlichen Bewußtsein fand. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die vielzitierte These, wonach der Protest gut organisiert vorgetragen werde und deswegen aus dem Hintergrund gesteuert sein müsse, dessen Akteure sich auf Grund ihrer verbrecherischen Identität bedeckt hielten. Diese Argumentationslinie schließt begründeten und organisierten Bürgerprotest de facto aus und setzt den beachtlichen Grad des Zusammenschlusses und des nahezu zeitgleichen Auftretens an mehreren Orten mit einer illegalen Urheberschaft gleich. Man kann davon ausgehen, daß diese Bezichtigung organisierten Widerstands als seiner Natur nach illegal bei den kommenden Hungerrevolten Urstände feiern und das mexikanische Terroräquivalent des Drogenkriminellen mit dem aufständischen Hungerleider zu einer neuen Form des gesellschaftlichen Feindbilds verschweißen wird.

20. Februar 2009