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LATEINAMERIKA/2425: Migrantenmord in Mexiko - Opfer auf dem Altar konzertierter Sicherheitspolitik (SB)


Abschottung im Vorfeld auf Grundlage der Merida-Initiative


Die weltweite Verelendung menschlicher Existenz im Gefolge eines dramatischen Schwunds lebensnotwendiger Sourcen wie auch der kapitalistischen Systemkrise verschärft die von der überlegenen Waffengewalt der Metropolen getragenen Sicherheitsstrategien zu Lasten einer in die Vernichtung getriebenen Mehrheit der Menschheit. In diesem Kontext rekrutieren die Vereinigten Staaten ihr Nachbarland Mexiko in zunehmendem Maße als Bollwerk gegen die Hungerrevolte des Südens, wodurch die verheerende Gemengelage aus um sich greifender Verzweiflung und aufkochender Gier, sich in dem zugespitzten Raubgefüge zu behaupten, eskalierende Sozialkämpfe auf mexikanischem Boden ausbrechen läßt. Beim sogenannten Krieg der Kartelle und der Drangsalierung von Migranten handelt es sich im Kern um zwei Erscheinungsformen einer durch äußere Rahmenbedingungen erzwungenen spezifischen Notökonomie, deren entfesselte Grausamkeit das Produkt anderweitig verhinderter oder vernichteter Möglichkeiten des Überlebens ist.

Das zwischen den USA und Mexiko geschlossene Sicherheitsabkommen der Merida-Initiative verpflichtet die mexikanische Regierung zu einem Bündel repressiver Maßnahmen, wofür sie von Washington finanziell unterstützt und aufgerüstet wird. Neben dem sogenannten Antidrogenkampf ist dies auch die massive Eindämmung der Migration, so daß die vorangetriebene Abschottung der Grenze zwischen den beiden Ländern um die vorgelagerte Verfolgung als illegal klassifizierter Einwanderer ergänzt wird. Diese Strategie folgt denselben Prinzipien wie die Vorgehensweise der europäischen Länder, die ihren Krieg gegen die Hungermigration nach Nordafrika auszulagern versuchen.

Mexiko hat im Jahr 2007 die Einwanderung ohne gültige Dokumente entkriminalisiert und zu einem Vergehen herabgestuft. Dessen ungeachtet verpflichtet die Erfüllung der Merida-Initiative die mexikanische Regierung, die Migration zu erschweren und durch eine Politik der Abschreckung zurückzudrängen. Da sich zahllose Menschen, getrieben von den elenden Lebensverhältnissen in ihren Heimatländern, dennoch auf den gefahrvollen Weg nach Norden machen, resultiert daraus eine Entrechtung und Drangsalierung der Migranten, die jedes staatlichen Schutzes beraubt sind. Mexiko hat zwar internationale Abkommen zur Wahrung der Rechte von Migranten unterzeichnet, doch kommt das in der Praxis kaum jemals zum Tragen. So nehmen Gerichte in aller Regel Klagen nur von Personen an, die durch die Vorlage entsprechender Dokumente ihren legalen Aufenthalt nachweisen können.

Wie der internationale Drogenhandel untrennbar mit der Prohibition verbunden ist, gründet auch der Menschenhandel auf Abschottungspolitik und Kriminalisierung. So gesellt sich zur Brutalität der Einwanderungsbehörden, die inzwischen auch mit biometrischer Technologie Jagd auf "Illegale" machen, die berüchtigte Kollaboration der Sicherheitskräfte mit der organisierten Kriminalität und ein entuferndes Bandenwesen, das sich an der Ausbeutung von Migranten bereichert.

Da die Regierung des konservativen Präsidenten Felipe Calderón ihr Heil an der Seite einer für übermächtig erachteten US-Administration sucht und einer gemeinsamen Sicherheitspolitik Vorschub leistet, verwandelt sie Mexiko zwangsläufig in ein Schlachtfeld, dessen Gewaltopfer jährlich in die Tausende gehen. Seit Amtsantritt Calderóns im Dezember 2006 sind mehr als 28.000 Menschen den Kämpfen zwischen den Kartellen und deren Auseinandersetzungen mit den Sicherheitskräften zum Opfer gefallen, weshalb das Schicksal der Migranten lange Zeit ein Schattendasein in der medialen Repräsentanz und öffentlichen Wahrnehmung fristete. Nun hat das Massaker an 72 Einwanderern, die auf einer Ranch im nordmexikanischen Bundesstaat Tamaulipas abgeschlachtet wurden, die Aufmerksamkeit auf diesen Abgrund der Grausamkeit gelenkt.

Die 58 Männer und vierzehn Frauen, die am 25. August in San Fernando, rund 160 Kilometer südlich der texanischen Grenzstadt Brownsville, ermordet aufgefunden wurden, stammten aus El Salvador, Honduras, Brasilien und Ecuador. Nach Angaben des einzigen Zeugen, der mit einer Schußwunde überlebt hatte, handelte es sich bei den Tätern um Mitglieder der Zetas, eines vergleichsweise jungen und besonders grausamen Drogenkartells der mexikanischen Golfküstenregion. Als die Migranten sich weigerten, auf die Forderungen einzugehen, wurden sie in einem Lagerhaus allesamt erschossen. [1]

Auf ihrer langen Reise aus Süd- oder Mittelamerika sehen sich die Migranten endlosen Gefahren ausgesetzt, die weit über die klassischen Zahlungen an Schlepperbanden hinausgehen. Entführungen sind an der Tagesordnung, wobei das Lösegeld vorzugsweise von Angehörigen in den USA eingetrieben wird. Wer für seine Freilassung nicht zahlen kann, wird häufig kurzerhand umgebracht, Frauen werden zur Prostitution und anderen Formen der Zwangsarbeit verschleppt, viele Menschen müssen als Drogenkuriere weiterziehen. Diese und andere Untaten häufen sich nicht nur im Norden des Landes, sondern vielerorts in Mexiko, wobei auch das südliche Grenzgebiet für heimliche Einwanderer aus Guatemala einem Minenfeld gleicht. Schutzlose Migranten auszurauben, auszubeuten und umzubringen, ist längst eine Praxis, die nicht allein von klar definierten Banden ausgeht, sondern mitunter von weiten Teilen der ansässigen Bevölkerung in einer Mischung aus grassierender Fremdenfeindlichkeit und Gewinnsucht betrieben wird.

Wie das Blutbad von San Fernando zeigt, verlegen sich auch die Drogenkartelle längst auf den Menschenhandel, der nicht minder lukrativ wie der Rauschgiftschmuggel und vielfach mit wesentlich geringeren Risiken verbunden ist. Da jährlich schätzungsweise 140.000 Migranten nichtmexikanischer Herkunft die Grenze zu den USA erreichen, brauchen sich räuberische Banden um den Nachschub nicht zu sorgen. Überdies sind die Menschen aus weiter entfernten Ländern häufig gezwungen, sich in Etappen nach Norden durchzuschlagen und ihre Angehörigen wiederholt zu bitten, ihnen Geld zu schicken. Wer sich der Migranten bemächtigt, sattelt folglich nicht selten auf diesen Vorgang auf. Zudem sind diese Menschen, die sich großen Verkehrswegen fernhalten müssen, besonders anfällig für falsche Versprechen von Essen, Unterkunft, Transport oder Arbeit.

Die Nationale Bürgerrechtskommission Mexikos (CNDH) spricht in einem Untersuchungsbericht von fast 10.000 nachgewiesenen Entführungsfällen von Migranten im Zeitraum von September 2008 bis Februar 2009, womit es im Schnitt jeden Monat zu 1.600 derartigen Übergriffen kommt. Nach Angaben mexikanischer Nichtregierungsorganisationen haben allein die Zetas in den letzten vier Jahren rund 18.000 Migranten entführt und geschätzte 50 Millionen Dollar Lösegeld von Verwandten in den USA erpreßt. [2] Der Report der CNDH belegt nicht nur das Ausmaß dieser Drangsalierung, sondern bestätigt zudem auf Grundlage Tausender Interviews mit Migranten, daß deren Bedrohung in Mexiko endemisch ist und häufig von der Polizei ausgeht. Da Einwanderer ohne Papiere keinerlei behördlichen Schutz zu erwarten haben und an ihnen begangenen Straftaten so gut wie nie gerichtlich geahndet werden, haben Polizisten freie Hand, Migranten zu verprügeln, zu erniedrigen, auszurauben und unter Androhung von Haft oder Ermordung Gelder von ihnen zu erpressen. Dies führt zwangsläufig dazu, daß die Polizei als denkbar größte Gefahr gemieden und keinesfalls freiwillig aufgesucht wird, was wiederum Kartellen und anderen Banden in die Hände spielt, zumal diese ohnehin häufig mit den Teilen der Sicherheitskräfte zusammenarbeiten.

Vor diesem Hintergrund verschleiert die Erklärung Präsident Felipe Calderóns, das Massaker von San Fernando sei auf eine Auseinandersetzung zwischen den Zetas und dem Golfkartell zurückzuführen, den Sachverhalt eher, als daß sie etwas zu dessen Aufklärung und Analyse beitragen könnte. Die mexikanische Regierung verstieg sich sogar zu der zynischen Behauptung, der Vorfall belege ihre Erfolge im Kampf gegen die Kartelle, die offensichtlich gezwungen seien, sich neue Rekruten und Erwerbsquellen zu suchen. Gegenüber der Tageszeitung Milenio riet die Direktorin der mexikanischen Migrationspolizei (INM), Cecilia Romero, Migranten ohne Dokumente sogar, sich am besten gleich den Behörden freiwillig zu stellen, damit sie "sicher wiederbeheimatet" werden könnten.

Unterdessen hat der Präsident El Salvadors, Mauricio Funes, angekündigt, er wolle mit seinem mexikanischen Amtskollegen Felipe Calderón zusammentreffen, um die Anstrengungen im Kampf gegen die Drogenkriminalität zu koordinieren. Dieser Krieg sei mit den traditionellen Mitteln und Methoden der Verbrechensbekämpfung nicht zu gewinnen, erklärte Funes. Diese Kriminellen stellten eine Herausforderung dar, die anderer Antworten, Waffen und Herangehensweisen bedürfe. [3] Welcher Ansatz ihm dabei vorschwebt, konnte oder wollte er freilich nicht näher erläutern.

Anmerkungen:

[1] 72 immigrants massacred in Mexico (30.08.10)

World Socialist Web Site

[2] Debatte in Mexiko nach Mord an Migranten. Massaker im Nordosten des Landes: Ehemalige Polizeieinheit verantwortlich. Staat tief in Verbrechen verstrickt (30.08.10)
http://amerika21.de/nachrichten/2010/08/12334/debatte-mexiko-nach-mord

[3] Mayor in Mexican Border State Killed (29.08.10)

New York Times

31. August 2010