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MILITÄR/843: Rußland zunehmend über US-Raketenabwehrpläne besorgt (SB)


Rußland zunehmend über US-Raketenabwehrpläne besorgt

Washington hält an seiner umstrittenen Umzingelungsstrategie fest


Mehr als zweieinhalb Jahre nach dem Amtsantritt Barack Obamas als US-Präsident entpuppt sich dessen Bekenntnis zu einer Verbesserung der Beziehungen der Vereinigten Staaten von Amerika zur Russischen Föderation als leeres Gerede. Als wäre die neokonservative Militaristenriege um George W. Bush jun., Dick Cheney und Donald Rumsfeld immer noch an der Macht, baut das Pentagon mit Hilfe der amerikanischen Rüstungsindustrie unaufhaltsam um Rußland - und China übrigens auch - herum ein gigantisches Raketenabwehrsystem auf, das sich angeblich gegen den Iran und Nordkorea richtet, jedoch in erster Linie den USA und ihren Verbündeten im Ernstfall einen vernichtenden nuklearen Erstschlag gegen das russische - und das chinesische - Atomwaffenarsenal ermöglichen soll. Das Streben der Amerikaner nach einem strategischen Vorteil in Kernwaffenbereich ist in mehrfacher Hinsicht nicht nur dumm und kurzsichtig, sondern auch hochgradig gefährlich. In allen bisherigen Tests weist das Raketenabwehrsystem der USA eine niedrige Erfolgsquote auf. Gegen Interkontinentalraketen, die, wie die russischen, Attrappen mit sich führen, um sie zusammen mit den eigentlichen Atomsprengköpfen gegen Ende des Flugs auszusetzen, ist es vollkommen machtlos. Dafür zerstört sein Ausbau das seit Jahrzehnten nach der Abschreckungslogik vorherrschende Gleichgewicht und erhöht damit die Gefahr des Ausbruchs eines für die gesamte Menschheit verheerenden Atomkrieges.

Am 13. September haben Vertreter Washingtons und Bukarests ein Abkommen über die Stationierung von 40 bis 50 Abfangraketen vom Typ Standard Missile 3 (SM-3) auf dem rumänischen Luftwaffenstützpunkt Deveslu unterzeichnet. (Bereits letztes Jahr hatten die Amerikaner ihre ersten SM-3s samt 150 US-Soldaten als Bedienungspersonal auf europäischen Boden stationiert, und zwar auf dem Stützpunkt Morag im Nordosten Polens, rund 60 Kilometer von der russischen Ostsee-Enklave Kaliningrad entfernt). Fast zeitgleich zur Einigung mit Bukarest erhielt Washington aus Ankara die Nachricht, die Regierung von Premierminister Recep Tayyip Erdogan habe sich für den Bau einer für das Raketenabwehrsystem erforderlichen X-Band-Radarstation der US-Militärs im Osten der Türkei entschieden. Über den Schulterschluß der Türken, die sich in letzter Zeit aus US-Sicht hauptsächlich durch Kritik an Israel hervortaten, war man in Washington besonders erfreut. In einem am 16. September erschienenen Artikel der New York Times mit der triumphalistisch klingenden Überschrift "U.S. Hails Deal With Turkey on Missile Shield" wurde ein nicht namentlich genanntes Mitglied der Obama-Regierung mit den Worten zitiert, es handele sich hier "wahrscheinlich um die wichtigste strategische Entscheidung zwischen den Vereinigten Staaten und der Türkei in den letzten 15 bis 20 Jahren".

Wie verärgert die russische Führung über diese Entwicklung war, ging aus einer Meldung der Deutschen Presse-Agentur (DPA) vom 3. Oktober hervor. Darin wurde Rußlands Botschafter bei der NATO, Dimitri Rogozin, dahingehend zitiert, die Frist für eine Verständigung zwischen Washington und Moskau über eine Zusammenarbeit in Sachen Raketenabwehr sei "am Schwinden". Rogozin warnte, daß der Kreml wegen der selbstherrlichen Vorgehensweise Washingtons das für Mai 2012 in Chicago geplante Gipfeltreffen der Präsidenten beider Staaten platzen lassen würde. DPA verwies in diesem Zusammenhang zudem auf einen, am selben Tag in der angesehenen russischen Politzeitschrift Kommersant erschienenen Artikel. Darin fand ein nicht genannter, russischer Regierungsbeamter weitaus drastischere Worte als Rogozin über den Stand der Gespräche zwischen Moskau und Washington: "Für eine Einigung besteht keine Chance mehr. Jetzt müssen wir entweder unseren eigenen Raketenschirm bauen oder unsere einsatzfähigen Nuklearwaffenkapazitäten erhöhen."

Am 5. Oktober meldeten die USA die Errichtung eines weiteren Standbeins für ihr Raketenabwehrsystem. Bei einem Treffen mit Premierminister Jose Luis Rodriguez Zapatero in Madrid gab der neue US-Verteidigungsminister Leon Panetta die künftige Dauerstationierung mehrerer amerikanischer mit dem Aegis-Luftabwehrsystem ausgestatteter Lenkwaffenzerstörer um die Straße von Gibraltar herum bekannt, denen der Marinestützpunkt Rota an der spanischen Atlantikküste künftig als Heimathafen dienen soll.

Am 6. Oktober berichtete die Tageszeitung The Hindu, beim jüngsten Treffen der NATO-Verteidigungsminister in Brüssel am 30. September hätten diese eine formelle Einladung zur Teilnahme Indiens am westlichen Raketenabwehrsystem an die Regierung in Neu-Delhi gerichtet. Derzeit bastelt die Defence Research and Development Organisation (DRDO) des indischen Verteidigungsministeriums an einem eigenen Raketenabwehrsystem und hat seit November 2006 vom Integrated Test Range (ITR) in Chandipur an der Küste Orissas aus bereits sechs Versuche durchgeführt, eine von Wheeler Island gestartete, ballistische Rakete abzuschießen, von denen fünf erfolgreich gewesen sein sollen. Geographisch betrachtet, läßt sich die Integrierung Indiens in das NATO-Raketenabwehrsystem schwerlich bis gar nicht mit dem Schutz Europas und Nordamerikas vor iranischen oder nordkoreanischen Raketen begründen. Im Gegenteil macht sie die dahinterliegende Absicht, die Umzingelung Rußlands - und Chinas - nur allzu deutlich.

10. Oktober 2011