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LATEINAMERIKA/2417: Am deutschen Wesen soll Lateinamerika genesen (SB)


Westerwelle stellt neue Leitlinien wirtschaftlicher Positionierung vor


Die Geschichte Lateinamerikas war jahrhundertelang von kolonialer und imperialistischer Ausbeutung und Drangsalierung durch die Nationen Europas und die Vereinigten Staaten geprägt. In jüngerer Zeit zeichnet diese Weltregion ein beispielloser Drang aus, die Fesseln der Ausplünderung und Unterwerfung abzuschütteln, auf eigenen Füßen zu stehen und selbstgewählte Bündnisse einzugehen. Die Reaktion der nationalen Eliten und hegemonialen Übermächte ist nicht minder innovativ wie die ihre Dominanz gefährdende Tendenz zur Umwälzung traditioneller Herrschaftsverhältnisse: Von kultureller Vereinnahmung und wirtschaftliche Zurichtung über die Finanzierung reaktionärer Kräfte und Beförderung von Putschversuchen bis hin zu Sanktionsdrohungen und in Stellung gebrachten militärischen Optionen reicht die differenzierte Palette der Einflußnahme und Intervention. Dieser Kontinent ist zu reich an Ressourcen, als daß ihn die nordamerikanischen und europäischen Mächte aus ihrem Zugriff entließen, und zu widerspenstig in seinem Beharren auf dem Primat der sozialen Frage und einem Internationalismus der Unterdrückten, als daß sie ihn ungestraft gewähren ließen.

Wenn daher die Bundesregierung ihr Engagement in Lateinamerika ausweiten will, müßten bei geschichtsbewußten und sozial nicht komplett selbstentmündigten Zeitgenossen alle Alarmglocken schrillen. Außenminister Guido Westerwelle formulierte es folgendermaßen: Die Entwicklung des südamerikanischen Kontinents sei "eine einzige Erfolgsgeschichte". "Wir sollten klug genug sein, dabei zu sein, in unserem beiderseitigen Interesse." [1] Vor allem Mexiko und Brasilien hätten in den vergangenen Jahren mehr politisches und wirtschaftliches Gewicht bekommen. Ihm gehe es darum, den lateinamerikanischen Aufschwung für die deutsche Wirtschaft "bestmöglich zu nutzen". [2] In diesem "großartigen Kontinent" stecke ein "enormes Potential", das bislang aber unterschätzt wurde, schwärmte Westerwelle, der im März Lateinamerika besucht hatte. "Wer weiß schon, daß sich die größte Niederlassung der deutschen Außenhandelskammer im brasilianischen Sao Paulo befindet?" [3]

Man dürfe diese Weltregion weder als wichtigen Produktionsstandort, noch als stetig wachsenden Absatzmarkt den Vereinigten Staaten, den anderen europäischen Industrienationen oder gar den Chinesen überlassen, lautet die Doktrin der Bundesregierung, die sich erstmals mit einem umfassenden Konzept für ganz Lateinamerika als Räuber unter Räubern nach oben durchzubeißen gedenkt. In einem 64seitigen Papier hat das Auswärtige Amt in enger Absprache mit allen übrigen Fachressorts und nicht zuletzt unter Einbindung von Interessengruppen wie Human Rights Watch oder Attac detaillierte Leitlinien für die Zusammenarbeit mit Lateinamerika aufgestellt. [4]

Vor mehr als 400 Gästen aus Wirtschaft, Wissenschaft und Politik im Weltsaal des Auswärtigen Amtes von Westerwelle mit unverhohlenem Stolz präsentiert, ersetzt das neue Strategiedokument das bislang gültige Papier aus dem Jahr 1995. Der Außenminister begründete die betonte Zuwendung zu den 33 Ländern in Mittel- und Südamerika sowie der Karibik mit ihren rund 500 Millionen Einwohnern vor allem unter Verweis auf die wachsende Bedeutung der regionalen Volkswirtschaften. Seit Mitte der 1990er Jahre hätten viele Staaten dieser Region international stark an Gewicht gewonnen und die Region zu einem der dynamischsten Wachstumsmärkte der Welt gemacht, der auch von anderen Ländern stark umworben werde. Das neue Konzept solle dabei helfen, der Konkurrenz besser standzuhalten. Deutschland müsse sich "aktiver engagieren", um dort das Interesse an einer engen Partnerschaft mit der Bundesrepublik zu erhalten.

"Brasilien sitzt heute bei einem G-20-Treffen gleichberechtigt mit am Tisch", unterstrich Westerwelle. "Das zeigt das Tempo der Veränderung." Länder wie Brasilien wollten nicht mehr nur Handelspartner sein, sondern bei der Lösung globaler Fragen mitreden - etwa im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Noch habe kein lateinamerikanisches Land einen ständigen Sitz in dem UN-Gremium, der Kontinent werde nicht angemessen repräsentiert, gab sich der deutsche Außenminister geradezu fürsorglich - wohl wissend, daß die wachsende, aber noch immer deutliche beschränkte Waffengewalt Deutschland neben dem wirtschaftlichen Armdrücken auch jede Menge diplomatisches Kreidefressen abverlangt.

Große Chancen für hiesige Unternehmen sieht der Außenminister im Vorfeld der Fußballweltmeisterschaft 2014 in Brasilien und der Olympischen Spiele 2016 in Rio de Janeiro beispielsweise beim Ausbau der dafür erforderlichen Infrastruktur. Weitere Chancen verortet die Regierung im Energiebereich und besonders bei den erneuerbaren Energien: "Das Potential zur Erhöhung der Energieeffizienz im Wohnungsbau, im Verkehr, in der industriellen und landwirtschaftlichen Erzeugung und im Produktionsprozeß ist in Lateinamerika hoch und noch nicht ausgeschöpft." Die Bundesregierung will deutsche Investitionen unter anderem durch staatliche Exportkreditgarantien unterstützen, wobei Hauptzielgruppe der Außenwirtschaftsförderung kleine und mittlere Unternehmen sind. Für den deutschen Mittelstand könne auch ein kleineres Land wie Uruguay ein interessantes "Eingangstor" nach Lateinamerika sein.

Um die Wirtschaftsbeziehungen zu stärken und den Handel zu erleichtern, strebt die Bundesregierung den Abbau von Zöllen und den Abschluß von Assoziations- und Freihandelsabkommen auf EU-Ebene an. Das klingt gefällig, solange man nicht auf den Busch klopft. Das Verhältnis des südamerikanischen Wirtschaftsbündnisses MERCOSUR zur Europäischen Union ist von einem andauernden Handelsstreit geprägt, weil sich die EU seit Jahren weigert, auf marktprotektionistische Maßnahmen in der Agrarindustrie zu verzichten. So unterstrich Frankreichs Landwirtschaftsminister Bruno Le Maire erst vor wenigen Tagen diese Position mit den Worten, er werde "keine europäischen Agrarinteressen verschleudern". [5]

Das vorgestellte Konzept reicht darüber hinaus von der Ausbildung von Polizisten und Justizpersonal über die Stärkung der Agrarforschung bis hin bis zum Schutz der Tropenwälder. Zugleich hob Westerwelle die emotionalen Aspekte einer guten Partnerschaft hervor und strapazierte die fadenscheinige Formel, man müsse Gespräche "auf gleicher Augenhöhe führen". Da Lateinamerika ein sehr junger Kontinent sei, komme es beim Aufbau dauerhafter Beziehungen vor allem auf die Jugend an. Die deutschen Auslandsschulen seien ein wichtiger Bestandteil der Außenpolitik: Man wolle den Trend, Deutsch zu lernen, mit verbesserten Fortbildungs- und Stipendienangebote fördern sowie Absolventen verstärkt für ein Studium an deutschen Universitäten gewinnen.

Zu den Problemen Lateinamerikas fiel Westerwelle nichts Besseres als die Drogenkriminalität ein, weshalb sich die Bundesregierung "aktiv an der Erarbeitung von Vorhaben zur Entwicklung wirtschaftlicher Alternativen zum Drogenanbau sowie zur Kontrolle" beteiligen wolle. Stärken will man den Ausbau von Demokratie und Menschenrechten sowie des Umweltschutzes, wozu politische Stiftungen gefördert und der Einsatz von Wahlbeobachtern der EU und anderer internationaler Organisationen unterstützt werden sollen. Berücksichtigt man, welches Unwesen die Politik der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung in Mittelamerika, der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung in El Salvador und der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung in Südamerika getrieben hat, versteht man durchaus, was Westerwelle diesbezüglich vorschwebt.

Die Fokussierung auf wirtschaftliche Interessen der Bundesrepublik und deren Flankierung durch politische Einflußnahme deutscher Parteistiftungen und kulturimperialistische Vorstöße spricht eine klare Sprache. Keine Rede von der sozialen Entwicklung, keine von der wachsenden Süd-Süd-Integration und natürlich keine von den Errungenschaften jener Regierungen, die den Neokolonialisten zwangsläufig ein Dorn im Auge sind. Daß die Welt am deutschen Wesen genesen soll, würde heutzutage natürlich kein hiesiger Politiker mehr zugeben, aber abhängen beim Endspurt um die Verwertung schwindender Restbestände läßt man sich deswegen noch lange nicht.

Anmerkungen:

[1] Regierungskonzept: Deutschland will enge Partnerschaft zu Südamerika (04.08.10)
http://www.stern.de/politik/deutschland/regierungskonzept-deutschland-will-enge-partnerschaft-zu-suedamerika-1590192.html

[2] Berlin droht Lateinamerika mit Kooperation. Außenminister Westerwelle stellte Grundsatzpapier zur Zusammenarbeit vor. Kritik von Organisationen und Oppositionsparteien (05.08.10)
http://amerika21.de/nachrichten/2010/08/7396/berlin-lateinamerika-strategie

[3] 64 Seiten für den unterschätzten Kontinent. Die Bundesregierung stellt erstmals ein Gesamtkonzept für die Lateinamerika-Politik vor - Kleinunternehmen sind wichtige Zielgruppe (04.08.10)
http://www.welt.de/die-welt/politik/article8826834/64-Seiten-fuer-den-unterschaetzten-Kontinent.html

[4] Bundesregierung setzt auf Südamerika als Wachstumsmarkt (04.08.10)
http://www.google.com/hostednews/afp/article/ALeqM5jpRy7qULQHFt0iS3oHGStv6GNkug

[5] MERCOSUR will regionale Wirtschaft fördern. Erfolgreiche Konferenz des Regionalbündnisses im nordargentinischen San Juan. Abbau der Zollschranken beschlossen (04.08.10)
http://amerika21.de/nachrichten/2010/08/7303/mercosur-gipfel-argentinien

5. August 2010