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MILITÄR/849: Medwedew verurteilt US-Raketenabwehrsystem in Europa (SB)


Medwedew verurteilt US-Raketenabwehrsystem in Europa

Obamas "Reset" der Beziehungen der USA zu Rußland nur leeres Gerede?


Vor dem Hintergrund der Umbrüche im Nahen Osten, wo Rußland im Falle eines Sturzes der Baath-Regierung Baschar Al Assads in Syrien seinen treuesten Verbündeten in der arabischen Welt und damit auch in Tartus seinen einzigen Militärhafen am Mittelmeer zu verlieren droht, und der zunehmenden Spannungen zwischen den USA und dem Iran, hat der russische Präsident Dmitri Medwedew seine bislang harscheste Kritik am Aufbau des amerikanischen Raketenabwehrsystems in Europa geübt. Medwedew beließ es jedoch nicht bei Kritik, sondern kündigte konkrete Gegenmaßnahmen, mittels derer die Erstschlagskapazität der nuklearen Streitkräfte Rußlands aufrechterhalten werden sollen, an. In den USA zeigte sich die Regierung Barack Obama über die jüngste Entwicklung im Streit um das Raketenabwehrsystem konsterniert. Für die Aufregung im Kreml gebe es gar keinen Anlaß, da sich das System ausschließlich gegen Mittel- und Langstreckenraketen aus dem "Schurkenstaat" Iran richte, so das Argument des Weißen Hauses, des State Departments und des Pentagons. Wenn dem so ist, läßt sich nicht plausibel erklären, warum sich die Amerikaner beharrlich weigern, den Russen die von ihnen eingeforderte schriftliche Garantie zu geben.

In den vergangenen Monaten haben die USA Vereinbarungen mit den NATO-Verbündeten Spanien, Rumänien, Bulgarien und der Türkei über die Stationierung verschiedener Teile des Systems - entweder Raketensilos und Radaranlagen auf dem Festland oder Lenkwaffenzerstörer im Schwarzen Meer und im Mittelmeer - getroffen. Bereits unter der Präsidentschaft von George W. Bush hatte Washington mit Warschau die Installierung von Abfangraketen in Polen vereinbart. Dort sollen auch die konkreten Arbeiten am europäischen Teil des Systems, das 2020 vollständig in Betrieb gehen soll, am weitesten vorangeschritten sein. Bei einer Fernsehrede am 23. November hat Medwedew bekanntgegeben, angesichts der wachsenden Bedrohung das russische Militär mit der Ausarbeitung und Ergreifung entsprechender Gegenmaßnahmen beauftragt zu haben. Dazu gehörten nach Angaben des Kreml-Chefs die Aufrüstung der ballistischer Raketen Rußlands mit "fortgeschrittener Technologie zur Überwindung von Raketenabwehrsystemen und neuen, hocheffektiven Sprengköpfen" sowie die Entwicklung von Maßnahmen "zur Vernichtung von elektronischen Informations- und Leitsystemen". Er kündigte an, eventuell ballistische Raketen vom Typ Iskander in der russischen Ostsee-Enklave Kaliningrad zu stationieren, und drohte mit einem Austritt Rußlands aus bestehenden strategischen Abrüstungsverträgen. Medwedew, der wenige Tage zuvor auf dem Asia-Pacific Economic Cooperation Forum (APEC) in Hawaii mit dem amerikanischen Amtskollegen über das Thema Raketenabwehr gesprochen hatte, führte seine Entscheidung auf die Weigerung Washingtons, die Sorgen Moskaus zu berücksichtigen, zurück. Rhetorisch fragte er, wie er die Zusicherungen Obamas glauben könne, wo es doch Hardliner im Washingtoner Kongreß gebe, die daraus keinen Hehl machten, daß für sie das System hauptsächlich dazu da sei, den US-Nuklearstreitkräften einen erfolgreichen Erstschlag gegen Rußland zu ermöglichen.

Am 24. November hat Medwedew seine Kritik an den Raketenabwehrplänen des Pentagons bekräftigt. Bei einem Auftritt in der nordrussischen Stadt Petrozavodsk warf er den USA vor, die europäischen NATO-Verbündeten zur Teilnahme am Raketenabwehrsystem zu zwingen. Er behauptete, daß im Vertrauen europäische Staatschefs ihm gegenüber beklagt hätten, daß sie in der ganzen Angelegenheit praktisch gar keinen Handlungspielraum hätten. "Meine Gesprächspartner haben hin und wieder mir gegenüber angedeutet, daß es die Amerikaner sind, welche die Entscheidungen treffen und das System vorantreiben, und daß die Rolle der Europäer als NATO-Mitglieder darin besteht, ihr Territorium zur Verfügung zu stellen."

In der westlichen Presse wurden die jüngsten Äußerungen Medwedews als hauptsächlich innenpolitisch motiviert dargestellt und mit den Wahlen zur russischen Duma am 4. Dezember in Verbindung gebracht. An dieser Interpretation ist sicherlich etwas dran. Daß jedoch die amerikanisch-russischen Beziehungen insgesamt von tiefstem Mißtrauen gekennzeichnet sind, zeigt die am 22. November bekanntgegebene Entscheidung der USA, den im Abkommen über konventionelle Streitkräfte in Europa vorgesehenen Austausch von Informationen mit Rußland auszusetzen. Seinerseits hatte Moskau bereits 2007 aus Protest gegen den Ausbau der US-Militärpräsenz in Osteuropa die Weitergabe von Informationen über seine konventionellen Streitkräfte im westlichen Teil der Russischen Föderation an die 29 NATO-Staaten eingestellt. Seitdem hat es offenbar keine Annäherung gegeben. Der Verzicht auf den Informationsaustausch schafft Raum für Fehldeutungen der Absichten der gegnerischen Seite und erhöht damit natürlich die Kriegsgefahr.

26. November 2011