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LATEINAMERIKA/2470: Triumphale Wiederwahl Cristina Kirchners in Argentinien (SB)


Linksbürgerliches Modell klientelistischer Sozialregulation


Bei der Präsidentenwahl in Argentinien ist die Amtsinhaberin Cristina Fernández de Kirchner mit einem überwältigenden Ergebnis wiedergewählt worden. Die linksperonistische Staatschefin erhielt im ersten Wahlgang nach offiziellen Angaben 53,8 Prozent der Stimmen und erzielte damit den deutlichsten Sieg bei einer argentinischen Präsidentschaftswahl seit fast vier Jahrzehnten. Die 58jährige Mutter zweier Kinder und Witwe des vor einem Jahr verstorbenen Expräsidenten Néstor Kirchner wird in die Geschichte ihres Landes als eine der erfolgreichsten Politikerinnen eingehen, ist sie doch zugleich die erste Frau in Lateinamerika, die als Präsidentin zum zweiten Mal in Folge in ihrem Amt bestätigt wurde. Mit Cristina Kirchner ist nach Juan Domingo Perón (1945-1955) und Carlos Menem (1989-1999) zum dritten Mal die Staatsführung in zwei aufeinanderfolgenden Amtszeiten in denselben Händen.

Die in der Provinzhauptstadt La Plata geborene Cristina Fernández lernte den drei Jahre ältere Kirchner während ihres Jurastudiums kennen, worauf sie 1975 heirateten. Beide waren in den 1970er Jahren in der radikalen peronistischen Jugend aktiv und flüchteten zu Beginn der Militärdiktatur (1976 bis 1983) in Kirchners Geburtsstadt Río Gallegos, die Hauptstadt der Provinz Santa Cruz, wo sie ein Anwaltsbüro eröffneten. Anfang 1976 wurde das Ehepaar einen Monat lang auf einem Polizeikommissariat festgehalten. Als Néstor Kirchner später zum Bürgermeister seiner Heimatstadt gewählt wurde, begann auch Cristina Kirchners politische Karriere. Sie war zunächst Vorsitzende des Planungsrates der Stadt und wurde später Abgeordnete im Provinzparlament von Santa Cruz, wo ihr Mann zum Gouverneur gewählt wurde. 1995 wurde Cristina Kirchner Senatorin von Santa Cruz und 2005 Senatorin der Provinz Buenos Aires. Im Oktober 2007 kandidierte sie für das Präsidentenamt und setzte sich bereits im ersten Wahlgang durch. Damit wurde sie zur ersten gewählten Präsidentin ihres Landes und weltweit zur ersten Frau, die ihrem Mann durch demokratische Wahlen im Amt nachfolgte. [1] Argentinien hatte schon einmal eine Präsidentin gehabt, die allerdings nicht in ihr Amt gewählt worden war. María Estela Martínez de Perón, bekannt als Isabelita, die mit Juan Domingo Perón in dessen dritter Ehe verheiratet war, bekleidete das Amt der Vizepräsidentin, als er 1974 starb. Sie übernahm die Staatsführung und wurde nach 20 chaotischen Monaten durch einen Militärputsch gestürzt.

Die Wahlbeteiligung beim aktuellen Urnengang lag mit 78,9 Prozent über den 76,2 Prozent der letzten Präsidentenwahl 2007, wobei in Argentinien Wahlpflicht besteht. Hinter Cristina Kirchner, die an der Spitze der Front für den Sieg (Frente para la Victoria) angetreten war, folgte deutlich abgeschlagen mit 17 Prozent der sozialistische Provinzgouverneur Hermes Binner, an dritter Stelle steht der Zentrumspolitiker Ricardo Alfonsín (UCR) mit 11,1 Prozent. Der peronistische Gouverneur von San Luis, Alberto Rodríguez Saá, kam auf 8,0 Prozent, gefolgt vom ehemaligen Präsidenten und konservativen Peronisten Eduardo Duhalde (6,0 Prozent), dem Trotzkisten Jorge Altamira (2,3 Prozent) und der Mittelinkskoalition um Elisa Carrió (1,9 Prozent). [2]

Knapp 29 Millionen Bürger waren zudem aufgerufen, die Hälfte der Abgeordneten sowie ein Drittel der Senatoren neu zu bestimmen. Der Regierung gelang es, die Mehrheit im Abgeordnetenhaus zurückzugewinnen, die sie 2009 verloren hatte. Nach letzten Hochrechnungen könnte die FPV der Präsidentin mit anderen Verbündeten eine Mehrheit von 133 der 257 Mandate erreichen. Da sie auch die Mehrheit im Senat behielt, wird es ihr künftig leichter fallen, ihre politischen Vorstellungen durchzusetzen.

Noch vor einem Jahr, als ihr Mann und Amtsvorgänger Néstor Kirchner am 27. Oktober plötzlich starb, kämpfte die Präsidentin mit der Ablehnung der Mittel- und Oberschicht. Ihre Wählerschaft findet sie vor allem in den ärmeren Teilen der Bevölkerung. Erst im September hatte sie den Mindestlohn um 25 Prozent auf rund 390 Euro und damit den höchsten Satz in Lateinamerika angehoben. Das Ehepaar war stets als Team aufgetreten, wobei ihre politischen Karrieren parallel verliefen. Bis zu seinem Tod zog Néstor Kirchner die Fäden im Hintergrund. Die Art und Weise, wie Cristina Kirchner danach weiterregierte, versöhnte die Bevölkerung mit ihrer Präsidentin. Zustimmung brachte ihr jedoch vor allem das anhaltende Wirtschaftswachstum, das insbesondere von Sojaexporten sowie der Autoindustrie und der Softwarebranche getragen wird. Wachstumsraten von jährlich um die acht Prozent sorgen für steigende Beschäftigtenzahlen, und der private Konsum ist ungebrochen.

Allerdings steigen die Preise dramatisch an, so daß die Inflationsrate bei über 25 Prozent liegt, was vor allem die kleineren Einkommen trifft. Die Devisenreserven schwinden und die Armut ist wieder auf dem Vormarsch. Da der Wirtschaftsboom in erster Linie auf den Soja- und Getreideexporten insbesondere nach Brasilien und China beruht, hängt die argentinische Wirtschaft in hohem Maße von einer ungebrochenen Nachfrage nach diesen Agrarerzeugnissen und der Entwicklung der Weltmarktpreise ab.

Politische Heimat von Néstor und Cristina Fernández de Kirchner ist der Perónismus, was freilich insofern wenig besagt, als es sich dabei um eine breite Bewegung handelt, die vom linken bis zum rechten Flügel des politischen Spektrums reicht. Der Aufstieg Néstor Kirchners war untrennbar mit dem Aufschwung nach dem ökonomischen Zusammenbruch des Jahres 2001 verknüpft, wobei es ihm gelang, eine modifizierte Wirtschaftsordnung und eine unangefochtene politische Führung zu etablieren, die von seinem Amt ausgehend vertikal organisiert war. Er verkörperte lange in seiner Person die Abkehr vom Neoliberalismus, die Überwindung der Krise und die Rückkehr zu Wohlstand und Sicherheit, wobei Mythos und tatsächliche politische Leistung eng miteinander verwoben waren. Er sorgte jedenfalls dafür, daß die wirtschaftliche Wiederbelebung nicht gebremst wurde, und leitete zugleich eine tendentielle Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zur Bekämpfung der massenhaften Armut ein, die zunächst sehr erfolgreich war, auf Dauer jedoch vor allem den Mittelschichten zugute kam.

Néstor Kirchner gelang es, die Lage zu stabilisieren und das Land aus den Fängen des Internationalen Währungsfonds zu lösen, der es sehenden Auges in die Krise getrieben hatte. Zugleich nahm er die juristische Aufarbeitung der Militärdiktatur in Angriff, kündigte die Unterstützung Argentiniens für die von den USA angestrebte Amerikanische Freihandelszone (ALCA) auf und gehörte zusammen mit seinen Amtskollegen Luiz Inácio Lula da Silva aus Brasilien, Hugo Chávez aus Venezuela und Evo Morales aus Bolivien zu den aktivsten Unterstützern einer neuen Integration Südamerikas.

Die streng vertikale Struktur des Kirchnerismus ließ jedoch eine Teilung der Macht in Gestalt von Allianzen mit anderen politischen Gruppierungen ebenso wenig zu wie eine zunehmende Beteiligung und Einbindung von Organisationen an der Basis. Es handelt sich daher um eine politische Ausrichtung, die durchaus dem linken bürgerlichen Lager zuzuordnen ist, jedoch nicht den Charakter einer trag- und ausbaufähigen gesellschaftlichen Umgestaltung hat. Die Sozialleistungen werden im Rahmen eines klientelistischen Modells gewährt, das die bestehenden Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnisse nicht in Frage stellt und Basisbewegungen allenfalls funktionalisiert.

Die zunächst frappierenden Erfolge dieser Politik sind insofern nicht dauerhafter Natur, als sie an eine Phase der Prosperität gekoppelt bleiben und einer wieder einsetzenden Verschärfung gesellschaftlicher Widersprüche nicht Rechnung tragen können. Ab 2006 zeichnete sich immer deutlicher ab, daß die Regierung die galoppierende Inflation verschleierte, bis keinerlei verläßliche Wirtschaftsdaten mehr zugänglich waren. Die Strategie, einen Teil der Profite steuerlich abzuschöpfen und in Sozialreformen und Infrastrukturmaßnahmen zu investieren, stieß zwangsläufig auf erbitterten Widerstand der Großproduzenten und Agrarindustrie.

Der aus dem Export von Agrarerzeugnissen resultierende Reichtum kommt der argentinischen Bevölkerung in höchst ungleicher Weise zugute, da die Exporteure von den steigenden Weltmarktpreisen profitierten, während viele Lebensmittel für einen beträchtlichen Teil der Argentinier kaum noch erschwinglich sind. Um die Inflation zu dämpfen, die Preise einzufrieren und die Gewinne tendentiell umzuverteilen, führte die Regierung Preiskontrollen, Exportgrenzen und immer höhere Ausfuhrsteuern für bestimmte Erzeugnisse ein, bis es zum offenen Konflikt mit den Agrarverbänden kam, die sich nach monatelangen Kampfmaßnahmen schließlich auch im Parlament durchsetzten. Damit wurden die Kirchners nicht nur in ihren persönlichen politischen Ambitionen gebremst, sondern mußten auch dem Kampf für einen sozialen Ausgleich zugunsten der ärmeren Bevölkerungsschichten Zügel anlegen.

Wie schnell der Reichtum an landwirtschaftlich produzierten Rohstoffen angesichts klimatischer Veränderungen schwinden kann, deutete die unerhörte Dürre an, die Argentinien vor zwei Jahren heimsuchte. Die Pampas verwandelten sich von einem endlosen Meer fruchtbarer Getreidefelder und grünender Weiden für riesige Rinderherden in eine braune, vertrocknende Ödnis, in der kaum noch etwas wuchs und das Vieh verhungerte. Die Produktion von Weizen sank 2009 auf den tiefsten Stand der letzten hundert Jahre, und seit September 2008 waren drei Millionen Rinder verendet oder notgeschlachtet worden. Soja gehörte zu den wenigen Produkten, deren Anbau nicht zurückgegangen war, wenngleich auch hier die Erträge erheblich sanken. Damit setzte sich der Drang zur Sojabohne, der binnen eines Jahrzehnts zur Verdoppelung der Anbaufläche geführt hatte, mit erhöhter Geschwindigkeit fort.

Das ist verständlich aus Sicht der Produzenten, die verstärkt auf das Erzeugnis mit den absehbar höchsten Profiten setzen, doch zugleich ein verhängnisvoller Trend hin zur Monokultur, die den Boden auslaugt und bei schwankenden Weltmarktpreisen verheerende Risiken für die gesamte Volkswirtschaft birgt. Der Mythos des Agrarerzeugers, dessen Exporte die Welt versorgen, droht sich als ein Haus erwiesen, das auf Sand gebaut ist. Sollte die globale Klimaveränderung, als deren Bote man die südamerikanische Dürre wohl auffassen muß, das fruchtbare Land dauerhaft in eine ausgedörrte Steppe verwandeln, erwiese sich einmal mehr, wie schwach und gefährdet die Position eines Lieferanten von Rohstoffen bleibt, selbst wenn zwischenzeitlich hohe Weltmarktpreise einen unerschöpflichen Quell sprudelnder Einkünfte suggerieren.

Da die kapitalistischen Produktionsverhältnisse unangetastet blieben, waren dem Versuch, durch Sozialprogramme eine tendentielle Umverteilung zugunsten der ärmsten Bevölkerungsteile durchzusetzen, von vornherein die Flügel gestutzt. Letzten Endes bleibt die Zuteilung staatlicher Leistungen unter diesen Voraussetzungen stets ein bloßes Lehen, das den Empfängern jederzeit genommen werden kann. Mit Blick auf den politischen Entwurf des Kirchnerismus stellt sich die grundsätzliche Frage, ob er in seiner bislang praktizierten Form tatsächlich die einzig relevante Option bleiben soll, um konservative bis reaktionäre Kräfte Argentiniens in Schach zu halten. Anstelle der dem peronistischen Mythenschatz entlehnten Regierung für das Volk wäre ein partizipativer Ansatz denkbar, der Cristina Kirchner freilich stärker denn je in Opposition zu den mächtigsten Zirkeln des Establishments brächte, ihr aber andererseits dort Rückhalt verschaffen könnte, wo ihn die Kirchners in ihrem Streben nach exekutiver Stärke nie ernsthaft gesucht haben. Die triumphale Wiederwahl der Präsidentin läßt befürchten, daß es dazu in ihrer zweiten Amtszeit weniger denn je kommen wird.

Fußnoten

[1] http://www.welt.de/politik/ausland/article13677893/Der-ueberragende-Sieg-einer-trauernden-Witwe.html

[2] http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/wahl-in-argentinien-deutlicher-sieg-fuer-praesidentin-kirchner-11503197.html

24. Oktober 2011