Schattenblick → INFOPOOL → POLITIK → REDAKTION


MILITÄR/910: USA lehnen Atomwaffenverbot als "unrealistisch" ab (SB)


USA lehnen Atomwaffenverbot als "unrealistisch" ab

Washington treibt die Modernisierung seines Kernwaffenarsenals voran


Vom 27. bis zum 31. März fand am Hauptquartier der Vereinten Nationen in New York die erste Runde von Verhandlungen über die Verhängung eines rechtsverbindlichen Atomwaffenverbots statt. Zum Auftakt der Beratungen bezeichnete Papst Franziskus in einer schriftlichen Stellungnahme aus Rom die Abschaffung von Kernwaffen als einen "humanitären Imperativ". Frieden und Stabilität in der Welt könnten nicht auf der "Androhung gegenseitiger Zerstörung oder totaler Auslöschung" basieren, so das Oberhaupt sowohl der katholischen Kirche als auch des Vatikan-Staates. Franziskus äußerte die Hoffnung auf einen pragmatischen Dialog zwischen den Atomstaaten und den Nicht-Atomstaaten, der die Schaffung einer Welt ohne Nuklearwaffen ermögliche.

In New York stießen jedoch die Hoffnungen des Heiligen Vaters und mit ihm der allermeisten Menschen weltweit auf die harte Wirklichkeit der Realpolitik. Die Atomstaaten, gegen deren Willen die Nicht-Atomstaaten mit großer Mehrheit auf der UN-Generalversammlung im vergangenen Herbst - 123 zu 38 Stimmen bei 16 Enthaltungen - die Abhaltung der Konferenz vereinbart hatten, haben die Veranstaltung boykottiert. Bereits Ende letzten Jahres hatte die Regierung des Demokraten Barack Obama die Verbündeten der USA offiziell dazu aufgerufen. In New York war es Nikki Haley, die Vertreterin von Obamas republikanischem Nachfolger Donald Trump, die am 27. März mit mehr als einem Dutzend UN-Botschafter befreundeter Staaten den Boykott demonstrativ in die Tat umsetzte. Vor dem UN-Hauptquartier erklärte Haley im Beisein der Kollegen unter anderem aus Deutschland und Großbritannien, ein Verbot von Atomwaffen wäre "unrealistisch", weil sich Länder wie Nordkorea und der Iran - letzterer hat bekanntlich keine Atomwaffen - nicht daran halten würden. Die Teilnehmer der Konferenz verstünden nicht "die Bedrohungen", die auf der Welt existierten, so die ehemalige Gouverneurin des Bundesstaates South Carolina.

Anlaß der Konferenz war die anhaltende Weigerung der anerkannten fünf Atomstaaten - China, Frankreich, Großbritannien, Rußland und die USA - ihren Verpflichtungen nach dem Atomwaffensperrvertrag von 1968 nachzukommen. In dem Grundlagenvertrag haben sich die allermeisten Länder der Erde verpflichtet, keinen militärischen Gebrauch von der Kernenergie zu machen. Im Gegenzug haben sich die genannten fünf ständigen Mitglieder im UN-Sicherheitsrat nach Artikel VI des Abkommens verpflichtet, "in redlicher Absicht Verhandlungen zu führen über wirksame Maßnahmen zur Beendigung des nuklearen Wettrüstens in naher Zukunft und zur nuklearen Abrüstung sowie über einen Vertrag zur allgemeinen und vollständigen Abrüstung unter strenger und wirksamer internationaler Kontrolle". Also stellte die Weigerung der USA und ihrer Verbündeten, an der aktuellen Konferenz teilzunehmen, einen klaren Verstoß gegen den Atomwaffensperrvertrag dar.

Noch vor dem Ende seiner zweiten Amtszeit als US-Präsident hatte Obama eine Modernisierung des amerikanischen Kernwaffenarsenals auf den Weg gebracht, die sage und schreibe eine Billion Dollar kosten soll. Auch wenn Trump ähnlich wie Obama leere Worte über eine wünschenswerte Welt ohne Atomwaffen von sich gegeben hat, kann man davon ausgehen, daß er die angelaufene Modernisierung vorantreiben will. Der starke Einfluß des Militärs in der Regierung der Politneulings Trump läßt zudem befürchten, daß es während der Präsidentschaft des New Yorker Baulöwen zum erstmaligen Einsatz von Atomwaffen seit 1945 kommen könnte. Seit Jahren installieren die USA in der Nähe der Grenzen Rußlands und Chinas ein Raketenabwehrsystem, welches das Pentagon in den Stand versetzen soll, einen nuklearen Erstschlag gegen die beiden Konkurrenzstaaten durchführen zu können, ohne einen allzu verheerenden Zweitschlag befürchten zu müssen. Nach der Inbetriebnahme von Raketenstellungen in Osteuropa sowie der Stationierung von Batterien des Terminal High Altitude Area Defense (THAAD) in Südkorea scheint das System den Stand der Funktionsbereitschaft fast erreicht zu haben.

Wie weit gediehen die Möglichkeiten der USA für einen verheerenden Erstschlag gegen Rußland wirklich sind, zeigen Angaben, die der am 1. März auf der Website des renommierten Bulletin of Atomic Scientists erschienene Artikel "How US nuclear force modernization is undermining strategic stability: the burst-height compensating super-fuze" von Hans M. Kristensen, Matthew McKinzie und Theodore A. Postol enthielt. Demnach haben die USA seit 2009 - dem ersten Amtsjahr von Friedensnobelpreisträger Obama - an allen Atomsprengköpfen der Interkontinentalraketen vom Typ W-76-1/Mk4A, welche ihre Atom-U-Boote vom Typ Trident mit sich führen, sogenannte "Super-Zünder" montiert. Diese Zünder ermöglichen eine Explosion der Atombombe in größerer Höhe als bisher über dem anvisierten Ziel. Dadurch sind die Chancen, daß die USA beim Erstschlag sämtliche landgestützten Atomwaffen Rußlands - oder auch Chinas - vernichten bzw. ausschalten könnten, drastisch gestiegen. Kristensen, McKinzie und Postol bezeichnen die Auswirkungen der Aufrüstungsmaßnahme als "revolutionär" und eine große Gefahr, da diese Bedrohung die Führungen in Moskau und Peking im Krisenfall zu raschem Handeln veranlassen könnte.

Seit Wochen versucht die westliche Presse, den Menschen in den Industriestaaten Nordamerikas und Europas weiszumachen, Nordkorea stelle mit seinen Raketen- und Atombombentests eine Gefährdung der internationalen Ordnung dar. Tatsächlich dient die nukleare Aufrüstung Nordkoreas der Selbstverteidigung, weswegen das arme kommunistische Land 2006 aus dem Atomwaffensperrvertrag ausgetreten ist. Für Pjöngjang hätte wegen der geringen Anzahl seiner Atomwaffen der Erstschlag keinen Sinn. Auch China und Rußland halten bislang an einer Zweitschlagsdoktrin fest. Einzig die USA beanspruchen für sich, im Konfliktfall als erster Teilnehmer auf den Einsatz von Kernwaffen zurückzugreifen. Wegen dieser Haltung und der entsprechenden Begleitmaßnahmen gehen die größten "Bedrohungen" - um die Formulierung Nikki Haleys zu gebrauchen - für die Welt von der Supermacht USA und deren Streben nach waffentechnologischer Überlegenheit zu Lande, zur See, in der Luft, im All sowie im Cyberspace - "Full Spectrum Dominance" - und nicht etwa von Nordkorea, Iran, China oder Rußland aus.

1. April 2017


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang