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MILITÄR/854: Langstreckenrakete verschafft Indien Weltmachtstatus (SB)


Langstreckenrakete verschafft Indien Weltmachtstatus

Test der Agni-V katapultiert Indien in die nukleare Oberliga



Der 19. April 2012 wird künftig in der Militärgeschichte einen besonderen Platz einnehmen. An diesem Tag hat Indien erstmals eine ballistische Interkontinentalrakete, die auch mit einem Atomsprengkopf bestückt werden kann, getestet. Bisher gab es nur fünf Nationen, die über solche Waffen verfügten, nämlich die fünf ständigen Mitgliedsstaaten des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen: China, Frankreich, Großbritannien, Rußland und die USA. Mit dem erfolgreichen Test der Agni-V (Agni ist der Name des Hindugottes des Feuers) ist das mit 1,3 Milliarden Menschen bevölkerungsreichste Land der Erde auch militärisch zu einer Weltmacht geworden.

Indien hat seine nukleare Aufrüstung stets mit dem Hinweis auf das Nachbarland China, das 1964 auf dem Testgelände Lop Nor in Xinjiang seine erste Atombombe zündete, begründet. Nur zwei Jahre zuvor hatten die indischen Streitkräfte einen kurzen, aber blutigen Krieg gegen die chinesische Volksarmee über den Grenzverlauf zwischen dem heutigen indischen Bundesstaat Arunachal Pradesh und der damaligen chinesischen Provinz Aksai Chin, die zur Autonomieregion Tibet gehört, verloren. Doch erst 1998 hat Indien eigene Atomtests, die wiederum in einem Abstand von nur wenigen Tag von Pakistan in gleicher Weise beantwortet wurden, durchgeführt. In seinem 2007 erschienenen Buch "Empire and the Bomb" führte der US-Abrüstungsexperte Joseph Gerson die Entscheidung Neu-Delhis zur Durchführung eigener unterirdischer Atomtests auf die Weigerung der fünf offiziellen Nuklearmächte auf der internationalen Konferenz über die Verlängerung des Nicht-Verbreitungsabkommens im Jahre 1995, konkrete Schritte zur Beseitigung der eigenen Kernwaffenbestände in Aussicht zu stellen, zurück.

Nach Angaben des indischen Verteidigungsministeriums ist die Agni-V um 08:15 Uhr des 19. April von einer Rampe auf dem staatlichen Testgelände auf der vor dem nordostindischen Bundesstaat Orissa im Golf von Bengalen gelegenen Wheeler Island gestartet und hat nach 20 Minuten das vorgegebene Ziel im Indischen Ozean, irgendwo westlich der indonesischen Insel Sumatra, erreicht. Kurz danach hat Premierminister Manmohan Singh den am Projekt beteiligten Ingenieuren und Wissenschaftlern gratuliert. "Der heutige Test stellt einen weiteren Meilenstein in unserem Streben nach Sicherheit, Einsatzbereitschaft und der Erforschung der Grenzen der Wissenschaft dar", so die pathosgetränkte Stellungnahme des Regierungschefs.

Die dreistufige Agni-V ist 17,5 Meter lang, benutzt Festbrennstoff und wiegt beim Start 50 Tonnen. Entwicklung und Bau der Rakete wurden komplett von der Defence Research and Development Organisation (DRDO) des indischen Verteidigungsministeriums geleistet und sollen rund 500 Millionen Dollar gekostet haben. Die Agni-V hat eine Reichweite von 5000‍ ‍Kilometer und kann einen Mehrfachsprengkopf mit einem Gewicht von bis zu 1,5 Tonnen ans Ziel befördern. Lagen nach der erfolgreichen Erprobung der Mittelstreckenrakete Agni-III die Städte der chinesischen Ostküste in Reichweite der strategischen Streitkräfte Indiens, so können diese nun Ziele in der gesamten Volksrepublik - einschließlich erstmals die Hauptstadt Peking - ins Visier nehmen (Die Kurzstreckenraketen Agni-1 und -II gelten als Abschreckungsmittel gegenüber Pakistan).

Doch damit nicht genug. Die Agni-V war extra dafür konzipiert worden, mit speziellen Zügen oder Lastwagen transportiert zu werden. Eine feste Rampe, welche eine ballistische Rakete beim Auftanken vor dem Start angreifbar macht, ist damit nicht erforderlich. Aufgrund der Größe und geographischen Lage Indiens befänden sich nach einem Abschuß der Agni-V von der Nähe der nördlichen oder westlichen Grenze ganz Zentralasien, der Nahe Osten bis zum Nil sowie der größte Teil Rußlands und Osteuropas in der Reichweite der ersten indischen Interkontinentalrakete. Aufgrund der Leichtbauweise, bei der Verbundstoffe verwendet wurden, geht man in Indien davon aus, daß die Agni-V sogar weiter als 5000 Kilometer fliegen könnte.

Im vergangenen September haben die Verteidigungsminister der NATO bei ihrem Herbsttreffen in Brüssel Indien formell zur Teilnahme am westlichen Raketenabwehrsystem eingeladen. Das deckt sich mit den Bemühungen der USA, Indien im Rahmen der neuen strategischen Partnerschaft beider Länder in die Containment-Politik Washingtons gegenüber China einzubinden. Seit 2006 hat die DRDO eine ganze Reihe eigener Raketenabwehrtests durchgeführt. Vom Integrated Test Range (ITR) in Chandipur an der Küste Orissas aus hat man nach offiziellen Angaben fünf von sechs Raketen abschießen können, die von der lediglich einige Hundert Kilometer entfernt liegenden Wheeler Island gestartet waren. Dessen ungeachtet hat die Regierung in Peking mit Gelassenheit auf den erfolgreichen Test der indischen Interkontinentalrakete reagiert. Vermutlich hoffen die Chinesen auf dem Weg der guten Nachbarschaft und des Ausbaus der Handelsbeziehungen die Inder von einem zu engen Schulterschluß mit den Amerikanern und ihren nordatlantischen Verbündeten abzubringen.

19.‍ ‍April 2012