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NAHOST/942: London in eigene Irakkriegslügen verheddert (SB)


London in eigene Irakkriegslügen verheddert

Der Irakkrieg könnte Blairs Aufstieg zum EU-Präsidenten verhindern


Mehr als sechs Jahre nach Einmarsch in den Irak und wenige Wochen nach dem Abzug der letzten britischen Truppen aus der südirakischen Provinz Basra tobt in Großbritannien nach wie vor der Streit darum, wie die sozialdemokratische Labour-Regierung des damaligen Premierministers Tony Blair so blind sein konnte, sich am größten Militärabenteuer der neokonservativen Administration des republikanischen US-Präsidenten George W. Bush zu beteiligen. 2004 gab es eine von Richter Lord Butler geleitete Untersuchung der Geheimdiensterkenntnisse, die in Bezug auf die Massenvernichtungswaffen Bagdads und die Al-Kaida-Verbindungen Saddam Husseins als Vorwand für die Invasion herhalten sollten und die später zumindest als völlig überbewertet, wenn nicht sogar als wider besseren Wissens konstruiert entlarvt wurden. Weil der Butler-Bericht für die Regierung in London zu schmeichelhaft und damit zu unglaubwürdig ausfiel, sah sich im Juni Blairs Nachfolger als Regierungschef, der damalige Finanzminister Gordon Brown, gezwungen, Lord John Chilcott mit einer erneuten, umfassenderen Untersuchung, welche die Hintergründe, den Verlauf und die Konsequenzen des Irakkrieges unter die Lupe nehmen sollte, zu beauftragen. Auch wenn man davon ausgehen kann, daß das Hauptziel der Chilcott-Untersuchung weniger die Aufklärung als vielmehr die Wiederherstellung des Millionen von Briten verlorengegangenen Vertrauens in die staatlichen Institutionen ist, dürfte die Arbeit der Kommission Brown, Blair und Konsorten einige schlaflose Nächte bereiten.

Bekanntlich weigert sich London bis heute, die juristische Expertise, welche wenige Tage vor Beginn des Irakkrieges am 19. März 2003 der damalige Justizminister Lord Goldsmith dem britischen Kabinett zum Thema der Legalität der Invasion vorlegte, zu veröffentlichen. Viele Hinweise, darunter die Aussagen früherer Mitarbeiter Goldsmiths deuten darauf hin, daß der Justizminister die offiziellen Gründe für den Krieg für unzureichend hielt. Das war für Blair ein großes Problem, denn während Millionen seiner Landsleute gegen den bevorstehenden Krieg demonstrierten, hatte der Premierminister sich bereits ein Jahr zuvor von Bush jun. in die Pflicht nehmen lassen. Wie sehr, geht aus einer Regierungsmitteilung, die Blairs außenpolitischer Berater, Sir David Manning, am 31. Januar 2003 verfaßt hatte und deren Inhalt die britische Sonntagszeitung Observer am 21. Juni dieses Jahres publik machte, hervor.

Anfang 2003 wartete die Welt auf das Ergebnis der jüngsten Irakbesichtigungstour der UN-Waffeninspekteure unter der Leitung von Hans Blix. Doch während Blair damals beteuerte, er hoffe, es würde nicht zum Krieg kommen, wußte er, daß die Würfel längst gefallen waren. In der Manning-Mitteilung, die an den Premierminister selbst, Blairs Stabschef Jonathan Powell, Generalstabschef Admiral Lord Boyce, den UN-Botschafter Sir Jeremy Greenstock und Sir Christopher Meyer, den britischen Botschafter in Washington, ging, heißt es, die Bush-Regierung habe den Beginn der Iran-Bombardierung auf den 10. März terminiert. Für den Fall, daß Blix den Irak für massenvernichtungswafffenfrei erklären sollte und sich die Chancen auf eine Mandatierung des Krieges durch eine Resolution des UN-Sicherheitsrats als nichtig erweisen sollten - was auch geschah -, werden in der Mitteilung andere von Bush und Blair diskutierte Möglichkeiten erörtert, den großen Anti-Saddam-Feldzug doch noch vom Zaun zu brechen. Hierzu gehörten das Auftauchen eines irakischen Überläufers, der dazu gebracht werden könnte, der Regierung in Bagdad den Besitz irgendwelcher Restbestände an ABC-Waffen zu unterstellen, und die Herbeiführung der Beschießung eines UN-Flugzeuges durch die irakischen Streitkräfte.

Bereits im September 2002 hatte Blair ein Dossier veröffentlichen lassen, in dem der Krieg gegen den Irak mit der Gefahr begründet wurde, daß die Streitkräfte Saddam Husseins innerhalb von 45 Minuten nach einem entsprechenden Befehl britische Soldaten auf Zypern mit Raketen beschießen könnten, die mit chemischen Kampfstoffen beladen wären. Mit diesem lachhaften und für alle Welt durchsichtigen Ammenmärchen sollte eine Bedrohung der nationalen Sicherheit Großbritanniens und damit die Notwendigkeit bzw. Rechtmäßigkeit der Selbstverteidigung suggeriert werden. Als später, im Mai 2003, die BBC unter Verweis auf eine Quelle im britischen Militärapparat berichtete, daß Downing Street die vom Irak Saddam Husseins ausgehende Bedrohung komplett aufgebauscht hatte, brach eine gnadenlose Jagd auf den Nestbeschmutzer aus.

Relativ schnell wurde der BBC-Informant ausgemacht. Es handelte sich um Dr. David Kelly, den führenden Biowaffenexperten Großbritanniens, der auch jahrelang in leitender Position an den UN-Inspektionen im Irak teilgenommen hatte und folglich über die Fähigkeiten der irakischen Streitkräfte auf dem Gebiet der nicht-konventionellen Waffen bestens informiert gewesen sein dürfte. Kelly wurde gezwungen, bei einem öffentlich Auftritt zu bestreiten, jemals gegenüber dem BBC-Reporter Andrew Gilligan den Vorwurf der Medienmanipulation gegen die eigene Regierung erhoben zu haben. Zwei Tage später wurde er in einem Waldstück in der Nähe seines Hauses in Südengland tot aufgefunden. Offiziell heißt es, er habe Selbstmord - vermutlich aufgrund der Kontroverse um seine Person - begangen. Viele Indizien jedoch wie der Mangel an Blut am Fundort, die Geringfügigkeit der Schnittwunde am Handgelenk und vieles mehr deuten jedoch darauf hin, daß Kelly ermordet wurde und daß die Täter sein Ableben als Suizid aussehen lassen wollten.

Am 5. Juli wartete der Sunday Express, eine der meistverkauften britischen Zeitungen, mit neuen, beunruhigenden Details im Falle Kelly auf. Demnach arbeitete der Wissenschaftler im Frühjahr 2003 an einem Enthüllungsbuch über die Verwendung von Anthrax als Kampfmittel. Bekanntlich folgten auf die Flugzeuganschläge vom 11. September 2001 eine Reihe von Anschläge mit Anthrax-Briefen, die mehrere Menschen töteten, für öffentliche Aufregung sorgten und deren Hintergründe bis heute nicht restlos aufgeklärt worden sind. 2008 soll sich der US-Biowissenschaftler Dr. Bruce Ivins umgebracht haben, weil das FBI kurz davor stand, ihn als mutmaßlichen Anthrax-Attentäter zu identifizieren. Nach Angaben des Sunday Express hatte Kelly in den Wochen und Monaten kurz vor seinem eigenen Tod mehrere Gespräche mit Verlagsvertretern über sein Buchprojekt geführt. Bei den Gesprächen soll es unter anderem darum gegangen sein, wie weit er gehen könnte, ohne gegen das britische Staatsgeheimnisschutzgesetz zu verstoßen. Dazu der Sunday Express: "Er hat vorgehabt zu enthüllen, daß er Premierminister Tony Blair in den Wochen vor der britischen und amerikanischen Invasion gewarnt hatte, daß es nirgendwo im Irak Massenvernichtungswaffen gebe ... und er hat ebenfalls vorgehabt, einen potentiell größeren Skandal, nämlich seine eigene Verwicklung in die geheime Biowaffenforschung des Apartheid-Regimes in Südafrika, zu lüften."

Der Sunday-Express-Artikel stützt sich zum Teil auf die Angaben von Rob Coen, der für die Canadian Broadcasting Corporation die Dokumentation "Anthrax War" gedreht hat. Der Enthüllungsfilm, in dem sich Coen unter anderem mit den rätselhaften Toden von Ivins, Kelly und mehreren anderen führenden Biowissenschaftlern befaßt, wurde bereits vom kanadischen Fernsehen ausgestrahlt. In Großbritannien soll der Film am 17. Juli, dem Jahrestag des Todes Kellys, erstmals gezeigt werden. Man kann davon ausgehen, daß die Dokumentation den Forderungen nach Aufklärung der Hintergründe des Irakkrieges Auftrieb verleihen wird. Eine solche Aufklärung ist dringend notwendig, denn einer der Hauptverantwortlichen für diesen völkerrechtlich illegalen Angriffskrieg, Ex-Premierminister Blair, bereitet sich Presseberichten zufolge darauf vor, erster Präsident der Europäischen Union zu werden. Sobald der Vertrag von Lissabon von allen 27 EU-Staaten ratifiziert worden ist - für den 2. Oktober läßt die Regierung in Irland die Bevölkerung dort darüber ein zweites Mal abstimmen -, soll über die Besetzung des neuen Führungspostens entschieden werden. Derzeit gilt der aktuelle Sonderbotschafter des Nahost-Quartetts und mutmaßliche Kriegsverbrecher Blair als aussichtsreichster Kandidat.

8. Juli 2009