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LATEINAMERIKA/2437: Krieg den Hütten - Militäreinsatz gegen Favelas in Rio (SB)


Säuberungswelle im Vorfeld sportlicher Großereignisse


"Wir haben überall dort, wo es nötig ist, die Kontrolle übernommen", so der Chef der Militärpolizei des Bundesstaats Rio de Janeiro, Mário Sérgio Duarte. [1] "Wir haben gesiegt, wir haben der Bevölkerung von Alemão Frieden gebracht." [2] Militärpolizisten pflanzten auf einem Gebäude auf dem höchsten Hügel der Favela zum Zeichen des Triumphs die Flaggen Brasiliens und Rio de Janeiros auf. Damit war eine Operation erfolgreich abgeschlossen, die ein Polizeisprecher in Anspielung auf die Landung der alliierten Truppen in Nordfrankreich am Ende des Zweiten Weltkriegs als "D-Day" bezeichnete. [3]

Rund 2.600 Armeesoldaten, Marineinfanteristen und Elitepolizisten hatten unter Einsatz von Panzern und Hubschraubern den Complexo do Alemão gestürmt, zu dem 15 Favelas mit insgesamt 400.000 Bewohnern gehören. Der Krieg, von dem hier die Rede ist, wird nicht gegen Armut und Hunger, Erwerbslosigkeit und fehlende Versorgung, Entwürdigung und Hoffnungslosigkeit geführt, unter der etwa zwei Millionen Menschen leiden, die in den mehr als tausend Elendsvierteln der brasilianischen Metropole leben. Mit ihren Großeinsätzen wollen die Sicherheitskräfte vielmehr die Kontrolle über die Favelas zurückgewinnen, um die Stadt mit Blick auf die Fußballweltmeisterschaft 2014 und die Olympischen Spiele 2016 zu befrieden. Wenn es dazu nötig ist, wie im Laufe der vergangenen Woche 35 Todesopfer in Kauf zu nehmen, gilt das den Behörden als geringer Preis für den öffentlichkeitswirksam zelebrierten Sieg.

Die Doppelstrategie, die Armenviertel einerseits auszugrenzen und deren Bewohner ihrem Schicksal zu überlassen, aber andererseits die zwangsläufig daraus resultierende extreme Mangelökonomie zu kriminalisieren und ihr Übergreifen auf die wohlhabenderen Stadtteile zu verhindern, zielt über die beiden genannten sportlichen Prestigeprojekte hinaus auf die gewaltsame Befriedung der Hungerrevolte ab. Wenngleich die brasilianische Regierung und in ihrem Gefolge Bundesstaat und Stadt Rio de Janeiro keinerlei Störung des Bildes dulden wollen, welches das aufstrebende Schwellenland während der Austragung von Weltmeisterschaft und Olympiade im Fokus der Weltöffentlichkeit abgibt, ist doch der Krieg gegen die Favelas älter als dieser Anlaß und wird zweifellos weitergeführt, wenn die internationalen Gäste wieder abgereist sind. Aus Sicht der Administration geht es um nichts weniger, als Millionen verelendeter Menschen mit einem Minimum oder gänzlich fehlender Versorgung unter Kontrolle zu halten und ihnen insbesondere militante Formen, sich über Wasser zu halten oder sich gar gegen die Eliten zu wenden, aus dem Kopf zu schlagen.

Die militärische Niederschlagung des Bandenwesens wie im aktuellen Fall wird von einer Propagandaoffensive flankiert, die den grundsätzlichen Charakter dieses Krieges in den Favelas verschleiert und leugnet. Wie gut dieses Verfahren dank bereitwilliger Kollaboration der Medien einschlägt, dokumentieren Schlaglichter der aktuellen Verarbeitung. Daß der Polizeichef der Metropole, José Mariano Beltrame, den Complexo do Alemão als "das Herz des Bösen" stigmatisierte, fanden die internationalen Medien offenbar weniger verwerflich, als vielmehr anregend: "Der notorischste Slum dieser Stadt" (New York Times), "diese Hochburg des Verbrechens" (www.sueddeutsche.de), "ein als Kriminellen-Hochburg berüchtigtes Viertel steht vor der Erstürmung" (www.welt.de), schloß man sich bedenkenlos der Bezichtigung der Favelas und der dort lebenden Menschen an und stimmte in den Ruf nach Säuberung ein.

In Brasilien war dieser Krieg das bedeutendste Medienereignis seit der Fußballweltmeisterschaft im letzten Jahr. Das Fernsehen berichtete Tag für Tag fast rund um die Uhr von den Auseinandersetzungen, alle Zeitungen brachten tägliche Sonderberichte über die Kämpfe, und am Sonntag wurden per Hubschrauber Bilder von einer Messe an der weltberühmten Christusstatue, dem Symbol Rio de Janeiros, übertragen, wo Hunderte Einwohner und Touristen für die Sicherheitskräfte beteten. Kein Brot, aber Spiele, lautet die staatlicherseits verordnete Formel für die Hungerleider in den Favelas, deren angebliche Befreiung man soeben unter massivem Truppeneinsatz inszeniert hat.

Anmerkungen:

[1] Kampf um die Favelas. Soldaten gehen in Rio mit Panzern gegen Drogenhändler vor (29.11.10)
http://www.welt.de/print/welt_kompakt/vermischtes/article11279388/Kampf-um-die-Favelas.html

[2] Kampf um Rio. In der künftigen Olympiastadt geht die Polizei hart gegen Drogenbanden vor (29.11.10)
http://www.sueddeutsche.de/65A38M/3750115/Kampf-um-Rio.html

[3] Brazilian Forces Claim Victory in Gang Haven (28.11.10)
New York Times

29. November 2010