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LATEINAMERIKA/2328: Mercosur zeigt sich in demonstrativer Einigkeit (SB)


Aufnahme Venezuelas als Vollmitglied in greifbare Nähe gerückt


Im Jahr 1991 wurde das lateinamerikanische Staatenbündnis Mercosur in der Hoffnung ins Leben gerufen, den Gemeinsamen Markt des Südens in zügigen Schritten zu realisieren und damit die Gewichtung dieser Weltregion im Verhältnis zu den führenden Wirtschaftsmächten USA und EU entscheidend zu verbessern. Mit den vier Vollmitgliedern Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay sowie den assoziierten Staaten Bolivien, Chile, Ecuador, Kolumbien, Peru und Venezuela, die im Laufe der Zeit hinzukamen, schlug sich im Mercosur die traditionelle Schwäche einer durch koloniale Ausbeutung und imperialistische Unterjochung zugerichteten Sphäre nieder, deren Spaltung und Fixierung auf hegemoniale Mächte jedem Zusammenschluß unüberwindliche Steine in den Weg legt.

Weit davon entfernt, den gewaltigen Rückstand gegenüber den dominanten Industriestaaten und Handelsblöcken zügig aufzuholen, blieb der Mercosur bald hinter den selbstgesetzten Zielen zurück und ging in eine Stagnation über, die eher auf ein scheiterndes Vorhaben, als ein Erstarken des Bündnisses schließen ließen. Erst der nicht für möglich gehaltene Schub, der nach der Jahrtausendwende in zahlreichen Ländern Lateinamerikas die gesellschaftlichen Verhältnisse in Frage stellte und zugleich die Positionierung gegenüber den Vereinigten Staaten neu definierte, beflügelte auch den Mercosur als einen unter mehreren mit frischem Schwung vorangetriebenen Ansätzen, einer unabhängigen Entwicklung auf Grundlage eines engeren Zusammenschlusses lateinamerikanischer Staaten Flügel zu verleihen.

Das 34. Gipfeltreffen des Mercosur, zu dem die Regierungschefs der Mitgliedsländer vor wenigen Tagen auf Einladung des scheidenden uruguayischen Präsidenten Tabaré Vázquez in Montevideo zusammenkamen, war von einer demonstrativen Einigkeit geprägt, die man den zweifellos vorhandenen Kontroversen und Schwierigkeiten entgegenhielt. So gelang es den Teilnehmern, bislang unbewältigte Streitpunkte wie externe bilaterale Freihandelsabkommen einiger Mitgliedsländer vorerst aus dem Weg zu räumen und einen strategischen Plan zur Eindämmung der "ökonomischen Asymmetrie" zu entwerfen, der von nationalen Freiheiten zu Vermeidung von Meinungsverschiedenheiten flankiert wird. [1]

Ein grundsätzlicher Konflikt innerhalb des Mercosur war Zeit seines Bestehens das Ungleichgewicht zwischen den großen Volkswirtschaften Argentinien und Brasilien auf der einen und den geographisch und insbesondere ökonomisch weit unterlegenen kleinen Partnern Uruguay und Paraguay auf der anderen Seite. Letztere suchten ihr Heil in dem Wunsch, bilaterale Freihandelsverträge mit den USA abzuschließen, was in den zurückliegenden Jahren zu der Drohung seitens der beiden führenden Länder führte, den kleinen Staaten bei Abschluß solcher Verträge den Status als Vollmitglieder des Bündnisses abzusprechen.

Nun akzeptierten Argentinien und Brasilien diese tendentielle Doppelgleisigkeit Uruguays und Paraguays, womit der traditionelle Konflikt maßgeblich entschärft wurde. Während in der Vergangenheit begründeter Anlaß zur Befürchtung bestand, die klassische Strategie der USA, die lateinamerikanischen Ländern mit dem Instrument bilateralen Handelsabkommen zu spalten, könne auch den Ruin des Mercosur befördern, scheint dieser heute auf Grundlage eines wesentlich ausgeprägteren politischen Willens, dem Zusammenhalt allen Widrigkeiten zum Trotz den Zuschlag zu geben, entscheidend an Bündnisfähigkeit gewonnen zu haben.

Die argentinische Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner übernahm die Präsidentschaft des Wirtschaftsbündnisses von Uruguay und unterstrich dabei die Bedeutung des Ausbaus überregionaler Infrastrukturprojekte im Zusammenhang der nach wie vor bestehenden Ungleichheit zwischen den Mitgliedern. Auch regte sie eine Öffnung des Bündnisses für nichtwirtschaftliche Aspekte wie insbesondere den Klimawandel an, der viele lateinamerikanische Länder in besonderem Maße bedroht. So wurden Argentinien und Regionen der Nachbarländer in diesem Jahr von einer verheerenden Dürre heimgesucht, welche die Pampa in nie gekanntem Ausmaß verdorren ließ und den Rinderbestand dramatisch dezimierte.

Die Mitgliedsländer des Mercosur wollen zügig ein gemeinsames Zollabkommen aushandeln und streben Übereinkünfte mit anderen Ländern und Regionalbündnissen des Südens an. Zudem wurden auf dem Gipfel Gespräche mit der EU vorbereitet, die im Mai nächsten Jahres beginnen werden. Auch unterzeichnete man ein gemeinsames Freihandelsabkommen mit Israel, womit erstmals ein Vertrag des Mercosur mit einem Land außerhalb Amerikas geschlossen wurde, der allerdings eher symbolischen Charakter hat. Und nicht zuletzt will man in der Welthandelsorganisation für einen gerechteren Welthandel eintreten.

Von einer gewachsenen politischen Bedeutung des Mercosur zeugten auch dessen Stellungnahmen zu brisanten regionalen Kontroversen wie jener in Honduras. Die Staatsoberhäupter verabschiedeten eine Protestnote, in der sie die Wiedereinsetzung des rechtmäßigen Präsidenten Manuel Zelaya fordern und den Wahlen vom 29. November jede Legitimität absprechen. Diese seien illegal gewesen und stellten einen harten Schlag gegen die Demokratie in Lateinamerika und der Karibik dar.

Evo Morales, der mit deutlichem Vorsprung ins Amt des Präsidenten Boliviens wiedergewählt worden ist, erhielt auf dem Gipfel uneingeschränkte Unterstützung der anwesenden Staatschefs, die sich im Streit um die Verfassungsreform auf seine Seite stellten und für die Stärkung der demokratischen Institutionen des Landes eintreten.

Als Gast nahm Venezuelas Präsident Hugo Chávez am Gipfel teil, der seit geraumer Zeit eine Vollmitgliedschaft seines Landes anstrebt. Er verlieh seiner Überzeugung Ausdruck, daß das Schicksal Südamerikas von der künftigen Entwicklung des Mercosur abhängt, dem er eine entscheidende Rolle beim regionalen Zusammenschluß zusprach. Wie Chávez versicherte, werde er weiter geduldig auf die endgültige Aufnahme Venezuelas warten. Am Rande des Gipfels führte er ein langes Gespräch mit Pepe Mujica, dem neu gewählten Staatschef Uruguays, der sich dem Kreis seiner künftigen Amtskollegen vorstellte. Mujica und Chávez besuchten eine von Arbeitern besetzte und geleitete Fabrik, die von Venezuela finanziell unterstützt wird. Dort sicherte der venezolanische Präsident Uruguay weitere Ölexporte zu und regte einen Warenaustausch an, der nicht auf Dollars, sondern auf Gütern basiert.

In einer gemeinsamen Erklärung sprachen sich die Vertreter der Mitgliedsländer für eine baldige Ratifizierung der Vollmitgliedschaft Venezuelas aus, die 2006 grundsätzlich beschlossen worden war. Während die Parlamente Argentiniens und Uruguays der endgültigen Aufnahme bereits zugestimmt haben, gab es in Brasilien und Paraguay bislang Widerstand dagegen. Die Vorbehalte gelten Präsident Chávez, dessen politischen Kurs konservative Kräfte als undemokratisch bezichtigen, weil er die traditionellen Herrschaftsverhältnisse erschüttert hat. Nun rang sich der brasilianische Senat nach äußerst kontroversen Debatten und mehrmaliger Verschiebung zu einer Ratifizierung durch, womit ein Vollmitglied Venezuela im Mercosur in greifbare Nähe gerückt ist. [2]

Präsident Luiz Inácio Lula da Silva, der seit Jahren einen Ausbau des Mercosur anstrebt, der seines Erachtens zu einem Pol der Integration und nachhaltigen Entwicklung in Lateinamerika werden könnte, sah sich mit reaktionären Senatoren konfrontiert, die Chávez zu einem Schreckgespenst aufgebaut hatten, das die Freiheit bedrohe. Daß die obere Kammer des brasilianischen Parlaments endlich doch ihre Zustimmung gab, dürfte nicht zuletzt an den handelspolitischen Vorteilen für Brasilien gelegen haben. Zwischen 2003 und 2008 stiegen die brasilianischen Ausfuhren nach Venezuela um 758 Prozent auf 5,2 Milliarden US-Dollar, wovon insbesondere große Baufirmen und die Agroindustrie profitiert haben. Mit 4,6 Milliarden Dollar ist der Handelsüberschuß gegenüber Venezuela mehr als zweimal so groß wie gegenüber den USA, was auch und gerade konservative Parlamentarier, die häufig eng mit der Wirtschaft assoziiert sind, durchaus überzeugen kann. [3]

Jetzt hängt die erste vollwertige Erweiterung des Mercosur seit seiner Gründung vor 18 Jahren nur noch vom Kongreß Paraguays ab. Dort hat es Präsident Fernando Lugo allerdings mit einer beträchtlichen Mehrheit zu tun, die Chávez mißtraut und daher die Ratifizierung verhindert hat. Wenngleich diese politischen Vorbehalte kaum aus der Welt zu schaffen sein dürften, könnte die Entscheidung des brasilianischen Senats führende Wirtschaftskreise Paraguays zu einem Sinneswandel aus pragmatischen Gründen veranlassen.

Da Hugo Chávez im linken Handelsbündnis ALBA, dem neun Staaten aus Lateinamerika und der Karibik angehören, kompensatorische Maßnahmen und die Einführung einer gemeinsamen Währung vorantreibt, kann man davon ausgehen, daß er auch im Mercosur die längst überfälligen Schritte zum Abbau des Ungleichgewichts der Partnerländer befördern würde. Damit wäre Paraguay unmittelbar gedient, das die Asymmetrie des Bündnisses beklagt. Grundsätzlich würde Venezuela dem Mercosur als fünftes Vollmitglied neue Impulse geben, die sicher zu Turbulenzen und heftigen Kontroversen führen dürften, doch damit für eben jene Gemengelage des Aufbruchs sorgen sollten, die dem Bündnis lange Zeit völlig abhanden gekommen zu sein schien.

Anmerkungen:

[1] Mercosur-Gipfel in Uruguay beendet - Erster Freihandelsvertrag abgeschlossen. Wahlen in Honduras nicht anerkannt (16.12.09)
http://www.nrhz.de/flyer/beitrag.php?id=14597

[2] Brasilien akzeptiert Venezuela in Mercosur (16.12.09)
http://www.bielertagblatt.ch/News/Ausland/162357

[3] Mercosur-Vollmitgliedschaft. Venezuela fast in Zollunion (16.12.09)
http://www.taz.de/1/zukunft/wirtschaft/artikel/1/venezuela-fast-in- zollunion/

17. Dezember 2009