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NAHOST/1112: Störfeuer gegen den Palästinenserstaat (SB)


USA und Israel locken und drohen


Das Spektrum der Prognosen, welche Konsequenzen eine mögliche Anerkennung des einseitig ausgerufenen Palästinenserstaats durch die UNO-Generalversammlung nach sich ziehen könnte, ist breit gefächert. Während Befürworter den langersehnten Durchbruch im Nahostkonflikt erhoffen und Gegner die Gefahr blutiger Unruhen an die Wand malen, gibt es auch Stimmen in palästinensischen Kreisen, die dem Vorgehen nichts abgewinnen können, weil sie es für folgenlos, wenn nicht gar ein Ablenkungsmanöver halten. Selbst unter Experten des Völkerrechts herrscht Uneinigkeit darüber, welche Vorteile für einen veränderten Status der Palästinenser in der internationalen Staatengemeinschaft sprächen.

Erstaunlich ist das nicht, handelt es sich doch um einen Machtkampf, der sich der Bühne der Vereinten Nationen bedient und zugleich deren Bedingungen zu eigenen Gunsten zu beeinflussen sucht. Bekanntlich spricht Washington internationalen Gremien wie der UNO oder Strafgerichtshöfen jedes Recht ab, Entscheidungen zu Lasten der USA zu treffen. Israel hat in seiner Geschichte keine einzige Abstimmung der Vereinten Nationen oder deren Gremien akzeptiert und befolgt, die seinen Staatsinteressen widersprachen. Hingegen verfügen die Palästinenser über keine derartigen Mittel, weshalb sie auf die Unterstützung anderer Länder angewiesen sind, zu ihren Gunsten zu votieren. Diese Abhängigkeit droht sie auf dem diplomatischen Parkett zu einem Spielball fremder Interessen zu machen.

Sollte der palästinensische Antrag wie erwartet am 20. September UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon überreicht werden, dürften in der Generalversammlung rund 140 der 193 UNO-Mitgliedsstaaten den Staat Palästina in den Grenzen von 1967 anerkennen. Die US-Regierung hat jedoch keinen Zweifel daran gelassen, daß sie im Sicherheitsrat einen derartigen Antrag mit ihrem Veto abschmettern würde. Allerdings gibt es im Sicherheitsrat offenbar keine Mehrheit, ein Votum der Vollversammlung zu blockieren, das den Status der Palästinenser von einer "nicht abstimmungsberechtigten Einheit" auf einen "nicht abstimmungsberechtigten Staat" anhebt. Diese Entscheidung würde den Palästinensern Zugang zu Dutzenden Gremien der UNO öffnen und damit ihre Möglichkeiten verbessern, Klagen gegen Israel vor dem Internationalen Strafgerichtshof durchzusetzen. [1]

Auch in ökonomischer Hinsicht könnte die Anerkennung eines Palästinenserstaats mit beträchtlichen Vorteilen verbunden sein. So weist eine Studie der UNO-Konferenz für Handel und Entwicklung (UNCTAD) darauf hin, daß sich palästinensische Geschäftsleute und Politiker davon enorme Handelserleichterungen erhoffen. Bislang durchlaufen Importe und Exporte mehrfache israelische Kontrollen, die ein wiederholtes Auf- und Abladen der Waren erfordern. Diese von der Besatzungsmacht aufgezwungene Prozedur ist nicht nur zeitaufwendig, sondern auch teuer. Einer Schätzung des stellvertretenden PA-Handelsministers Abdel Hafiz Nofal zufolge verteuern sich die Waren durch die israelischen Barrieren um 40 Prozent. [2]

Wäre internationales Recht eine Übereinkunft, an die sich alle Staaten halten, hätte sich Israel schon vor 40 Jahren aus den Palästinensergebieten zurückgezogen. Da diesbezügliche Beschlüsse der UNO-Vollversammlung jedoch für die Regierung in Jerusalem seit jeher Schall und Rauch sind, wird nun im Grunde ein seit Jahrzehnten von israelischer Seite durchgesetzter Tatbestand neu verhandelt. Sollte Palästina in den Grenzen von 1967 anerkannt werden, befänden sich die Siedlungen, die Kontrollpunkte, die Sperrmauer und alle sonstigen von Israel errichteten Bauwerke und Einrichtungen illegal im souveränen palästinensischen Staatsgebiet. Da Besatzung und fortschreitender Landraub durch die Siedlertätigkeit jedoch integrale Bestandteile israelischer Staatsdoktrin sind, wird die Regierung Netanjahu aktuelle Beschlußlagen der Staatengemeinschaft sowenig anerkennen, wie das in der Vergangenheit der Fall war.

Zugleich haben Kabinettsmitglieder präventive Sanktionen verfügt oder spätere angedroht, um die Palästinenser von ihrem Vorhaben abzubringen. Finanzminister Juval Steinitz von der Likud-Partei hat die Zahlung von 106 Millionen US-Dollar an die PA gestoppt, obgleich es sich dabei um palästinensische Steuereinnahmen handelt, die die israelische Besatzungsmacht kassiert und zu deren Weitergabe sie verpflichtet ist. Sein Kollege Uzi Landau, Infrastrukturminister und Mitglied der ultranationalistischen Partei "Unser Haus Israel", droht damit, daß Israel seine "Souveränität auf das Jordantal und die großen Siedlungsblocks" in den besetzten palästinensischen Gebieten und "vermutlich noch mehr" ausweiten werde, wodurch diese Gebiete völkerrechtswidrig annektiert würden. [3]

Zudem bereiten sich die israelischen Streitkräfte "auf jedes denkbare Szenario" im Kontext der UNO-Abstimmung vor. Unter dem Vorwand, es könne zu Unruhen kommen, wurden bewaffnete Sicherheitsteams der Siedlungen ausgebildet und mit Tränengas und Blendgranaten ausgerüstet. Um jede Siedlung im besetzten Westjordanland soll eine "rote Linie" gezogen werden, bei deren Überschreiten Palästinensern auf die Füße geschossen wird. So werden mögliche Demonstrationen der Palästinenser, zu denen deren Führung ausdrücklich nur in den Städten und nicht bei Siedlungen oder Kontrollposten aufruft, zum Aufruhr erklärt und präventiv zur Vorbereitung gesteigerter Repression genutzt.

Kongeniale US-Abgeordnete wie Ileana Ros-Lehtinen stoßen ins selbe Horn massiver Einschüchterung. Die republikanische Vorsitzende des Außenpolitischen Komitees und überzeugte Unterstützerin des Staates Israel hat im Repräsentantenhaus einen Antrag angekündigt, mit dem alle Zahlungen an UNO-Organisationen eingestellt werden sollen, die die Palästinenser bei ihrem Streben nach staatlicher Anerkennung unterstützen. Allerdings hat die Obama-Administration diesen Vorstoß bereits zurückgewiesen.

Die US-Regierung legt es jedoch ihrerseits darauf an, die Abstimmung der Vereinten Nationen über einen Palästinenserstaat zu verhindern. Lavierend zwischen dem Druck der mächtigen Israel-Lobby in Washington und der Besorgnis angesichts um sich greifender Erhebungen in der arabischen Welt versucht sie händeringend, den drohenden Schaden zu minimieren. Wenngleich es in der Vergangenheit nie ein Problem war, Beschlüsse der UNO-Vollversammlung zu ignorieren und mit dem Veto im Sicherheitsrat Israel stets den Rücken freizuhalten, zöge es Präsident Obama allemal vor, die leidige Abstimmung zu verhindern, in der sein Land vom Vetorecht Gebrauch machte und unübersehbar mit wenigen anderen Staaten in der Opposition stünde. Zudem fürchtet man in Washington Unruhen in den Palästinensergebieten, die freilich gerade dann unvermeidlich ausbrächen, sollte Abbas auf Drängen Washingtons plötzlich einen Rückzieher machen. [4]

Ende August hatte das US-Außenministerium mehr als 70 Ländern eine formale diplomatische Nachricht mit der Aufforderung zukommen lassen, jeden unilateralen Schritt der Palästinenser bei der UNO abzulehnen. Die mitgelieferte Begründung, andernfalls würde die Region destabilisiert und der Friedensprozeß untergraben, war jedoch ausgesprochen dürftig. Des weiteren will die Regierung in Washington einen neuen Vorschlag für Friedensgespräche initiieren, der Mahmoud Abbas auf den letzten Metern vor seinem Gang vor die UNO ausbremsen soll. Dabei schließt sich die Obama-Administration nahtlos dem Argument Israels an, daß die Palästinenser nur durch die Wiederaufnahme direkter Friedensgespräche zu einem eigenen Staat kommen könnten. Da die Nahost-Gespräche insbesondere wegen der israelischen Siedlungspolitik seit fast einem Jahr auf Eis liegen, ist diese Forderung nachgerade absurd und hat dementsprechend keine Aussicht auf Erfolg, was immer man der palästinensischen Führung an flankierenden Lockmitteln oder Drohungen insgeheim zukommen lassen mag.

Wenngleich man von offizieller Seite dem neuen Sondergesandten David Hale und Obamas Nahostberater im Nationalen Sicherheitsrat Dennis Ross zumindest nach außen hin noch Chancen einräumt, in letzter Minute die Notbremse zu ziehen, scheint die Hoffnung zu schwinden, daß dies noch gelingen könnte. Längst ist die US-Regierung dabei, die Palästinenserführung darauf einzuschwören, auch nach dem UNO-Votum mit Israel in allen Sicherheitsfragen zusammenzuarbeiten.

Zudem ist im Nahost-Quartett, bestehend aus den USA, Rußland, der EU und der UNO, das den Vorschlag zur Wiederaufnahme der Friedensverhandlungen auf den Tisch legen soll, dessen Inhalt umstritten. Die Unmöglichkeit, Obamas im Mai formulierte allgemeine Prinzipien in einen konkreten Plan umzumünzen, der für alle Seiten akzeptabel wäre, führt zwangsläufig zu einer Konstruktion, die die Palästinenser wie immer über den Tisch ziehen soll. Solange Israel auf der Anerkennung des "jüdischen Staates" besteht und den Siedlungsbau nicht zurückfährt, kann von einem Kompromiß keine Rede sein. Daran wird weder die Reisediplomatie Tony Blairs etwas ändern, der nach wie vor Sondergesandter des Nahostquartetts ist, noch diplomatische Rabulistik, die das Offensichtliche verschleiern und das Nichtssagende zur Konsistenz einer Karotte verdichten soll, die man der schwächeren Seite vor die Nase hält. Spekulationen, Mahmoud Abbas sei letzten Endes nicht abgeneigt, substantielle Friedensgespräche dem Gang vor die UNO vorzuziehen, erteilte mit Nabil Shaath ein hochrangiger Vertreter der Autonomiebehörde eine klare Absage. Wie er in einem Telefongespräch mit der New York Times aus Ramallah unterstrich, lasse man sich nicht für dumm verkaufen. Was immer jetzt noch angeboten werde, komme definitiv zu spät.

Fußnoten:

[1] http://www.nzz.ch/nachrichten/politik/international/nahost_usa_palaestinenserstaat_1.12319870.html

[2] http://www.jungewelt.de/2011/09-02/021.php

[3] http://www.jungewelt.de/2011/09-02/020.php

[4] http://www.nytimes.com/2011/09/04/world/middleeast/04mideast.html

6. September 2011